Schatten über Tanaris
'Wer also den Ruf des Warlock erhört hat und sodann stolzer Besitzer einer Grundregel-Box geworden ist¸ dem steht natürlich auch diese kritische Bewährungsprobe bevor.
Die erste Überraschung erwartet einen schon gleich nach dem Öffnen der Box: Neben dem eigentlichen Regelwerk¸ einem Zauberbuch¸ einem Tabellenschirm und einer Karte beinhaltet diese zwei neue Würfel. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine der handelsüblichen Würfelformen - es ist ein 30-seitiger Würfel! Den Gedanken an ein fehlgeschlagenes Genexperiment fanatischer Würfel-Züchter kann man jedoch nach dem Studium der ersten Seiten des Regelwerkes wieder verwerfen. Einem wird schnell klar¸ daß dieser leicht rundliche¸ grüne Geselle ein wichtiger Bestandteil des Spiels ist. Man muß ihn im Laufe des Spieles so oft benutzen¸ daß sich einem die Befürchtung aufdrängt¸ er könnte unter der starken Benutzung leiden und durch den hohen Verschleiß langsam zu einer Kugel werden.
Das weitere Studium des Regelwerkes läßt einen bald erkennen¸ warum es sich bei Ruf des Warlock um ein 'Rollenspiel für Fortgeschrittene' handelt. Ein einführendes Kapitel¸ das dem Rollenspiel-Neuling die Grundzüge seines neuen Hobbys erläutert¸ fehlt ganz. Nach einer kurzen Einleitung geht es gleich mit der Beschreibung von Tanaris¸ der Heimatwelt der Warlock-Charaktere los. Diese ist interessant und humorvoll geschrieben und angenehm zu lesen. Allerdings macht es einem die relativ schlechte Druckqualität manchmal etwas schwer¸ den Text flüssig zu entziffern. Vor allem Tabellen mit grauen Hintergründen sind davon betroffen¸ aber auch die Illustrationen kommen auf diese Weise nicht voll zur Geltung.
Mit Ruf des Warlock findet man sich in der klassischen Rollenspiel-Welt mit Elfen¸ Zwergen¸ Magiern¸ Barbaren¸ Monstern und all den anderen bekannten Zutaten wieder. Die Welt Tanaris basiert auf dem 'Zyklus der flachen Erde' von Tanith Lee. Einige der Ideen dieser Fantasy-Autorin wurden in dieses System mit übernommen. Andere Teile wurden von den Autoren mit viel Phantasie und Einfühlungsvermögen eingebracht. So bietet die Beschreibung der Götter (die hier 'Engel' heißen)¸ der Religionen und bestimmter Örtlichkeiten eine gute Spielbasis. Der Text enthält immer wieder interessante Ideen und Anstöße für zu bestehende Abenteuer.
Das Regelsystem ist dagegen schon eine härtere Nuß; eine echte Herausforderung¸ die man Rollenspiel-Neulingen nun wirklich nicht zumuten sollte. Schon die Erstellung des Charakters und das Ausfüllen des Charakterbogens erscheint einem beim ersten Mal so schwierig¸ wie man es sonst nur von den Formularen des Finanzamtes gewohnt sein dürfte. Aber auch bei den folgenden Malen¸ wenn man sich in den Regeln besser eingearbeitet hat¸ benötigt so eine Charaktererschaffung noch recht viel Zeit. Dabei ist es eigentlich weniger die große Anzahl an Werten¸ die einem das Leben schwer macht¸ es ist die meist ungenügende Erklärung. Für jeden Wert und jede Eigenschaft wird auf eine Abkürzung zurückgegriffen¸ die im Regelbuch sehr oft benutzt wird¸ bevor dem Leser richtig klar ist¸ worum es sich dabei eigentlich handelt. Viele Dinge werden erst einige Seiten später erklärt¸ so daß ein ewiges Hin- und Herblättern nicht ausbleibt. Die Übersicht leidet darunter sehr. Hier hätte es schon viel genutzt¸ wenn man nach jeder Abkürzung dahinter in Klammern nochmal den längeren Begriff aufgeführt hätte. So würde sich dem Leser eine immer wiederkehrende Möglichkeit bieten¸ die Begriffe und deren Abkürzungen zu erlernen.
Eine genauere Analyse des kompletten Regelsystems würden den Rahmen dieses Artikels bei weitem sprengen (schließlich gibt es dafür ja ein prall gefülltes Regelwerk)¸ aber auf einige Aspekte soll doch näher eingegangen werden. Jeder Charakter basiert auf sieben Grund-Eigenschaften (Ausstrahlung¸ Klugheit¸ Weisheit¸ Tapferkeit¸ Ausdauer¸ Körperkraft und Gewandtheit) aus denen sich viele andere Werte durch Formeln und zusätzliches Würfeln bestimmen lassen. Diese Grund-Eigenschaften sind die wichtigsten Voraussetzungen bei der Entscheidung für eine der 29 Charakter-Typen. Hinzu kommen noch einige weitere Werte¸ die die Stärken und Schwächen eines Charakters definieren. Die wachsende Erfahrung wird durch ein Stufensystem kontrolliert¸ das jedoch für die Kampferfahrung und die Wissenserfahrung getrennte Aufstiegsmöglichkeiten vorsieht. Ein Spieler erhält nach einem bestandenen Abenteuer also nicht einen großen Haufen allgemeingültiger Erfahrungspunkte¸ sondern Kampferfahrung-punkte für kriegerische Auseinander-setzungen und Wissenserfahrung-spunkte für gutes Rollenspiel. Wie hoch diese Erfahrungspunkte sind¸ liegt dabei allein im Ermessen des Spielleiters.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil sind die Fertigkeiten. Die Autoren haben 41 Standardsituationen im Rollenspiel ausgewählt und dafür je eine besondere Fertigkeit definiert. Taucht eine der beschriebenen Situationen im Spiel auf¸ wird ein Fertigkeitswurf fällig. Der Wert¸ der bestimmt¸ wie stark ein Charakter diese Fertigkeit beherrscht¸ setzt sich dabei aus anderen Werten des Charakters zusammen und kann mit fortschreitender Erfahrung auch verbessert werden.
Auch wenn viele Rollenspieler immer wieder behaupten¸ daß es für sie nicht so wichtig sei: Das Kampfsystem ist einer der grundlegenden Bausteine eines System. Folglich nehmen die Regeln¸ die das Beseitigen ungeliebter Gegner und Monster kontrollieren auch einen größeren Platz im Regelwerk ein. Bei Ruf des Warlock sind diese Regeln nicht weniger umfangreich als der Rest des Spiels. Ein schneller Kampf¸ bei dem man mal eben einem dahergelaufenen Ork den Garaus macht¸ ist hier kaum möglich. Allein die Vorbereitung einer solchen Auseinandersetz-ung nimmt schon verhältnismäßig viel Zeit in Anspruch. Da gilt es Werte zu bestimmen¸ Tabellen auszufüllen¸ in anderen Tabellen nachzuschauen und (natürlich) auch zu würfeln. Spieler und Spielleiter führen dazu eine Kampfliste¸ in der für jeden Kampf alle notwendigen Werte eingetragen werden. Natürlich ist die Liste des Spielleiters etwas umfangreicher als die des Spielers. Im Kampf selbst sind Angriffs- als auch Verteidigungsmöglichkeiten vorgesehen. Ein Treffer führt also nicht automatisch zu einer Verletzung¸ wie es in vielen anderen Rollenspielsystemen der Fall ist. Die Art und Höhe des Schadens wird mit Hilfe von Tabellen bestimmt¸ die auch Auskunft über das Verhältnis von Waffen zu Rüstungen geben.
Das Kampfsystem ist dadurch zwar sehr realistisch¸ doch erwartet es von Spielleiter und Spieler viel Aufwand und Zeit.
Gut ein Drittel des Regelwerkes besteht aus Typenbeschreibungen. Die Einführungen zu den 29 Charakter-Typen sind gut geschrieben und bieten einen weitreichenden Überblick¸ wie jede einzelne Charakter-Klasse in die Welt von Tanaris einzuordnen ist. Die Informationen zur Entstehungsgeschichte und zu den Eigenarten und Eigenschaften jedes Typs lassen einen schnell erkennen¸ wie ein entsprechender Charakter im Spiel zu handhaben ist. Sehr praktisch ist dabei die Auflistung der Vor- und Nachteile¸ die dieser Charakter-Typ bietet. Das erleichtert die Auswahl des gewünschten Charakters und erspart einem böse Überraschungen¸ die sonst vielleicht im Spielgeschehen auf den Spieler warten könnten ('Wie? Mein Barbar kann gar nicht zaubern?').
Sehr praktisch für das Rollenspiel ist die Ausgliederung der Kapitel über die Zauberei in ein eigenständiges Buch.
Denn wer kennt sie nicht¸ die typische Situation in einer Rollenspiel-Runde: Das Buch¸ in dem man etwas nachschlagen möchte¸ wälzt bestimmt grade ein anderer. So brauchen die Spieler¸ deren Charaktere gar nicht zaubern können¸ sich nicht mit unnötigem Regel-Ballast herumärgern und die Zauberer haben jederzeit das für sie wichtigste Stück Regelwerk zur Hand ohne sich mit dem Rest der Gruppe um ein einzelnes Buch streiten zu müssen.
Welche Möglichkeiten ein zauberkundiger Charakter hat¸ wird durch ein Punkte-System bestimmt¸ das (ähnlich wie beim Kampfsystem) recht umfangreich¸ aber dafür sehr 'realistisch' ist (wenn man beim Zaubern überhaupt davon reden kann). Eine genaue Erklärung dieses Systems ist an dieser Stelle nicht empfehlenswert¸ es sei jedoch erwähnt¸ daß die Beschreibungen der rund 260 Zaubersprüche genauso interessant und angenehm zu lesen sind¸ wie viele andere Teile des Regelwerks.
Fazit:
Hier stellt sich mal wieder die alte Rollenspiel-Frage: Wieviel Regeln braucht der Mensch? Was ist wichtiger: ein wirklichkeitsgetreues¸ aber umfangreiches¸ Regelsystem oder ein schnelles und unbelastetes¸ aber teilweise realitätsfernes¸ Spiel? Diese Frage muß jeder für sich selbst beantworten.
Ruf des Warlock jedenfalls bietet die Grundlage für ein langes¸ erfolgreiches und interessantes Abenteurer-Leben.
Eine Rezension von: Christoph Böhler