H.P. Lovecrafts Bibliothek 14: Xothic-Legenden
Lin Carters "Xothic-Legenden" bilden eine eigenartige Lektüre - ein Buch ohne eigentliche Handlung¸ sondern eine Lose-Blatt-Sammlung (fiktiver) Protokolle¸ historischer Bücher¸ bruchstückhafter Artefaktbeschriftungen¸ Berichte¸ Tagebücher¸ Notizen usw.¸ die für sich selbst stehend nur Mosaiksteinchen darstellen. Erst in der zeitlichen Ordnung und vor allem im Zusammenhang enthüllt sich das Geschehen: Die Geschichte der Welt ist so¸ wie wir "zivilisierten" Menschen sie rekonstruiert haben¸ falsch bzw. unvollständig. Wir sind längst nicht die Herren unseres Planeten¸ der seinerseits nur Spielball kosmischer Entitäten ist¸ deren Motive nur ansatzweise erfassbar sind.
Die "Fragmentarisierung" des "Cthulhu"-Mythos" geht auf seinen Schöpfer zurück. H. P. Lovecraft (1890-1937) kannte die Regeln für literarischen Horror sehr gut. Er erfand eine alternative Weltgeschichte¸ die sich dem erschrockenen Betrachter immer nur zufällig und in Bruchstücken enthüllt. Dem Leser ergeht es nur marginal besser¸ denn auch die Kenntnis aller Cthulhu-Storys ergibt kein Gesamtbild. Ob dies so geblieben wäre¸ hätte Lovecraft nicht ein frühes Ende ereilt¸ muss Spekulation bleiben. Auf jeden Fall fand der Mythos seine Anhänger¸ von denen nicht wenige ihm selbst Kapitel ein- und anfügten.
Hierbei stellt Robert M. Price¸ Lin-Carter-Biograf und Kenner des Horrors à la Lovecraft¸ mehrere Varianten fest. Da gibt es den "Kopisten"¸ der möglichst eng am Original bleibt¸ den "Erklärer"¸ der die Lücken tilgt¸ die der Mythos aufweist¸ sowie den "Neuerer"¸ der mit ihm "spielt"¸ ihn sich zu Eigen macht und ihn entwickelt¸ ohne ihn zu entzaubern.
Lin Carter gehört zweifellos zu den "Erklärern". Er steht ganz in der Tradition des August Derleth (1909-1971)¸ der Lovecraft noch persönlich kannte und nach dessen Tod nicht nur sein Werk bewahrte¸ sondern es vermehrte. Anders als sein "Meister" wollte oder konnte Derleth das Prinzip eines rudimentären "Cthulhu"-Mythos" nicht begreifen. Er war es¸ der systematisch damit begann¸ Lovecrafts (nicht grundlos) schemenhaft bleibende Hintergrundinformationen zu sammeln¸ zu katalogisieren und in eine chronologische Reihenfolge zu bringen. In einem zweiten Schritt füllte Derleth die Leerstellen¸ die er bei dieser Arbeit festgestellt hatte. Er schuf einen Stammbaum der "Götter" aus dem All und ihrer Helfershelfer und vor allem erfand er neue Kreaturen¸ neue Orte des Grauens¸ neue Bücher verbotenen Wissens.
Lin Carter setzt mit seinen "Xothic-Legenden" noch eins drauf. Er greift nicht nur auf Lovecrafts Werk zurück¸ sondern auch auf die Storys von Derleth sowie die von Lovecrafts Schriftsteller-Kollegen und ‐Epigonen (u. a. Clark Ashton Smith¸ Frank Belknap Long¸ Seabury Quinn¸ Basil Copper¸ Brian Lumley)¸ die sich an Cthulhu versuchten (bzw. vergingen). Derleths Bemühen um Ordnung im Dämonenhimmel verblasst vor Carters geradezu enzyklopädischem Wissen um den Mythos¸ der unter seiner Schreibhand endgültig zur "Tatsache" gerinnt. Sein Enthusiasmus ist Segen und Fluch zugleich. Zu bewundern ist Carters Meisterschaft¸ mit welcher er "Fakten" und selbst Erdachtes zu einer "neuen" Weltgeschichte fügt. Andererseits ordnet Carter diesem Ziel die Unterhaltung ‐ eigentlicher Zweck einer Geschichte ‐ konsequent unter. Im Vordergrund steht immer der Mythos. Seine allmähliche Enthüllung läuft allzu schematisch ab: Der Entdeckung rätselhafter Artefakte oder Bücher folgt die allmähliche Enträtselung¸ was allerlei Monster auf den Plan ruft¸ die für ein grausames Finale sorgen¸ das neue Fragen aufwirft. Deshalb ist es primär der Hardcore-Cthulhuist mit einem Faible für Mystery-Puzzles¸ welcher mit Carter auf seine Kosten kommt. Am Stück sollte man dieses Buch jedenfalls nicht lesen¸ da das wenig innovative Strickmuster nicht einmal vom Herausgeber bestritten wird.
Diese und viele andere Hintergrundinfos zum Mythos und zur Entstehung der "Xothic-Legenden" liefert Robert M. Price¸ ohne den es diese Sammlung wohl nicht gäbe. Lin Carter selbst hat mit ihrer Entstehung nichts mehr zu tun; sie wurde fast ein Jahrzehnt nach seinem Tod zusammengestellt. Zwar plante er einen Episodenroman zum Thema¸ der aber längst nicht alle Storys umfassen sollte¸ die Price hier vorstellt. Dies spricht für Carter¸ der offenbar selbst erkannt hat¸ dass die Qualität seiner "Xothic"-Erzählungen arg schwankt.
So ist es eigentlich Price¸ der die "Xothic-Legenden" schuf. Seine Chronologie¸ seine Bearbeitungen¸ seine verbindenden Texte formen aus ihnen ein Gesamtwerk¸ das einen gewissen roten Faden aufweist. Seine Gesamteinleitung sowie die einleitenden Texte zu den einzelnen Storys legen außerordentlich penibel deren Entstehungsgeschichten¸ Intentionen und ihre Stellung im Mythos dar. Gern holt Price weit aus und versucht sich an literaturkritischen¸ -historischen und -psychologischen Deutungen der Carter-Erzählungen. Dabei fördert er oft Unerwartetes und Interessantes zutage¸ übertreibt es jedoch einige Male gewaltig ‐ als Verfasser der Carter-Biografie ("Lin Carter: A Look Behind His Imaginary Worlds"¸ 1992) und als Lovecraft- bzw. Cthulhu-Experte verfügt er über ein profundes (wenn auch obskures) Wissen¸ das er gern & reichlich mit seinen nicht immer begeisterten und überzeugten Lesern teilt.
Es sind (bis auf eine Ausnahme) keine Helden¸ die wir in den "Xothic"-Geschichten mit dem außerirdischen Gewürm ringen sehen. Vergeistigte Hohepriester¸ Bücherwürmer und elfenbeinturmhoch entrückte Forscher entdecken die Spuren einer gänzlich unerwarteten Frühgeschichte. Sie erfassen bruchstückhaft¸ was sie da entdeckt haben¸ begreifen aber stets zu spät¸ dass dieses Wissen handfeste Konsequenzen nach sich ziehen wird. Treten dann mordlustige Riesenschnecken¸ Froschmenschen oder berggroße Schleimgötzen auf den Plan¸ ist der Reue groß aber vergeblich ‐ die unmittelbare Konfrontation mit Kreaturen¸ die es nicht geben dürfte¸ zieht einen grausamen Tod oder zumindest den Wahnsinn nach sich.
Dabei sind diese (Un-)Wesen prinzipiell nicht "böse" in dem uns bekannten Sinn¸ sondern unendlich fremd. Deshalb ist es ratsam¸ sich ihnen fernzuhalten. Unterwerfung stimmt sie nicht gnädig¸ Unbotmäßigkeit strafen sie ebenso hart wie Versagen. Gehorsam belohnen sie nicht. Sie locken mit Versprechungen von Wissen¸ Macht und Geld¸ die sie nie halten oder auf eine Weise erfüllen¸ die den Fordernden nicht mit Freude erfüllt. Überhaupt benehmen sie sich wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen ‐ die Statur dafür bringen sie mit -¸ wenn sie sich bemerkbar machen. Nach Lin Carter sind es ihrer zudem so viele¸ dass man sich wundert¸ wieso es ihnen immer wieder gelingt¸ ihre Spuren zu verwischen; schließlich hausen sie nicht alle in Tiefseeschluchten¸ Urwäldern oder auf hohen Bergen¸ sondern schleimen & morden durchaus in den "zivilisierten" Regionen dieser Erde umher.
Ja¸ es fällt schwer¸ am Ball zu bleiben¸ wenn Carter uns¸ seine Leser¸ mit zungenbrecherisch benamten alten¸ hohen & minderen Göttern konfrontiert. Allein Cthulhu kann plötzlich auf eine Gattin und drei Söhne ‐ natürlich ebenso missraten wie der Vater ‐ verweisen. Leicht verliert man da die Übersicht¸ so dass es hilfreich ist¸ dass Carter und Price die verwandtschaftlichen Konstellationen und Konfrontationen vielfach wiederholen. Denn die xothischen Götter sind notorische Streithähne¸ die ihren äonenlangen Krieg bis in die Gegenwart fortsetzen. Sie alle haben ihre "Reviere"¸ speziellen Fähigkeiten und Motive. Carter setzt sie und uns ins Licht und ignoriert dabei¸ dass dies eine Entzauberung darstellt: Der sterbliche Leser "begreift" die Götter schließlich doch. Lovecraft hätte das nicht gefallen.
Linwood Vrooman Carter wurde am 9. Juni 1930 in St. Petersburg¸ gelegen im US-Staat Florida¸ geboren. Er wuchs hier auf¸ ging hier zur Schule und kehrte kurz hierher zurück¸ nachdem er in den Koreakrieg gezogen¸ verwundet und mit einem "Purple Heart" ausgezeichnet worden war. 1953 ging Carter nach New York und studierte zwei Jahre an der Columbia University. Anschließend arbeitete er anderthalb Jahrzehnte für diverse Agenturen und Verlage¸ bis er¸ der 1965 mit "The Wizard of Lemuria" sein Romandebüt im Phantastik-Genre gegeben hatte¸ ab 1969 Vollzeit-Schriftsteller wurde ‐ und zwar ein überaus fleißiger¸ der mehrere Romane pro Jahr sowie diverse Kurzgeschichten veröffentlichte und sich als Herausgeber von Fantasy-Kollektionen einen Namen machte.
Der Fantasy ‐ und hier der Sparte "Sword & Sorcery"¸ die muskelbepackte Barbarenkrieger gegen Monster¸ Mumien & finstere Zauberer antreten ließ ‐ galt Carters ganze Liebe. Schon als Schüler verfasste er Storys im Stil von L. Frank Baum ("Der Zauberer von Oz")¸ Edgar Rice Burroughs ("Tarzan"¸ "John Carter vom Mars") oder Robert E. Howard ("Conan"¸ "Red Sonya"). Letzterem verhalf er zur literarischen Auferstehung¸ indem er mit Lyon Sprague de Camp und Björn Nyberg die "alten" Conan-Storys sammelte¸ ordnete und Lücken mit eigenen Geschichten und Romanen füllte.
Der private Lin Carter war ein unsteter¸ getriebener Mensch¸ der sich durch unmäßiges Rauchen und Alkohol gesundheitlich ruinierte. Mitte der 1980er Jahre erforderte ein zu lange unbeachteter Lippenkrebs eine radikale Operation¸ die Carters Gesicht entstellte und ihn erst recht isolierte. Immer öfter unterbrochen von Krankenhausaufenthalten¸ setzte der unterdessen auch an einem Lungenemphysem erkrankte Schriftsteller seine selbstzerstörerischen Sauftouren fort. Am 7. Februar 1988 starb er¸ gerade 57-jährig¸ in einem Veteranen-Hospital.
Eine Rezension von: Michael Drewniok http://www.buchwurm.info/