King Arthur Pendragon: Epic Roleplaying in Legendary Britain (4e)
Pendragon ist¸ auf eine Kurzformel gebracht¸ ein narratives Mittelalter-Rollenspiel für Ritter in der Zeit von König Artus (Arthur)¸ im 6. Jhdt. nach Christus in Britannien. Allerdings ist diese Version des 6. Jahrhunderts absichtlich unhistorisch¸ und mit vielen mythischen und phantastischen Elementen angereichert. Es gibt immer wieder eine Vermischung aus Teilen der tatsächlichen englischen Geschichte mit Bestandteilen aus Volkslegenden¸ literarischen Werken¸ und Klischees aus Hollywood-Ritterfilmen der 50er Jahre. Das Wichtigste vorweg: Gute¸ ehrliche Ritter werden von Gott und dem Schicksal beschützt ... Drachen¸ Kobolde¸ Riesen und Einhörner gibt es wirklich ... Artus ist tatsächlich die Verkörperung des guten¸ unanfechtbaren christlichen Herrschers ... die Schamanen und Druiden der heidnischen Völker haben tatsächliche Macht ... die Zauber der Morgana Le Fay haben immer noch Gültigkeit¸ usw. Was bei Pendragon im Allgemeinen so anziehend ist¸ ist gerade diese sonderbare Verknüpfung von gut recherchierten historisch-mittelalterlichen Elementen wie den Bauwerken¸ Rüstungen¸ Kleidungsstücken¸ Fachbegriffen¸ Rängen¸ Titeln¸ Regierungsformen¸ Kirchen¸ höfischen Festen und Traditionen¸ und den bunten Fantasy-Elementen. Die Version des Mittelalters¸ die Pendragon für alle seine offiziellen Bücher verwendet¸ ist stark idealisiert und romantisiert¸ verleiht den Ritter-Spielercharakteren aber trotzdem keine übermäßige Macht oder übertriebene Fähigkeiten. Die Beschreibungen der Kampagnenwelt¸ vor allem das Feudalsystem¸ die Mode und die Bräuche¸ gehörten realistisch betrachtet eigentlich erst ins 14. bis 15. Jahrhundert¸ in die Zeit der sogenannten Rosenkriege¸ als Thomas Malory lebte. Aber Pendragon versucht eine Brücke zu schlagen von der Zeit Malorys (um 1420)¸ des Verfassers des Epos 'Le Morte D'Arthur'¸ auf das sich das Rollenspiel immer wieder bezieht¸ in die angenommene Zeit des extrem frühen Mittelalters¸ nach dem Einfall der Germanen in Britannien. Artus' eigene Regierungszeit wurde für die Zwecke des Spiels¸ also für die eigene Pendragon-Version des Mittelalters¸ mit den Jahren 510-565 festgelegt. Der Zeitraum¸ in dem die Spielercharaktere normalerweise Abenteuer erleben können¸ ist sogar noch enger gefasst. Er fällt in die Jahre 531 bis 565¸ weil nach Artus' Tod (oder seinem Verschwinden¸ wenn man die Legende wörtlich nimmt) das Reich nicht in seiner alten Form weiterbestehen wird und die Magie aus der Welt verschwindet. Genaugenommen sagt Pendragon¸ dass nach 565 alle Spuren der Tafel-runde und ihrer Begleiter magisch ausgelöscht wurden¸ und danach die Geschichte so weiterlief¸ wie wir sie aus den echten Geschichtsbüchern kennen. Es war der Wille Merlins und anderer Personen¸ dass von dieser Zeit keine direkten Spuren mehr bleiben. Schlau ausgedacht¸ oder?
Jetzt aber zu dem eigentlichen Spiel: Charaktere werden mit mehreren ausführlichen Tabellen kreiert¸ die den speziellen arthurischen¸ mittelalterlichen Hintergrund ausdrücken sollen. Ihre Fertigkeiten¸ Kenntnisse¸ Ausrüstungsgegenstände¸ etc. werden sich am Anfang auch sehr stark ähneln. Worin sich die Rittercharaktere voneinander unterscheiden¸ sind ihre Familiengeschichte¸ ihre Persönlichkeit¸ ihre Vorlieben¸ Interessen¸ usw. Man kann sagen¸ dass das Pendragon-Regelwerk von RuneQuest (Basic Role Playing System) abgeleitet wurde¸ es wurde aber auch stark vereinfacht¸ glatter und übersichtlicher gemacht. Es gibt hier nur 5 Eigenschaften: Stärke¸ Konstitution¸ Körpermasse¸ Geschicklichkeit¸ und Aussehen. Man muss am Anfang 60 Punkte auf diese 5 Eigenschaften verteilen; keine davon darf dabei aber weniger als 5 sein¸ und nicht mehr als 18 (!). Die meisten Charaktere erhalten aber noch zusätzliche Modifikatoren. Man kann am Anfang zwischen sieben Völkern auswählen: Kymrischer Brite¸ Romano-Brite¸ Franzose¸ Okzitanier¸ Ire¸ Pikte¸ oder Sachse. Alle Aktionen im Spiel¸ die nicht einfach durch gutes Beschreiben oder Schauspielern gelöst werden können¸ werden mit einem Wurf auf dem W20 ausgedrückt. Das gilt für alle Eigenschaften¸ Talente¸ Fertigkeiten¸ Persönlichkeitszüge¸ Waffen¸ und so weiter. Auch die Zufallstabellen im Buch verwenden immer den W20. Nur der Waffenschaden wird noch mit einer variierenden Anzahl von sechsseitigen Würfeln festgestellt. Man muss mit dem W20 möglichst HOCH würfeln¸ allerdings nur maximal innerhalb des jeweils aktuellen Wertes¸ den der Charakter hat. Der jeweils höchste noch zulässige Wert ist dabei auch der kritische Erfolg in der Fertigkeit.
Als Beispiel: Ein Ritter hat Lanzenkampf 14. Er will seine Lanze im Kampf anwenden. Der Spieler würfelt einmal mit einem W20. Ein Ergebnis von 1 bis einschließlich 13 wäre prinzipiell geschafft¸ eine 14 wäre kritisch gut geschafft¸ und Ergebnisse von 15 bis 19 würden alle als '0' zählen (da sie über der 14 liegen)¸ und damit als nicht geschafft. Wenn man eine 20 auf dem W20 würfelt¸ bedeutet dies allerdings einen Patzer. Der gleiche Charakter könnte z.B. noch Dolch 11 unter seinen Waffenfertigkeiten haben. In diesem Falle hätte er bei 1 bis 10 einen Dolchangriff geschafft¸ und bei 11 einen kritisch guten Dolchangriff. Dieses System gilt für alle Fertigkeiten in allen Situationen.
Die Fertigkeiten¸ die ein richtiger Ritter so braucht und wahrscheinlich im Laufe seines Lebens entwickeln kann/darf¸ sind bei Pendragon bereits in alphabetischer Reihenfolge auf dem Charakterbogen abgedruckt. Man muss wirklich nicht viel nachschlagen oder herumsuchen und ausrechnen. Unritterliche Dinge finden sich darunter nicht (!)¸ es gibt also offiziell keine Fertigkeit 'Schlösser knacken' und auch nicht 'Anschleichen'¸ da richtige Ritter das nie zu tun brauchen¸ und sie deshalb kaum vorkommen dürften. Statt dessen gibt es Dinge wie Rhetorik¸ Poesie¸ Instrumente spielen¸ Flirten¸ Wappenkunde¸ Hofhaltung¸ Etikette. Nun könnte man zwar den Eindruck erhalten¸ bei Pendragon sei alles Wichtige bereits festgelegt und die Spieler hätten gar keinen Freiraum mehr¸ immerhin stehen ihr Beruf¸ ihr Stand¸ ihre Laufbahn¸ Ziele¸ Herkunft¸ usw. schon fest. Aber das kann man so nicht stehen lassen. Der interessantere Teil kommt nämlich erst! - Pendragon verwendet eine Reihe genau bezeichneter Gegensatzpaare¸ welche die Tugenden und Untugenden des mittelalterlichen Denkens wiederspiegeln sollen. Da gibt es als Gegensätze zum Beispiel 'Mildtätig' gegenüber 'Grausam'¸ 'Keusch' gegenüber 'Lüstern'¸ 'Vorsichtig' gegenüber 'Leichtsinnig'¸ 'Energetisch' gegenüber 'Faul'¸ und einige andere mehr. Diese werden ebenfalls mit einem W20-Wert ausgedrückt. Ein vollkommen ausgeglichener Charakter¸ der weder zur 'positiven' noch zur 'negativen' Seite tendiert¸ hätte einen Wert von 10/10. Wenn eine der beiden Seiten in seiner Persönlichkeitsstruktur überwiegt¸ kann er z.B. 11/9 haben¸ oder 13/7¸ 15/5¸ 16/4¸ etc. Wie man sieht¸ muss die Summe aus beiden Seiten logischerweise immer '20' ergeben¸ denn es gibt ja bloß den 20-seitigen Würfel. Ein Charakter¸ der sich so stark zu einer Seite hin entwickelt hat¸ dass er 20/0 oder einen noch höheren Wert zu Gunsten einer der beiden Seiten hat¸ würde immer einen Erfolg für die vorherrschende Seite verbuchen und gilt als nicht mehr als Spielercharakter steuerbar. Die Werte in diesen verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen (Traits) sind auch nicht für alle Zeiten fest¸ sondern können sich durch signifikante Handlungen des Charakters zur einen oder anderen Seite abändern¸ sogar hin- und herpendeln. So können sich z.B. zwei neue Anfängerritter in einer Gruppe¸ die beide genau die gleichen Eigenschaftswerte¸ die gleichen Werte in den Fertigkeiten¸ und genau den gleichen kulturellen Hintergrund haben¸ immer noch voneinander unterscheiden¸ indem sie unterschiedlich gewichtete Traits besitzen.
Wenn man sich durch das dicke Grundregelwerk von Pendragon kämpft¸ findet man auch Angaben und Kampagnenideen für unterschiedliche Macht- und Interessengruppen. Es gibt besonders loyale königstreue Ritter¸ große Turnierkämpfer¸ militärische Strategen¸ brutale Raubritter¸ religiöse Ritter¸ musische Ritter¸ heidnische Ritter¸ verhexte Ritter und liebeskranke Ritter ... Außerdem gibt es seit der 4. Edition auch komplette Regeln für andere Spielercharaktere: christliche Mönche¸ Nonnen¸ Einsiedler¸ Heiler¸ Knappen¸ Hofdamen¸ Barden¸ Druiden¸ angelsächsische Stammeskrieger¸ und manches mehr. Christliche Priester¸ keltische Druiden¸ Hexen und Zauberinnen zählen zu den magieanwendenden Berufen. Sie können nicht gut kämpfen¸ dafür können Ritter niemals selber Zauber lernen! (Das nennt man Aufgabenteilung.) Ritter können nur ihre herkömmlichen Fertigkeiten steigern und gelegentlich magische Gegenstände verwenden¸ aber nie selber zaubern. Die Magie bei Pendragon orientiert sich im Übrigen auch sehr stark an der keltischen Weltanschauung und echten Legenden¸ und unterscheidet sich erheblich von der üblichen Fantasy-Magie. Also sucht gar nicht erst nach Feuerbällen und Blitzschlägen der 10. Stufe¸ ihr werdet dergleichen nicht finden! Dafür bietet das Pendragon-System andere¸ gewöhnungsbedürftige Zauber und Magieregeln. Eine andere Besonderheit bei Pendragon ist¸ dass man als Ritter eigentlich immer nur 1 abgeschlossenes Abenteuer pro Jahr erleben kann. Nach jedem Abenteuer ziehen sich die Ritter auf ihre Burgen zurück und es beginnt eine neue 'Winterphase'¸ während der keine Abenteuer stattfinden. Dies spiegelt sowohl tatsächliche als auch literarische Konventionen des Mittelalters wieder. Wenn ein Charakter z.B. schon 5 Abenteuer erlebt hat¸ ist er auch um 5 ganze Jahre gealtert. Dies ist absichtlich so gewählt¸ damit sich die Spieler bewusst werden¸ worum es den Rittern eigentlich gehen soll: Sie WISSEN bereits¸ dass sie schnell altern und sterben werden¸ das kann keiner aufhalten. Deshalb ist es ihre Aufgabe¸ Dinge wie Burgen¸ Ländereien¸ Besitztümer¸ Reliquien¸ Bedienstete¸ usw. zu erwerben¸ und in Rang und Ruhm aufzusteigen. Anstatt Erfahrungspunkte erhält ein Ritter übrigens Ruhmespunkte und ein magieanwendender Charakter die sogenannte Einsicht (Insight). Ein Ritter sollte außerdem auf jeden Fall heiraten und Nachkommen in die Welt setzen. Wenn ihm ein Sohn geschenkt werden sollte¸ hat er einen Erben. Dem Spieler ist die Möglichkeit gegeben¸ nach dem ersten Charakter dessen ältesten überlebenden Sohn als neuen Charakter weiterzuspielen¸ welcher dann bereits mit einem Teil des Ruhmes und der guten Eigenschaften des Vaters ins Spiel starten kann. Natürlich bietet sich diese Möglichkeit nur dann¸ wenn man besonders lange regelmäßig Pendragon gespielt hat und der erste Charakter zu alt geworden ist oder sich freiwillig in Politik und Verwaltung zurückzieht. Wenn man über den oben beschriebenen Zeitraum 531-565 hinausgeht¸ darf man auch drei Generationen einer Blutlinie vorkommen lassen: Vater - Sohn - Enkel. Logisch¸ oder?
Für einen Ritter in der Pendragon-Welt gibt es traditionell drei große Aufgabengebiete: Kriegführung¸ Turniere¸ und Angelegenheiten des Hofes. Der überwiegende Teil der Pendragon-Abenteuer dürfte in den dritten Bereich fallen: Politik¸ Familienfehden¸ Attentate¸ Liebschaften¸ Intrigen¸ rauschende Feste¸ all das unterbrochen von langen Reisen durch Britannien¸ und unterschiedlichen Questen. Die ganze Bandbreite der Möglichkeiten kann an dieser Stelle nicht näher beschrieben werden.
Für Pendragon gibt es neben dem Grundregelwerk natürlich noch Bände mit Abenteuersammlungen (Blood & Lust¸ Perilous Forest¸ Savage Mountains)¸ Kurz und romanähnliche 'Stand-Alone' Produkte (The Bear of Britain¸ Sir Aglovale¸ u.a.)¸ nähere Betrachtungen der Kampagnenwelt (The Boy King) sowie Kulturbeschreibungen und neuen Schauplätzen (Pagan Shores¸ Land of Giants¸ Saxons!)¸ oft ein wenig von all dem zusammen. Daneben gibt es auch Supplements wie Lordly Domains¸ welches sich speziell dem wirtschaftlichen Aspekt von Pendragon-Kampagnen widmet und nur mit der Hofhaltung¸ dem Feudalsystem¸ den Besitztümern und Prestigeobjekten von Rittern beschäftigt¸ und seit kurzem z.B. auch ein eigenes Artus-spezifisches Nachschlagewerk mit allen Eigennamen¸ Schlagwörtern und Fachbegriffen aus der Sage. Es heißt The Arthurian Companion und stammt von der Romanschriftstellerin Phyllis Ann Karr. Seit 1999 werden Pendragon-Produkte nicht mehr vom Verlag Chaosium herausgebracht¸ sondern von einer eigenen Tochtergründung namens Green Knight Publishing¸ die rechtlich eine separate Firma darstellt.
Eine Rezension von: Norbert Franz