Tristan (Kurzgeschichte)
von Frank Reiss
von Frank Reiss
Schweißperlen rannen dem jungen Mann über die glänzende Stirn. Die Luft in dem düster mit einigen Fackeln beleuchteten Demonstrationsraum war schwer und roch nach Schwefel. Auf einem hölzernen Tisch in der Mitte des Raums lag ein Granitwürfel mit einer Kantenlänge von etwa einem halben Spann. Völlig ruhig betrachteten die übrigen Anwesenden, allesamt gekleidet in die traditionellen Gewänder aus blauer oder grüner Seide, bestickt mit silbernen Symbolen, die den Lauf der Planeten, die Affinitäten der sechs Elemente und noch weitere Zeichen der Macht darstellen sollte, das Geschehen, oder besser gesagt das, was nun geschehen sollte. Die meisten von ihnen waren in ihrer Ausbildung ebenso weit fortgeschritten wie der Mann, dem in diesen Augenblicken ihr Interesse galt und so konnten sie gut nachfühlen, wie sich der Geprüfte fühlen musste. Tristan, denn so war der Name des angehenden Magiers, legte behutsam die Hände auf den Granitquader. Er fühlte das kühle Material in seinen Handflächen und wohliges Schaudern durchflutete seinen Geist. Er war trotz allem furchtbar aufgeregt und nur sein starker Wille, diese Prüfung zu bestehen, ließ seine Hände nicht Zittern. Er hatte die Augen bereits geschlossen, doch wollte er noch nicht damit beginnen, den Zauber zu weben. Der Granitblock hatte bereits die Wärme seiner Hände aufgenommen und es fühlte nun fast so an, als hätten Stein und Fleisch eine Einheit gebildet, bereit, um die strömende Kraft der Magie aufzunehmen. Vor Tristans geistigem Auge entstand das Bild des Würfels neu. Diesmal sah er nicht die kühle, gefühlslose Steinhülle, sondern das, was darin verborgen lag. Er hatte bereits oft seine Wahrnehmung mit Hilfe von Zauberei auf eine andere Ebene verlagert, doch diesmal hatte er den ODEM nicht gewirkt. Feine Fäden roter, warmer und ständig pulsierender und fließender Kraft hatten sich zu einem würfelförmigen Gebilde zusammengefügt, das nun unter der Hand Tristans lag. Perfekte Harmonie, dachte der Junge. Er schien in der Lage, den Quader nun von allen Seiten sehen zu können, gleichzeitig, wie es schien. Die Kraftfäden bildeten eine Einheit, keiner der Fäden war zerrissen oder unterbrochen. Langsam, eine halbe Ewigkeit, wie es Tristan schien, dauerte es, bis seine Lippen die Zauberformel ausgesprochen hatte. Nun öffnete sich jene Pforte im Inneren des Mannes und die warmen, kribbelnden Wellen der Kraft leckten an Tristans Geist, bereit, geformt und gelenkt zu werden. Tristan gab die Kraft frei, ließ sie seinen Körper durchfluten, nur um sie schließlich doch zu bändigen und in seine Hände zu lenken, wo sie nun auch den Würfel erfüllten. Etwas zehrte an seinem Leib und ließen Tristan für einen Moment denken, die Kraft könnte seinen Händen entfliehen. Nun begann er doch zu zittern ob der Anstrengung, die ihm bereitet wurde, doch er hielt diese wilde, manchmal vielleicht eigenwillige Substanz fest und presste sie zurück in die Form des Würfels, wo sie verblieb. Erst jetzt atmete der Studiosi aus; peinlicherweise so merklich, dass er einige seiner Mitschüler dumpf lachen hören konnte. Tristan öffnete seine Augen noch nicht. Er wusste, die Pforte war geschlossen, der Zauber hatte gewirkt, doch wollte er diesen Moment genießen. Seine Hände, noch immer eine scheinbare Einheit mit dem Granitwürfel, hoben das Objekt an und drangen in es hinein. Von innen war der Würfel noch viel kühler und so stülpte Tristan das Innere nach Außen, vergrub seine rechte Hand in der weichen Masse und formte endlich eine Kugel, die perfekter nicht hätte sein können - zumindest empfand Tristan dies so. Der Beifall der Anwesenden rief Tristan wieder in die Wirklichkeit zurück. Magistra Donnerwacht lächelte ihm zu und bedeutete mit einem Nicken, dass er diese Prüfung bestanden hatte. Mit weichen Knien bewegte sich Tristan zu einem der Holzstühle und setzte sich mit einem leisen Seufzer.
Später saß er in der Bibliothek des Hesindetempels und blätterte in einem dünnen, in blau gefärbtes Leder eingebundenes Buch über Wandelsterne nach. In der Bibliothek herrschte eine wohltuende Ruhe und Tristan liebte es, sich nach einem anstrengenden Tag hierher zurückzuziehen, um einfach auszuspannen und seine Gedanken wieder klar zu bekommen. Die Prüfung, die er heute morgen bestanden hatte, war ein weiterer Schritt auf dem Weg zur großen Abschlussprüfung gewesen, die er voraussichtlich im nächsten Jahr ablegen würde, wenn alles glatt ging. "He! Du Träumer, wach auf!" hallte es wie ein Glockenschlag durch die Gänge der unterirdischen Bibliothek. Tristan hatte das Mädchen, das nun neben ihm stand, nicht einmal ankommen gehört. Die war wie er neunzehn Götterläufe alt und war in ein grünes Gewand gekleidet. Eine aufgestickte goldene Schlange wand sich um den Leib des Mädchens. Ihr freundliches, scheinbar permanent grinsendes Gesicht hatte eine leicht rosige Färbung, was sicherlich von der Kälte kam, die draußen herrschte, aber in Festum zu dieser Jahreszeit nicht ungewöhnlich war. Janne war Novizen im Hesindetempel und seit Kindesbeinen eine gute Freundin von Tristan gewesen. Sie begannen ihre Ausbildungen fast gleichzeitig und so sahen sie sich im allgemeinen fast täglich irgendwo auf dem weitläufigen Gelände des Hesindedorfes. Janne war von erstaunlich fröhlichem Gemüt und es war wahrlich schwer, sie aus dieser Gemütslage zu bringen. Sie hatte die einzigartige Eigenschaft, in allem, was geschah, das Gute und vor allen Dingen Witzige zu sehen. Ihre Eltern, ihres Zeichens stolze Besitzer eines mittelständischen Hotels, hatten ihr keine Chancen eingeräumt, jemals die Weihe als Hesindepriesterin zu erhalten, da man ihr einfach nicht die nötige Selbstbeherrschung im richtigen Moment zutraute. Ähnliches hatten seine Eltern, die ein angesehenen Gemischtwarenladen in der Altstadt führten, von dem kleinen Tristan gesagt, als ein Magister der Halle des Quecksilbers eher durch Zufall Zeuge wurde, wie sich die magische Kraft in Tristan einen Weg zu bahnen versuchte und der Junge sämtliche Glasgegenstände im Lager des Ladens zerspringen lies. Schlussendlich jedoch hatten es beide, Janne und Tristan, geschafft, ihre Ausbildungen fast zu Ende zu bringen und waren nun der Stolz ihrer Familien.
"Sag mal, wusstest du, dass Simia einmal in jedem Jahrhundert die Eidechse parallel zur Bahn des Marbo durchschreitet und gleichzeitig mit Nandus, Horas und Aves ein Kreuz bildet?" fragte Tristan erstaunt. Die Sternkunde hatte ihn schon in den frühen Anfängen seiner Studienzeit fasziniert und so verbrachte er oft Stunden der wohlverdienten Nachtruhe unter dem Licht des nordländischen Sternenhimmels.
"Hmm,", Janne dachte kurz nach und lachte dann: "Wenn dem so wäre, dann müssten an diesem Tag wahrlich von den Göttern auserwählte Kinder geboren werden."
- Ende