HârnWorld - Eine realistische Fantasywelt
Hârn ist eine Insel mit einer Länge von ca. 1000 und einer Breite von ca. 1500 Kilometern¸ also kein besonders großes Gebiet¸ welches sich in vielerlei Hinsicht mit dem mittelalterlichen Britannien vergleichen läßt¸ wenngleich Hârn durch das Auftreten verschiedener Barbarenstämme und seltsamer Rassen wilder und geheimnisvoller wirkt. Die Insel gehört zu dem Kontinent Lythien¸ der in Form und Kultur etwa Europa¸ Asien und Afrika umfaßt. Ein länglicher Kontinent im Westen (Amerika läßt grüßen) vollendet den 'Planeten' Kethira.
Auf Hârn stehen sich mehrere Feudalstaaten teilweise in Fehde gegenüber¸ zudem ein keltisch-germanischer Prä-Feudalstaat im Norden mit normannischen Anleihen und eine römisch-antike Republik. Da diese Reiche nicht die gesamte Insel bedecken¸ bleibt Platz für eine rauhe Wildnis¸ in der sich neben fremden Völkern wie den Sindarin (Elben)¸ Khuzdul (Zwerge) oder Gargun (Orks oder Goblins) auch die Spuren und Rätsel vergessener Kulturen finden.
Die Feudalstaaten werden einer genaueren Betrachtung unterzogen; Lehnswesen¸ politische Machtverhältnisse¸ Land- und Stadtleben werden detailliert und am historischen Vorbild orientiert vorgestellt. Auch Themen wie Vegetation¸ Klima¸ Reisen (inklusive leicht zu handhabender Tabellen für Freiluftbewegungen)¸ Zölle und Handel sind klar dargelegt und erinnern stark an Britanniens tatsächliche Vergangenheit¸ was den Vorteil hat¸ daß sich Zusatzinformationen in jeder Bibliothek recherchieren lassen. Die Darstellung mittelalterlichen Lebens ist den Autoren anschaulich gelungen.
Im folgenden Thema 'Religion' wird leider auf ein fantasytypisches Pantheon zurückgegriffen¸ welches die üblichen Klischeegottheiten aufweist: ein paar Götter fürs einfache Volk¸ für den Adel¸ mehrere Kriegsgötter und noch ein paar 'böse' Gottheiten. Dieses Gebilde ist nicht schlechter oder besser als das anderer Fantasy-Welten¸ nimmt aber ein wenig den Charme der eben noch mittelalterlich-historisch wirkenden Welt. Zu allem überfluß ist der Glaube mit einer pseudoesoterischen Vorstellung mehrerer Dimensionsebenen verbunden.
Auf ganzen 14 Seiten wird die Geschichte Hârns beschrieben. Sicher lernt man durch die Geschichte einer Region viel über ihre Kultur und Verhältnisse kennen¸ doch scheint mir dies bei einer dem Leser völlig neuen Fantasy-Welt etwas übertrieben zu sein¸ insbesondere da die neuen Eigennamen und Begriffe zu erst einmal verwirren. Besser hätte der Platz für die ausführliche Darstellung der gegenwärtigen staatspolitischen Verhältnisse genutzt werden können. Welcher Bewohner einer mittelalterlichen Welt kennt schon so genau deren Geschichte¸ beziehungsweise welchen Sinn bringt sie konkret fürs Rollenspiel?
Die nächsten 22 Seiten widmen sich dem riesigen Kontinent Lythia. Natürlich kann das Buch bei dem begrenzten Raum nicht ins Detail gehen¸ zeigt aber doch anschaulich¸ welche Wirtschaft¸ Handelsbeziehungen und Kulturen dort vorherrschen¸ die mit irdischen Verhältnissen vergleichbar sind¸ so daß eine nähere Beschreibung auch nicht unbedingt notwendig ist. Der Lythia Index schließt sich an¸ in dem die wichtigsten Begriffe (also Staaten und die wichtigsten Städte) in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt werden.
Viel Mühe haben sich die Autoren mit der Auflistung der wichtigsten Sprachen gemacht¸ deren Verbreitungsgebiete anhand einer farbigen Sprachkarte nachvollzogen werden können. Allerdings halte ich die Beschreibung von 9 Sprachfamilien mit insgesamt 47 Sprachen für gnadenlos übertrieben. Warum werden statt dessen nicht die zu den jeweiligen Sprachen gehörenden Kulturen beschrieben¸ was jedenfalls fürs Spiel wesentlich nützlicher wäre?
Auch in den folgenden 8 Seiten über den Planeten Kethira findet einiges Erwähnung¸ was für Spielleiter und Spieler von definitiver Unrelevanz ist. Mich jedenfalls hätte anstelle der Sonnensystembeschreibung ein Ausflug in hârnische Astrologie weitaus mehr interessiert. Sinnvoll sind die Karten über Vegetation¸ vorherrschende Winde¸ Hauptmeeresströmungen sowie Tektonik und Vulkanismus¸ die zudem durch Text erläutert werden.
Einen gewaltigen Ideenfundus enthält das letzte Kapitel¸ der 'Hârndex'. Hier werden auf zirka 70 Seiten in alphabetischer Reihenfolge Völker¸ Staaten¸ Stämme¸ Städte¸ Gilden¸ Gebirge¸ Flüsse¸ Gottheiten¸ berühmte Persönlichkeiten¸ fremde Wesen und so weiter beschrieben. Dieses Kapitel kann man nicht von vorne bis hinten lesen¸ aber man kann immer wieder hineinschnuppern und sich inspirieren lassen. Beschreibung finden auch die Völker der Sindarin¸ Khuzdul und Gargun¸ welche alle drei recht typische Vertreter ihrer Gattungen sind (die Elben wohnen schöngeistig im Wald¸ die Zwerge schmieden unter Tage und die Goblins sind richtig böse und ähneln eher einem Schwarm aufgescheuchter Hornissen) und dennoch sinnvoll in den sonst historischen Kontext greifen. Dies hat den Vorteil¸ daß Hârn wirklich zu jedem Fantasy-System kompatibel ist.
Bevor ich zum Schluß komme¸ sei noch angemerkt¸ daß HârnWorlds Layout nur als vorbildlich zu bezeichnen ist. Es herrscht eine klare und übersichtliche Gliederung der Kapitel¸ die Illustration ist stimmungsvoll und reichhaltig und es finden sich innerhalb des Buches allerlei nützliche und leicht herauskopierbare Karten sowie zwei separate Vierfarbkarten zu Lythia (A3) und Hârn (A1)¸ welche sowohl schön als auch anschaulich gestaltet sind.
HârnWorld verbindet historisches Rollenspiel mit konservativer Fantasy und schafft dabei eine stimmige und stimmungsvolle Spielwelt¸ die viel Raum für die verschiedensten Arten von Abenteuern bietet. Die Detailverliebtheit der Autoren kann gelegentlich zu weit führen¸ so daß Platz verschwendet wird¸ stellt insgesamt aber ein reiches Angebot dar. Besonders gefreut hat mich die Abwesenheit jeglicher Regelmechanismen¸ deren Lektüre ich immer ungern betreibe. Ich würde HârnWorld eher erfahrenen Spielern empfehlen¸ die erhöhten Wert auf eine glaubwürdige Spielwelt legen. Bleibt nur die Frage¸ ob dies eine geschickte Zielgruppe ist¸ da solche Spielrunden oft dazu neigen¸ eigene Welten zu kreieren¸ doch auch dann kann HârnWorld noch einen Haufen Ideen liefern.
Eine Rezension von: Andreas Funke http://www.fantasy-rollenspiel.de/Sphinx.html