Der Herr der Ringe RPG
Welcher Rollenspieler hat JRR Tolkiens Fantasy-Epos nicht mindestens einmal gelesen¸ gehört oder gar gesehen? Der Herr der Ringe hat nicht nur gravierende Auswirkungen auf die Literatur und auch die Filmgeschichte gehabt¸ sondern war auch entscheidend an der Prägung aller Fantasy-Rollenspiele bzw. -Spielwelten beteiligt. Tolkiens Mittelerde brachte eine neue Art engelsgleiche Elfen¸ mürrisch-robuste Zwerge¸ abenteuerscheue Hobbits und Menschen in einen Konflikt mit den bösen Völkern wie den Orks¸ Trollen und Untoten zu schicken. Übler Kern dieses Konflikts ist der Herr der Ringe¸ der einst machtvolle magische Ringe schmiedete und sie an die Herrscher der Völker verteilte - doch nicht um ihnen die versprochene Macht zu verleihen¸ sondern um alle zu versklaven. Mittelerde kann in den verschiedenen Zeitaltern gespielt werden¸ was ein von der Romanhandlung unabhängiges Spiel ermöglicht. |
Pegasus Spiele bzw. Decipher (dem Verlag des amerikanischen Originals) war es daher empfohlen¸ mit der neuen Ausgabe allen drei Klientel gerecht zu werden: den frischen Kino-Gängern¸ den langjährgen Romanlesern und der anspruchsvollen Klientel der Rollenspieler¸ die schon frühere Versionen kennt. Ein schwieriges Geschäft¸ und diese Rezension soll zeigen ob es insgesamt gelungen ist.
Mittelerde - Land der Abenteuer
Die Autoren richten sich recht offensichtlich an den Leser¸ der den Herr der Ringe bereits in der ein oder anderen Form konsumiert hat. Der eigentliche Hintergrund beschränkt sich auf das erste Kapitel und damit knappe 25 Seiten - eine ordentliche Beschreibung der Ländereien von Mittelerde. Natürlich kann man auch dem Rest des Bandes die ein oder andere Hintergrundinformation entnehmen (z.B. die Eigenheiten von Zwergen oder Drachen).
Im Spielleiterband gibt es eine Zeitleiste¸ die aber gerade mal eine knappe Drittelseite einnimmt.
Einen "vollständigen Führer durch Mittelerde" sollte man also wirklich nicht erwarten - aber wer sich im Internet umschaut kann diese Lücke auch durch Fan-Material leicht schließen.
Die Erschaffung eines Charakter
Ein Charakter besteht neben Rasse und Berufung¸ aus sechs Attributen und Fertigkeiten (36 Basis-Fertigkeiten plus verschiedene Allgemeine Fertigkeiten)¸ die je nach Klasse(n) zu unterschiedlichen Kosten erworben werden können. Außerem gibt eine Berufung Zugriff auf verschiedene Sonderfertigkeiten.
Der Charakter wird durch ein Vor- und Nachteilesystem (ca. 50/20 Stk.) vervollständigt¸ die entweder einfach vorhanden sein können oder zudem eine bestimmtes Gewicht haben können.
Wer sofort loslegen möchte¸ kann auch einen der sechs ausgearbeiteten und farbig illustrierten Fertig-Charaktere (bzw. Archetypen) verwenden - darunter: Mensch¸ Zwerg¸ Elbischer Krieger¸ Hobbit Dieb¸ menschlicher Magier¸ menschlicher Adeliger.
Die sechs Attribute (Auftreten¸ Geisteskraft¸ Geschicklichkeit¸ Lebenskraft¸ Stärke und Wahrnehmung) können Werte zwischen 2 und 12 annehmen und werden entweder per Zufall (6 Werte aus 9 Würfen) ermittelt oder mit einer Art Kaufsystem ermittelt (Werteverteilung 4¸5¸7¸7¸9¸10 plus 8 Zusatzpunkte).
Aus den Attributen werden noch vier Werte (Reaktionen) abgeleitet¸ die später als Modifikatoren dienen: Ausdauer (Stärke oder Lebenskraft)¸ Gewandheit (Geschicklichkeit oder Wahrnehmung)¸ Willenskraft (Auftreten oder Geisteskraft)¸ and Weißheit (Auftreten oder Wahrnehmung) und die Gesundheit (Lebenskraft oder Stärke).
Durch die Wahl der Rasse werden die Attribute ggf. modifiziert¸ der Charakter erhält Spezialfertigkeiten (z.B. Nachtsicht bei Elben) und sechs typische Fertigkeiten (+1) der Rasse.
Eine Berufung (Adliger¸ Barbar¸ Gelehrter¸ Handwerker¸ Krieger¸ Magier¸ Sänger¸ Seefahrer oder Spitzbube) bündelt eine logisch zusammengehörende Menge von 10-20 Fertigkeiten. Die Wahl der Berufung erspart dem Charakter die halben Punktekosten¸ wenn er aus diesen Fertigkeiten wählt (25 Punkte darf er hier verteilen¸ plus einen Vorteil) und gibt ihm Zugang zu den passenden Spezialfertigkeiten (1 frei wählbar). Es existieren außerdem sogenannte Auserwählte Berufungen (Anführer¸ Bogenschütze¸ Ritter¸ Spion und Zauberer) von denen man erst im späteren Spiel Gebrauch machen kann.
Wer möchte kann weitere Steigerungen seiner Fertigkeiten durch die Wahl von max drei Nachteilen erhalten und zum Schluß noch einmal fünf Freie Punkte verteilen (je +1 Fertigkeit oder einen Vorteil. Das +1 auf Attribut wurde im Errata gestrichen).
CODA Regeln
Einmal mehr hat Decipher sein CODA Regelsystem eingesetzt. Zu finden war es bereits in Star Trek.
Bei CODA besteht die wesentliche Spielmechanik in der Aufsummierung eines Attributs¸ einer Fertigkeit und einem Wurf mit zwei sechsseitigen Würfeln (Attribut + Fertigkeit + 2w6). Die Summe wird mit einem Zielwert verglichen und die Abweichung gibt Auskunft über Grad des Erfolgs oder Fehlschlags. Abweichungen von 6 und mehr sind gut¸ Abweichungen von 11 oder mehr kritisch.
Das System ist einfach und legt den Schwerpunkt auf das Rollenspiel. Mehrere Seiten beschäftigen sich mit Spezialfällen und Modifikationen (48!) dieser Grundmechanik¸ die man aber als Richtlinie verwenden sollte¸ denn zum immer wieder Nachschlagen.
Arkanes
Immerhin 65 Seiten wurden meinem Lieblingsthema¸ der Magie gewidmet. Davon gehen 18 Seiten auf die Beschreibung der ca. 75 sehr tolkiengerechte Zaubersprüche und 10 Seiten wurden für magische Artefakte verwendet. Das System unterscheidet zwischen der Magie von "Zauberkundigen" und der Allgemeinen Magie von Mittelerde¸ die im Prinzip von allem und jedem ausgelöst werden kann (z.B. einem Wald¸ Prophezeiungen¸ Flüche¸ göttliche Wunder usw.). Die Autoren haben sich gerade bei letzterem mit Spielregeln doch sehr zurückgehalten¸ so daß der Spielleiter zum Improvisieren gezwungen ist - gerade für Anfänger sicherlich eine Herausforderung.
Die Zauberkundigen werden in weniger magiebegabte Magier und Zauberer unterschieden¸ wobei letztere von den fünf großen Zauberern unterwiesen wurden¸ z.B. Saruman¸ Gandalf usw. Für diesen Zusammenhang liefert Tolkien keinen Hinweis in seinem Büchern und es ist wohl ein Trick der Autoren¸ um die doch sehr beliebte Klasse der Zauberer auch in diesem Fantasy-Rollenspiel als Spielerklasse zu ermöglichen.
Insgesamt hat mir die eher oberflächliche Beschreibung der Zauberer noch nicht so recht gefallen¸ so daß ich zugunsten eines "Tolkien-Realismus" vermutlich doch lieber auf ihren Einsatz als Spielercharaktere verzichten würde und eine "alltägliche Magie" mit unscheinbaren Effekten bevorzugen würde.
Der Einsatz von Magie ist dem CODA-System entsprechend sehr einfach. Das Zaubern eines bekannten Spruchs erfordert einen Test gegen Stamina. Jeder Spruch hat einen Schwierigkeitswert und es gibt Abzüge¸ wenn man Zauber besonders schnell oder parallel zu einem anderen sprechen will (je -3).
Auf dem Schlachtfeld
Für einen Angriff würfelt man mit dem Fertigkeitswert gegen den Verteidigungswurf des Gegners (entweder per default 10 plus Geschicklichkeit-Modi. oder als Aktion Gewandheit-Wurf auf alle Angriffe oder als Abwehr-Wurf auf einen Angriff¸ z.B. mit Schild). Ist der Angriffswurf höher¸ wird der Schaden (je nach Waffe unterschiedlich) ausgewürfelt und in Form von Lebenspunkten dem Opfer abgezogen.
Kritische Angriffe (Abweichung von 11 oder mehr) resultieren in maximalem Schaden.
Ein Charakter hat etwa 60 Lebenspunkte (Gesundheit x 6). Richtet ein einzelner Treffer großen Schaden (>Gesundheit-Wert) an¸ bedeutet das eine Wunde mit einem dauerhaften Modifikator von -2.
Es gibt (immerhin) sechs Seiten zum Thema Großschlachten mit einem recht abstrakten Gewinnen/Verlieren-System und einem etwas detaillierterem Kampfsystem. In beiden Fällen geht die Individualität des Charakters aber ziemlich unter¸ so daß sich die Regeln kaum für die Spielerfiguren eignen.
Spielleiters Schatzkiste
Ganze 18 Seiten wurden wurden für den Spielleiter reserviert¸ wo er erfährt¸ wie man tolkiengerechtes Rollenspiel leitet und die Charaktere nach erledigter Heldentat entlohnt. Die Autoren setzen das Gewicht auf Geschichtenerzählen¸ dem ja auch das einfache CODA-System zuträglich ist. Leider sind die Hinweise eher abstrakter Natur¸ so daß man als Spielleiter zum Philosophen wird. Ein paar mehr handfeste Hinweise (u.a. konkrete Abenteuerideen) hätten diesem Kapitel gut getan. Hier muß man sich an die zusätzlich erscheinenden Publikationen halten oder die eigene Phantasie bemühen.
Quasi zum Ausgleich gibt es sechs individuelle Gegenspieler (Feinde)¸ die man bereits aus den Romanen kennen dürfte und 15 allgemeine Gegenspieler wie Orks oder Trolle. Leider findet man auch hier wieder nur eine sehr dünne Ausarbeitung¸ so daß die Hauptarbeit am Spielleiter hängen bleibt - oder an nachträglich zu kaufenden Quellenbänden.
Technisches
Das 304 Seiten dicke Regelwerk macht einen hervorragenden Eindruck. Beeindruckend sind vor allen Dingen die vielen Farbseiten¸ die durch die übernommenen Photos aus dem Kinofilm sehr gut genutzt wurden ohne die Lesbarkeit auf den farbseiten sonderlich zu beeinträchtigen. Kapitel werden sogar von zweiseitigen Illustrationen eingeleitet. Sechs Farbillustrationen durchschnittlicher Güte illustrieren die Beispielcharaktere. Hilfreiche sind die je nach Kapitel verschiedenfarbigen Seitenränder¸ die das Blättern erleichtern.
Die Qualität der Texte ist sehr gut und atmosphärisch. Der Inhalt wird durch eine Liste der Kapitel und einen ordentlichen fünfseitigen Index zugänglich gemacht.
Fazit:
Die Vorzüge des Herr der Ringe Grundregelbuchs sind vor allem seine hervorragende optische Aufmachung¸ die Beschreibungen der Ländereien von Mittelerde und das leicht zu handhabende CODA-Regelsystem (besser und schneller als z.B. bei MERS/MERP von ICE).
Liest man sich allerdings durch das Buch und wirft parallel dazu einen Blick auf das von Decipher herausgegebene Errata¸ kann man nur zu einem Entschluß kommen: hier hat man zugunsten des Veröffentlichungstermins leider zu wenig Nachkorrigiert und ausbalanciert. Es gibt eine Vielzahl spielentscheidender Fehler und insgesamt bekommt man den Eindruck¸ als ob sich über manche grundlegende Sache keiner Gedanken gemacht hat (z.B. Behinderung durch Rüstung). Auch finde ich es im negativen Sinn erwähnenswert¸ daß sich das Buch allein an männliche Leser zu richten scheint (Wortwahl und Archetypen)¸ was dem aktuellen Szene-Querschnitt nicht gerecht wird.
Ein weiterer Knackpunkt ist die Tatsache¸ daß Decipher nur Lizenzen für den Herrn der Ringe und den Kleinen Hobbit hat¸ nicht aber z.B. für das Silmarillion und die Briefe aus Mittelerde. So bleiben viele dort enthaltene Dinge hier unerwähnt und unerklärt (z.B. die Natur der Istari) - und auch in den Quellenbänden wird man daher wohl auf einiges an Informationen verzichten müssen. Für Leute die Tolkien's Werke auswendig kennen¸ ist das aber wohl das kleinste Hindernis.
Eine Rezension von: Dogio http://www.drosi.de