Amerika: In Städten und Wäldern (1920)
'Klassisch' spielt man Cthulhu natürlich im Amerika der zwanziger Jahre. In meiner Erfahrung als Spieler und Spielleiter ist dabei immer wieder ein zentrales Problem aufgetaucht: Keiner in der Spielrunde hat die Epoche miterlebt. Die Umwelt gerät beim Spiel schnell zum flachen Abbild der geläufigen Klischees - jegliche Faszination der Zeit geht verloren.
Nur logisch also¸ dass Pegasus Press mit 'Amerika: In Städten und Wäldern' die Bildungslücke zu füllen versucht. Auf den knapp 190 Seiten drängt sich ein thematisch umfassendes Paket zur Aufklärung: Eine Vorstellung der Zwanziger¸ eine detaillierte Beschreibung New Yorks¸ ein kurzer Abriss über Chicago und erschöpfende Informationen über 'Lovecrafts Land'¸ besonders Arkham und Dunwich¸ erstrecken sich über die ersten 75 Seiten. 43 Seiten geben Anleitung zur Konzeption authentischer Spielercharaktere. Ellenlang ist die Liste von Berufen der Zeit¸ vom Bergsteiger bis zum Zoowärter. Fast schon geschwätzig informiert das Kapitel 'Was man wann wo bekommt und wie man's benutzt' über Recherchemöglichkeiten¸ Verkehrsmittel¸ Ausrüstung¸ Schusswaffen und Schwarzmärkte (47 Seiten). Im letzten Kapitel werden erst Aspekte der Detektiv- Polizei- und gerichtsmedizinischen Arbeit erläutert¸ bevor eine ansprechende Auflistung von Todesreporten Lust macht auf das Zusammentreffen mit Mythoswesen.
Beim Lesen des Bandes beschleicht den Leser schnell Irritation - man ist einfach nicht gewohnt¸ etwas so Nützliches zu lesen. Was in diesem Band fehlt¸ sind unnütze Zusatzregeln¸ exotische Vor- und Nachteile und schlechte Illustrationen. Stattdessen gibt es z.B. authentische Reiseberichte (u.a. von Egon Erwin Kisch)¸ die aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln gegeben werden - ein Sozialist und ein unbedarfter Tourist Staunen um die Wette. Die Inhalte sind eine Zusammenstellung aus mehreren Originalsupplements (Investigator's Companion¸ Arkham Unveiled¸ Return to Dunwich)¸ sinnvoll gekürzt und ergänzt um stimmiges Eigenmaterial. An allen Ecken und Enden werden Verbindungen zu konkreten Rollenspielerfordernissen hergestellt. Alle Informationen sind auch innerhalb der Zwanziger zeitlich eingeordnet. Schnell entsteht ein sehr plastisches Bild der vorherrschenden Umbrüche und Widersprüchlichkeiten. Für Spieler und Spielleiter entpuppt sich der Band als Nachschlagewerk: Von der konkreten Automarke über den Namen eines örtlichen Museums bis zu den Lieblingszigaretten.
Zu schade¸ dass bei Pegasus einige¸ wirklich dämliche Fehler gemacht wurden. Beginnen wir mit den Kleinigkeiten: 50 Mark sind für ein Quellenbuch viel Geld (aber nicht unüblich). Das Layoutgematsche auf dem Umschlag besticht durch Unauffälligkeit. Der Klappentext soll wohl nicht ernsthaft gelesen werden¸ sonst hätte man ihn sicher erkennbar vom Hintergrund abgehoben. Wirklich auf die Nerven fällt beim Lesen das schlampige Lektorat. Einige Passagen lesen sich¸ als hätte höchstens eine automatische Rechtschreibkorrektur den Kram gesehen. Im Inhaltsverzeichnis folgt Kapitel 6 auf Kapitel 4¸ ein NSC wird mit einer komplett leeren Tabelle für seine Spielwerte geliefert und in einigen ärgerlichen Fällen tauchen sinnentstellende Formulierungen auf: "Millionen von Arbeitern werden unterlassen" (S.12). Das Layout ist zwar stimmig¸ aber einige Illustrationen sind viel zu dunkel. Der Pferdefuss ist schließlich das Fehlen eines Index - 'mal eben' nachschlagen¸ wie teuer ein Model T zur Markteinführung war geht also nicht. Nicht einmal das Inhaltsverzeichnis hilft weiter¸ denn nichts von der komplexen Struktur mit Unterkapiteln und Unterabschnitten wird hier aufgeführt. Dieses Manko ist völlig unverständlich und sollte schnellstens mit einer Nachveröffentlichung auf der Pegasus-Website (wo man auch schon den Rest des abgeschnittenen Impressums lesen kann) abgemildert werden.
Diese Nachteile können insgesamt nicht darüber hinwegtäuschen¸ dass an diesem Quellenband kein Weg vorbeiführt - für jede Spielgruppe¸ die im Amerika der Zwanziger spielen will¸ bietet die Veröffentlichung mehr Tiefe¸ mehr Atmosphäre und mehr Infos. Der Band ist recht locker geschrieben und liest sich flüssig. Wirklich spannend wird er durch seinen großen Nutzen.
Eine Rezension von: Jan Bojaryn