Dualismus ... Fliehe die Vergangenheit!
2001-01
Fliehe die Vergangenheit!
von Bjørn Jagnow
- Die Art, wie ein Mensch mit Büchern umgeht, verrät seinen Charakter. Ob er weiß mit Wertvollem umzugehen. Ob er über-haupt erkennt, dass fremdes Wissen von Wert sein kann. Maitheas machte sich jedenfalls nichts aus Büchern.
"Wozu schleppst du denn diesen Mühlstein mit dir herum?" Er hob mit zwei Fingern den Einband an, als könne er sich an dem abgegriffenen Leder eine Krankheit holen. Die dünnen Seiten aus Pergament raschelten, als sie auffächerten. "Kannst du hier ja doch nichts mit anfangen."
Das Hier war ein Gasthaus zwei Tagesreisen von der Küste entfernt in einem Dorf, das Bronwen nie zuvor betreten und dessen Namen sie nicht einmal zur Kenntnis genommen hatte. Abgesehen von den zwei oder vielleicht drei Tagen, die sie noch blieb, würde sie das Fleckchen niemals wieder sehen. Wenn das Buch nicht wäre, über das Maitheas sich lustig machte, wäre sie längst vor Langeweile gestorben.
"Manche Leute können lesen."
Ihr Gegenüber schlug den Buchumschlag auf. "Ach wirklich?" In seiner Stimme schwang ein amüsierter Unterton. "'Dualis-mus. Unvereinbare Pole und die Welt zwischen ihnen.' Das klingt ja unglaublich spannend. Bist du eine von diesen weltfliehenden Philosophie-Anhängern? Oder warum nimmst du so etwas zum Abendessen mit?"
Sie klappte den Einband vorsichtig zu und schob das Buch beiseite. "Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich kein Wort. Aber es lockt Männer an."
Maitheas stieg auf den Scherz ein und das Gespräch entwik-kelte sich zu einem charmanten Kräftemessen, wer die nutzlo-seren Antworten gab. Allmählich erfuhr Bronwen, dass er ebenfalls auf der Durchreise war - allerdings in die andere Richtung - und irgendwo im Landesinneren den Gutsbesitz sei-ner Vorfahren verwaltete. Er war nicht unbedingt attraktiv, aber seine hinterwäldlerische Heiterkeit konnte Bronwen für sich gewinnen und bald waren der Bauchansatz und die Geheim-ratsecken im Braun seiner Haare ein lieb gewonnener Anblick.
Im Gegensatz zu ihr hatte Maitheas ein sicheres und geord-netes Leben geführt. Den Wohlstand genossen, den er geerbt hatte. Bronwen hütete sich das Gespräch auf politische oder gelehrte Themen zu lenken, denn darin war er nur allzu unbe-schlagen. Es war ihm völlig unbegreiflich, warum eine land-lose und keineswegs reiche Frau ein Vermögen in ein Buch investiert hatte, obwohl es ihr Leben in keiner Weise ver-bessern konnte.
"Wenn ich ehrlich bin", erwiderte sie, "habe ich es mir nicht selbst gekauft. Das Geschenk eines Freundes."
Maitheas hob süffisant die Augenbrauen. Ein sexueller Un-terton war bereits mehrfach sowohl in ihren, als auch in seinen Bemerkungen aufgetaucht und gewann zusehends die Oberhand. "Ich kann mir ungefähr vorstellen, was für eine Art Freund das gewesen sein muss. Und du hängst an diesem Bücherliebhaber, sonst hättest du das nutzlose Dinge längst zu Geld gemacht."
Bronwen blickte ihn zur Abwechslung einmal ernst ins Ge-sicht. "Ja, ich hänge an Tuachall. Das kann ich nicht leug-nen und ich werde auch nicht zerreden, warum und wieso." Nun lächelte sie wieder. "In einem Punkt irrst du dich trotzdem - und ich will es dir beweisen, wenn du mit mir nach oben kommst."
Es musste an ihrem eiligen Aufbruch liegen, dass beide den Hass nicht bemerkten, mit dem sie vom anderen Ende des Schankraums beobachtet wurden. Sie standen auf, packten ihre Habe und wandten sich Arm in Arm der Treppe zu. Bronwens Blick streifte sogar über die blonde Frau, die diese Wut aussandte und sich selbst hinderte aufzuspringen, indem sie sich am Tisch festklammerte. Doch Bronwen achtete nicht auf die ungepflegte Erscheinung und die Mordlust in den dunklen Augen. Stattdessen betatschte sie Maitheas' Hintern.
‚Dir werde ich es zeigen! Wickel ihn ruhig ein mit deinen roten Locken. Lasse ihn von deinen Lippen und deinen Hüften kosten, wenn es dir Spaß macht. - Einmal lasse ich dir das Vergnügen und dann wirst du sterben, du Hexe. Er gehört mir! Ist nicht das erste Mal, dass ich deswegen morde.'
Sie warf das Bier quer durch den Saal, als eine Tür im oberen Stockwerk zuschlug. Der Wirt und die Gäste prote-stierten, doch die Frau zischte drohend und verließ das Haus, ohne behelligt zu werden.
Mit den Messern an ihrem Gürtel wollte sich keiner anle-gen.
-
Zuerst glaubte Maitheas der Traum wäre die Fortsetzung seiner erotischen Erlebnisse. Doch sobald das Mädchen in seinem Kopf auftauchte, wusste er, dass ihr etwas Schreckli-ches zustoßen würde.
Sie war schlank in einer unausgewachsenen Weise. Als wür-den hier und dort noch einige weibliche Polster fehlen, die sich erst angekündigt hatten. Sie war verführerisch in ihrer Naivität, die das grausame Schicksal dennoch nicht vollstän-dig verdecken konnte. Der Mund dominierte das gold umrahmte Gesicht, und wenn sie lächelte, öffnete sich irgendwo in Maitheas der Kelch zu einem berauschenden Glücksgefühl.
Trotzallem war der Traum seltsam belanglos. Er beobachtete das Mädchen bei der Arbeit und erkannte bald das Dorf Skil-len wieder, in dem er mit Bronwen untergekommen war. Anson-sten geschah nichts weiter, als dass ihm dieses Mädchen zu-sehends vertrauter erschien.
Der Fensterladen zum Schlafzimmer war offen und vorsichtig glitt eine Gestalt in den Raum. Sie vermied, mit den Messer-griffen am Holz hängen zu bleiben, ließ die Klingen jedoch in im Gürtel stecken. Ihr Hass brannte nun kälter. Sie hatte die Kontrolle zurück erlangt. Nur einige Schritte bis ans Bett, dann zwei schnelle Stiche in Lunge und Herz der Hexe und alles wäre wieder in Ordnung. Endlich wieder in Ordnung.
Gelassen schob sie die Strähne zurück, die sich unter dem Haarreif gelöst hatte. Das Mondlicht warf einen silbernen Kontrast auf das Gelb, das im Sonnenschein über ihren Kopf flutete. Obwohl sie glücklich war, die Widersacherin so un-vorsichtig aufzufinden, konnte sie nicht lächeln. Maitheas hatte sich in der Bettdecke herumgerollt und damit seine Gespielin teilweise aufgedeckt. In der warmen Sommernacht hatte Bronwen nichts davon bemerkt und reckte ihre Linke in den Mondschein. Der Busen war nackt und das Bein bis fast zur Leiste unverhüllt. Der Neid dämpfte die Selbstgefällig-keit der Einbrecherin. Aber er schürte ihre Entschlossen-heit.
Sie schritt leise neben das Bett und zog das erste Messer. Wie hatte die Rothaarige Maitheas nur so leicht um den Fin-ger wickeln können? War die blasse Haut und das unstete Ver-sprechens ihres Schosses bereits ausreichend, einen Mann alles vergessen zu lassen, was ihm lieb und teuer war?
Mit der freien Hand hob sie die Decke und schlug sie zur Gänze auf. Dieses Flittchen hatte es wirklich verdient zu sterben. Wie vielen mochte sie wohl den Mann geraubt haben? - Bei der bildlichen Vorstellung all der betrogenen Frauen wurde ihr schwindelig. Sie griff nach hinten an einen Nacht-tisch, doch statt sich auf das Holz zu stützen erwischte sie einen Ledereinband. Das Buch ragte zur Hälfte über die Tischkante hinaus und fiel mit einem lauten Schlag auf den Boden.
Als Bronwen die Augen aufriss, sah sie nur eine Bewegung neben sich. Etwas wurde hochgerissen und funkelte bedroh-lich. Im Reflex rollte Bronwen über Maitheas hinweg außer Reichweite und warf ein Leuchten aus ihrer Handfläche. Das magische Licht explodierte in einem gierig-entsetzten Ge-sicht und blendete die Frau, die gerade ein zweites Messer gezogen hatte.
Bronwen schüttelte Maitheas und versuchte ihn aus dem Bett zu zerren. "Maitheas! Wach auf, schnell!" Gleichzeitig such-te sie nach einer Waffe, doch ihr Stab lag irgendwo in der Dunkelheit. Der Mann brummelte benommen und fiel aus dem Bett. Bronwen holte mit einen Stiefel vom Boden aus und schleuderte ihn der Angreiferin entgegen. Die Sohle schlug mit einem hässlichen Klatschen auf ihre Stirn. Laut um Hilfe schreiend tastete Bronwen nach einem weiteren Geschoss, doch der Schatten flüchtete bereits durch das Fenster hinaus. Maitheas sah gerade noch den Schweif blonder Haare in der Tiefe verschwinden, als er sich aufrappelte.
"Iona?"
-
"Du hast nicht zufällig eine Ehefrau, oder Maitheas?"
"Dann wäre ich nicht hier bei dir."
"Oder jemanden, der ähnliche Ansprüche an dich stellt?"
Mit einem Seufzen wandte er sich von Bronwen ab. "Warum sitze ich eigentlich auf der Anklagebank, wenn bei dir ein-gebrochen wird?"
Inzwischen war es so spät, dass man es schon wieder früh nennen konnte. Die Aufregung hatte sich ins ganze Haus aus-gebreitet. Die Gastleute, denen die Herberge gehörte, hatten als Erste gegen die Tür geschlagen, um eingelassen zu wer-den. Während Bronwen und Maitheas den Schrecken überwanden, besann man sich im Flur des Ersatzschlüssels und verschaffte sich Zugang. Mit den Gastleuten war eine Hand voll Neugieri-ger hereingekommen und bevor alle begriffen hatten, was pas-siert war, vergingen Ewigkeiten an Erklärungen und Wiederho-lungen. Die Gastleute waren in ihrer Angst und Fürsorge ge-radezu drollig, entschuldigten sie sich doch ständig für den Vorfall. Als geschähe das jede Nacht und sie hätten nur ver-gessen Bronwen Bescheid zu sagen.
Sie war froh, als endlich alle verschwunden waren, und sie wieder mit Maitheas allein war. Der Grund für den Überfall war ihr noch immer schleierhaft und sie hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt sich anzuziehen. Aber solange sie mit Maitheas stritt, hatte sie keine Lust unter der Bettdecke hervor zu schlüpfen.
"In Ordnung. Ich bin ungerecht, weil ich müde und er-schrocken bin." Sie kämpfte nochmals um Ruhe. "Ich nahm ein-fach an, du müsstest etwas wissen. Hattest du nicht einen Namen gerufen?"
"Habe ich das?" Der Mann blieb mit dem Rücken zu ihr ste-hen. Für gewöhnlich führte er einen eigenen Gutshof an, doch jetzt wirkte er wie ein Kind, das ein schlechtes Gewissen verbergen wollte. "Ich wüsste nicht, welchen Namen ich geru-fen haben sollte."
Bronwen stöhnte entnervt auf und streckte sich auf dem Bett aus. "Bitte. Wundere dich nur nicht, dass ich das Ge-fühl habe, du würdest mir etwas verheimlichen."
Maitheas sammelte seine übrigen Sachen vom Fußboden auf. Die Hose hatte er schon an. "Ich werde jetzt auf mein Zimmer gehen."
Dass sie sich am Morgen in der Gaststube trafen, war un-weigerlich. Dass sie sich zusammensetzten auch. Die Gastel-tern hatten ihnen auf dem besten Tisch ein Frühstück von den Ausmaßen eines Gebirges bereitet. Bronwen gab sich alle Mühe ihnen zu versichern, dass alles in Ordnung war und sie ihnen den Einbruch nicht nachtrug.
"Ich habe weder eine Frau, noch eine Geliebte außer dir", sagte Maitheas ernst, nachdem sie sich gesetzt hatte. "Ich war noch halb in Träumen, als alles passierte. Ich bin eben-so ratlos wie du."
Bronwen schenkte ihm ein verhaltenes Lächeln und bohrte nicht nach, wessen Namen er genannt hatte. "Vielleicht bin ich nicht ganz so ratlos. - Ich bin wach geworden, weil die-se Frau nach meinem Buch gegriffen und es fallen gelassen hat. Wahrscheinlich interessierte sie sich für keinen von uns. Das Buch ist immerhin einiges wert, wenn man es irgend-wo verkaufen kann."
Maitheas sagte darauf nichts, sondern blickte nur ent-schlossen drein und widmete sich seinem Frühstück. Was er von dieser Möglichkeit hielt, blieb unklar. Statt sich wei-ter um die Schrecken der Nacht zu kümmern, bemühte er sich Bronwen aufzuheitern und das angeschlagene Verhältnis zwi-schen ihnen aufzubessern. Er gab sich so bezaubernd und hu-morvoll, dass sie ihre Vorbehalte vergaß. Vielleicht hatte er wirklich noch geträumt. Und selbst wenn nicht, war der Einbruch sicher nicht auf seinen Geheiß erfolgt. Wie konnte sie ihm dauerhaft böse sein?
Irgendwann nach einer Folge ausgelassener Blödeleien wurde er schließlich ruhig und blickte unsicher auf die Tischplat-te. "Ich möchte dich etwas fragen, was dich nicht verärgern soll. Letzte Nacht..." Er sah hoch und taxierte Bronwens Stimmung. "Bist du eine Zauberin?"
Er erntete ein Lachen. "Damit wolltest du mich verärgern, Maitheas? - Ja, ich kann zaubern." Sie war bemüht selbstsi-cher bei diesem Geständnis, denn je weiter ins Ländliche sie kam, desto schlechtere Erfahrungen hatte sie gemacht. Zum Glück achteten gerade keine Gäste auf ihren Tisch. "Schok-kiert dich das? Hast du jetzt Angst vor mir?"
Er schüttelte langsam den Kopf. "Ich bin eher froh dar-über. Dachte schon, ich müsste an meinem Verstand zweifeln. Den Blitz heute Nacht hätte ich mir sonst nicht erklären können."
Bronwen biss sich übermütig auf die Lippe. Unter dem Tisch rieb sie die Fußsohle an Maitheas' Beinen. "Das ist hoffent-lich nicht das einzige, was dir von der gestrigen Nacht im Gedächtnis geblieben ist!"
Sie waren darin übereingekommen nach der Einbrecherin zu suchen. Bronwen hatte das Buch verteidigt und einen ein-leuchtenden Grund, warum es jetzt in Sicherheit sein sollte, gab es nicht. Die Frau konnte sie jederzeit wieder überfal-len.
Maitheas hatte nicht viel von der Einbrecherin erkennen können. Sie hatte blondes Haar. Über die Länge war man sich bereits uneins. Mindestens schulterlang war der Kompromiss den Bronwen und Maitheas fanden. Außerdem hatte die Angrei-ferin zwei Messer und hoffentlich eine Platzwunde auf der Stirn. Das half aber nur weiter, wenn sie sich heute im Dorf oder der Umgebung von Skillen blicken ließ.
Im Gasthaus hatten mehrere Leute bestätigt, am Vorabend eine entsprechende Frau im Schankraum gesehen zu haben. Ihr Abgang war allen im Gedächtnis geblieben, die dabei anwesend gewesen waren, und die dürftige Beschreibung passte. Das Gespräch über den Wert des Buches hatte sie wohl auch mitbe-kommen. Allerdings kannte niemand den Namen oder die Her-kunft der Frau.
Eine Einheimische konnte es also nicht sein. Und sofern sie überhaupt noch in der Nähe war, musste sie bei irgendei-nem Bauern Unterkunft gefunden haben. Die Gasteltern hatten sich schnell in ganz Skillen umgehört. Im Dorf selbst war kein Hinweis auf die Einbrecherin zu bekommen.
Nachdem Bronwen und Maitheas bereits drei Gehöfte in der Nachbarschaft des Ortes besucht hatten, blieb noch ein Vier-tes übrig. Zwar waren dazwischen noch weitere kleine Höfe gelegen, aber diese waren zu sehr abseits der Wege, als dass eine Fremde dort Unterschlupf gesucht hätte.
Hätte Bronwen nicht auf Tuachall gewartet, wäre sie abge-reist. Außerdem hielt sie auch Maitheas zurück, der in die entgegensetzte Richtung reisen würde. - Bronwen konnte nicht einmal sagen, welcher der Männer ausschlaggebend war. Und solange ihr Freund nicht zurückkehrte, war sie auch nicht gezwungen eine Entscheidung zu fällen.
Sie kamen einen Hang herunter und blickten von oben auf den letzten Hof, in dem sie ihr Glück versuchen würden. Weiß getünchte Gebäude, keines größer als fünfzehn auf fünf Schritt, standen in loser Anordnung beisammen. Das Haupthaus hatte ein oberes Stockwerk, die übrigen drei verfügten nur über ein Erdgeschoss. Rundherum wuchsen Ginsterbüsche mit ein paar letzten Gelbtupfern, wo sich Blüten jenseits ihrer Zeit gehalten hatten. Auf dem Hofplatz überragte eine alte Birke alle Bauten.
Kinder spielten unter der Aufsicht einer Großmutter oder Tante und wurden schnell auf die Wanderer aufmerksam, als Bronwen und Maitheas näher kamen. Übermütig winkten sie und tollten schließlich um sie herum. Das wilde Geplapper, in dem jeder Satz unterzugehen drohte, amüsierte die Zauberin und gleichzeitig spürte sie den Stachel des Neids, der bei diesen Gelegenheit immer in ihr bohrte.
"Sind auf deinem Gut auch Kinder, Maitheas?"
"Nicht von mir, falls du dir darüber Sorgen machst."
Er erhielt einen undefinierbaren Blick als Antwort. Mehr konnte sie jetzt nicht sagen. Stattdessen wandte sie sich an die Frau, die auf ihrer Bank sitzen geblieben war und alte Kleider stopfte.
Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln, kam Bronwen bald auf den Überfall in der Nacht zu sprechen und beschrieb die Frau nach der eigenen Erinnerung und den Hinweisen der Gä-ste, die sie im Schankraum gesehen hatten. Sie wussten jetzt, dass ihre Statur eher einem halbstarken Knaben glich und sie den Eindruck einer Tagelöhnerin oder Feldarbeiterin erweckte, die ordentlich zupacken konnte. Und sie war fremd in dieser Gegend - allein das sollte auffällig genug sein.
Doch wieder wurden sie enttäuscht. Hier waren, abgesehen von Bronwen und Maitheas, keine Fremden aufgetaucht und zu der Beschreibung wollte der Großmutter niemand einfallen. Sie verabschiedeten sich bereits und lehnten den angebotenen Tee freundlich ab, als Maitheas noch einmal nachhakte.
"Eine Frage noch. Vielleicht hat es mit diesem Vorfall gar nichts zu tun, aber kennt ihr den Namen Iona Tach?"
"Das wohl, mein Herr. Aber die gute Iona hat gewiss nichts mit diesem Überfall zu tun. Sie ist seit mehr als vier Jahr-zehnten tot."
Bronwen verstand nicht, warum Maitheas diese Nachricht so nahe ging. Sie erinnerte sich aber deutlich wie er diesen Namen in der letzten Nacht gerufen hatte.
-
Diesmal waren sie in Maitheas' Zimmer untergekommen. Die Fensterläden waren geschlossen und verriegelt. Dementspre-chend hatte die Hitze des Tages nicht entweichen können und stand nun unangenehm über den Schlafenden. Außerdem hatte Bronwen irgendetwas Magisches getan. Sie hatte Maitheas an-gewiesen auf keinen Fall das Bett zu verlassen.
Iona dominierte erneut seine Träume. Sie hatte jung gehei-ratet und inzwischen war ihr Mann Farg das Haupt des Famili-enbesitzes geworden. Sie bewirtschafteten einen Hof nicht weit von Skillen, auf dem neben Fargs Mutter noch sein Bru-der Derth lebte. Iona hatte sich schnell in ihr neues Heim eingefunden und bewahrte sich ihre Ausgelassenheit, obwohl ihr Mann zusehends verbissener wurde. Er hatte ehrgeizige Pläne für die Zukunft des Hofes und verkündete diese aller-orts, tat aber ansonsten keinen Handschlag dafür. Wenn sich diese Ziele schließlich zerschlugen, tobte er, verteilte Schuldzuweisungen an die Familie und legte eine Herrschsucht an den Tag, die es Iona schwer machte an ihrer Liebe festzu-halten. Als sie einen Eimer in den Brunnen fallen gelassen hatte, zwang er sie hinunter zu steigen und verschloss die Abdecklucke. Hätte ihr Schwager sie nicht herausgeholt, hät-te sie wohl die ganze Nacht im Brunnenschacht bleiben müs-sen.
Derth war zuvorkommend und hilfsbereit zu ihr. Wenn sein älterer Bruder wieder einmal im Zorn davon galoppiert war, wenn Iona sich allein und wertlos vorkam, dann brachte er sie auf andere Gedanken und holte ihr Lachen zurück.
Irgendwann wachten sie nebeneinander auf, ohne zu wissen wie ihr Liebesspiel begonnen hatte. Der eine so glücklich und schuldig wie die andere. Farg kam nicht rechtzeitig zu-rück, um es zu bemerken. - Dergleichen wiederholte sich vie-le Male.
Maitheas wollte ihr zurufen, dass sie sich von ihrem Mann trennen musste, denn er ahnte das blutige Unglück. Doch der Traum ließ es nicht zu. Zudem wusste er, wie viele Hemmnisse einen Menschen an Heim und Gut fesselten. Iona und Derth hätten alles verloren - außer sich selbst. Und auch das ver-loren sie, als Farg endlich entdeckte, was sich hinter sei-nem Rücken abspielte.
Er überraschte sie im Schlaf. Dem Bruder stieß er ein Waidmesser in die Brust, ohne dass Derth die Gefahr auch nur geahnt hätte. Iona erwachte von dem Röcheln und Krampfen neben ihr. Sie sah ihren Geliebten verbluten und ihren Mann über ihn gebeugt. Bei seinem herrischen, selbstgefälligen Ausdruck in den Augen wusste sie, dass alles zu Ende war. Sie wehrte sich nicht einmal, als Farg mit einem zweiten Messer ausholte und ihre Kehle öffnete. Sie weinte nur und fiel über den Schwager.
Maitheas schnellte schreiend in die Höhe. Blut tropfte von seinen Händen. Musste von seinen Fingern triefen nach allem, was er gesehen hatte. Er war... nein, er hatte bloß...
Das Fenster stand offen.
"Diesmal wirst du sterben. Das machst du nicht noch ein-mal. Verabschiede dich von ihr! Éadon wird dich töten." Die Stimme der Frau kam aus dem Schatten in der Ecke neben dem Fenster. Maitheas sah nicht das Geringste, keinen Umriss, kein Aufleuchten von Metall. Es war einfach zu dunkel dort.
Vorsichtig tastete er nach Bronwen und stieß gegen sie. Zum Glück fühlte sie sich lebendig an. Sie atmete und wurde nach einem zweiten Rütteln wach. Doch gleichzeitig zuckte Éadon aus dem Schatten hervor und sprang auf Maitheas zu.
Mit einem Stoß warf er Bronwen aus dem Bett. "Nein! Maitheas!" Der Rücken des Mannes war ungedeckt und er erwar-tete den Stich eines Messers. Stattdessen prallte die An-greiferin von einer unsichtbaren Barriere ab und fiel keu-chend zu Boden. Maitheas hastete über Bronwen hinweg und floh.
"Bleib hier!" Bronwen bekam seinen Fuß zu fassen und brachte den Gutsbesitzer zu Fall. "Komm ins Bett, verdammt. Sie kann nicht auf das Bett!" Mühsam bugsierte sie sich und Maitheas zurück auf die Matratze. "Der Zauber hält sie zu-rück!" Éadon kroch rückwärts zum Fenster.
"Hexe, lüsterne! Pass nur auf, wo ich dir mein Messer hin-stecke!"
Bronwen richtete sich vor Maitheas auf und musterte die Attentäterin gelassen. "Ach ja?" Sie öffnete die Handfläche und wie in der Nacht zuvor sprang ein Lichtblitz Éadon ent-gegen. Diesmal verfehlte Bronwen jedoch ihr Ziel. Die Frau war bereits geflohen. Maitheas weinte. "Bist du verletzt?"
"Sie wollte sich rächen. Das Buch interessiert sie gar nicht! Sie will Rache und das mit Recht!"
Bronwen begriff kein Wort. Sie starrte noch immer aus dem Fenster. "Ich verstehe dich nicht. Was soll das heißen?"
"Ich habe ihr Schreckliches angetan..." Der Rest ging in Schluchzen unter und Bronwen schrie ihn an.
"Sagtest du nicht, du kennst sie gar nicht?"
Er nickte kraftlos. "Nicht in diesem Leben. Und offenbar habe ich ihr das vorherige genommen."
-
"Du glaubst also, dass du dieser Farg aus deinem Traum bist?"
Maitheas war kaum wieder zu erkennen. Zusammengesunken kauerte er auf dem Bett. Tränen hatten Spuren über Wangen und Kinn gezeichnet. Das Nachthemd klebte nass auf seiner Brust.
"Warum sonst sollte ich von ihr träumen? Ich habe gesehen, wie ich sie umgebracht habe. Meine Frau und meinen Bruder! Die Götter mögen mir vergeben." Mit dem Handrücken rieb er sich die Augen. "Ich bin mir ganz sicher, dass ich einmal Farg gewesen bin. Ich habe mir sogar ähnlich gesehen, habe mich ähnlich verhalten. Es ist wie eine Nachahmung meines bisherigen Lebens - nur bin ich die Kopie und das Original hat zwei Menschen ermordet."
Bronwen wusste nicht wie sie darauf reagieren sollte. Sie hatte sich den Traum erzählen lassen und war über die Ge-schichte und die persönliche Beziehung Maitheas' schockiert. Doch die Schlussfolgerungen waren für sie nicht annähernd so stark wie für ihn. Wie sollten sie auch?
"Selbst wenn du die Wiedergeburt dieses Farg bist - du bist ein anderer Mensch als er. Du hast beispielsweise kei-nen Bruder. Die Gegenwart kann also nicht bloß ein Echo der Vergangenheit sein. Maitheas hat niemanden getötet!" Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sich. "Und viel-leicht war alles nur ein Hirngespinst. Bloß weil die Frau aus deinem ersten Traum wirklich in Skillen gelebt habt, muss die Geschichte, die du heute gesehen hast, nicht wahr sein. Beruhige dich. Nachher können wir die Gastleute nach dem Schicksal von Iona Tach fragen."
Leider bestätigte sich das Ende von Iona und ihrem Schwa-ger. Allerdings wurde im Dorf eine andere Variante erzählt. Es hieß, dass bei den beiden Toten ein Abschiedsbrief Derths gefunden wurde. Er könne seinen Bruder nicht länger betrü-gen, aber ebenso wenig auf Iona verzichten. Ihm bliebe nichts als der Freitod. Daraufhin habe er sich das Messers ins Herz gestoßen, um seiner Qual ein Ende zu bereiten. Iona fand ihn sterbend in seinem Bett und folgte ihm mit einem verzweifelten Schnitt ins Jenseits.
Iona und Derth waren ein tragisches Element der hiesigen Folklore geworden. Lieder und Geschichten waren auf ihren Namen gedichtet worden und ihre Gräber wurden bis heute von jungen Liebenden gepflegt, die sich ewige Treue schworen.
Auf Maitheas hatte diese Nachricht eine seltsame Wirkung. Bevor sie in die Öffentlichkeit der Gaststube gegangen wa-ren, hatte er sich weitgehend gefasst. Bronwen glaubte nicht, dass er ernsthaft an seinen Selbstvorwürfen zweifel-te, doch er wollte die Geschichte bestätigt haben, die sich vor seinem schlafenden Auge abgespielt hatte. Für Bronwen war immerhin der Mordverdacht ausgeräumt. Was Maitheas dach-te, konnte sie nicht einschätzen. Er bestand darauf, die Gräber zu besuchen.
Er sprach lange nicht, als er vor den Grabsteinen kniete und Bronwen ließ ihn allein. Ein frisches Gesteck aus Rosen und Weißdorn zierte den Ort.
"Was für ein kaltherziger Platzhirsch ich gewesen bin!" Er drehte den Kopf zu Bronwen und diesmal hatte er nicht einmal Tränen übrig. "Ich habe sie nicht einfach nur getötet. Ich habe sogar dafür gesorgt, dass alle es für Selbstmorde hiel-ten."
"Maitheas..."
"Ich weiß es Bronwen! Alles, was du sagen kannst, hat kei-ne Bedeutung. Jedermann würde Farg freisprechen, denn kaum jemand erinnert sich an ihn. Sie sehen alle nur Iona und Derth. Aber ich habe gesehen, wie sie starben! Ich weiß, dass sie ermordet wurden! Schließlich bin ich es selbst ge-wesen..."
Sie schwieg, denn ihr fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Sie ging nur zu ihm und legte Maitheas die Hand auf die Schulter. Er stand auf und sein Blick hätte nicht ein-dringlicher sein können.
"Dieser dämliche Brief war nicht von Derth. Ich muss ihn geschrieben haben, um meine Tat zu verschleiern."
Bronwen küsste ihn sanft auf den Mund. Sie hatte eine Wahl getroffen. "Das ist mir ganz egal. Du bist, was du heute bist. Ich liebe dich."
-
Tuachall saß an ihrem Tisch, als Maitheas und Bronwen den Schankraum betraten. Er bemerkte sie und begriff gleich, was er sah. Er hatte immer hervorragend verstanden, was in Bron-wen vorging - solange sie sich kannten schon. Er winkte in seiner üblichen Art und rückte beiden einen Stuhl zurecht.
Maitheas war verunsichert. "Wer ist das?"
"Der Bücherliebhaber", antwortete sie mit brüchiger Stimme und folgte der Einladung. Sie ließ Maitheas' Hand nicht los und drückte Tuachall bloß, statt ihn wie sonst zu küssen. Er spürte ihre Unsicherheit ohnehin. Sie brauchte sie nicht mit alten Gewohnheiten überspielen.
Er streckte Maitheas die Hand hin und brummelte seinen Na-men dabei. Für den Gutsbesitzer musste es wie Ablehnung oder Missbilligung aussehen, aber Tuachall machte nie viel Worte und freundlich wurde er nur mit alten Vertrauten. Abgesehen von Bronwen war er am liebsten allein mit sich und seinen Gedanken. Die Welt um ihn störte in der Regel nur.
Maitheas begrüßte den dunklen Mann verhalten, dessen Be-ziehung zu Bronwen er nicht einschätzen konnte. Er war nicht in der besten Verfassung und die Situation war ihm sichtlich unangenehm. Sie hatte zu viel Ähnlichkeit mit seinen Träu-men.
Bronwen beschloss daher, dass Offenheit die beste aller möglichen Taktiken war und weihte Tuachall in die Erlebnisse der letzten Tage ein. Er hörte zu, aß dabei und gab gele-gentlich mit einem Blick oder einer Handbewegung Aufforde-rungen, wenn er mehr Details haben wollte. Es war ein muti-ger Vorstoß Maitheas' vermeintliche Lebensgeschichte auszu-breiten, ohne sich vorher mit ihm abzustimmen. Doch auch er schien erleichtert zu sein. Lenkten die Angriffe und Träume das Gespräch immerhin auf ein Thema, über das sich reden ließ.
Am Ende wandte sich Tuachall daher an ihn statt an Bron-wen. "Ich verstehe Eure Bedenken. Was mich mit Bronwen ver-bindet, ist mehr als ein Verhältnis. Ich pflege allerdings Menschen niemals als Besitz zu betrachten. Ihr habt von mir keinen Groll zu erwarten." Dann widmete er sich dem Rest seiner Mahlzeit. "Ihr scheint mir allerdings einem voreili-gen Schluss erlegen, was Eure Verbrechen angeht."
Bronwen freute sich, dass Tuachall ihr darin Unterstützung bot. Maitheas musste aus seinem Selbstmitleid befreit werden und ihr waren die Ideen ausgegangen.
"Vor vierzig Jahren spielte sich die Tragödie zwischen zwei Männern und einer Frau ab. Und in der Gegenwart dieser Geschichte gibt es zwei Frauen und zwei Männer. Wie wollt Ihr wissen, wer die Reinkarnation von wem ist?"
"Du meinst, dass ich ebenfalls in der Vergangenheit gewe-sen bin?" Bronwen war entsetzt. Dieser Gedanke war ihr noch gar nicht gekommen.
"Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wir sollten uns al-lerdings nicht von optischen Vergleichen leiten lassen. In der Vergangenheit gab es einen Gutsherrn und heute gibt es einen. Früher war jemand blond und heute ist es jemand. Doch diese Dinge haben wenig mit den Seelen zu tun, die wieder geboren wurden. Ebenso gut könnten Geschlechter vertauscht worden sein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in einem vor-herigen Leben ein Mann gewesen sein muss."
Maitheas hob orientierungslos die Hände. "Das übersteigt meinen Horizont."
"Darum schlage ich vor, dass wir zur Abwechslung aktiv werden und einem dritten Angriff zuvor kommen." Tuachall stand auf und wandte sich an Bronwen. "Gehen wir zu dir oder zu ihm?"
Sie hatten sich in Bronwens Zimmer eingeschlossen, weil es ein wenig größer war als Maitheas' Unterkunft. Außerdem zeigte das Fenster nach Osten und die Schatten der unterge-henden Sonne verdunkelten es bereits. Hier würde Maitheas leichter einschlafen können.
Tuachalls Plan basierte darauf, dass der Gutsherr eine Verbindung zu Iona Tach hatte, die ihm diese Träume bescher-te. Und jedes Mal, wenn er träumte, tauchte diese Éadon auf und überfiel ihn und Bronwen. Das konnte Zufall sein oder auch nicht. Den einzigen Ansatzpunkt, den sie hatten, waren jedenfalls Maitheas Traumbilder. Jetzt warteten sie darauf, dass er einschlief.
Bronwen half ein wenig nach, in dem sie entsprechende Zau-ber auswarf und sich zu Maitheas ins Bett kuschelte. Tua-chall hielt sich wundervoll zurück - er war in der Dämmerung kaum auszumachen und gab keinen Laut von sich. Trotzdem ver-ging einige Zeit, bis sich Maitheas entspannen konnte. Doch dann war er schlagartig tief eingeschlafen.
"Wie fühlst du dich?" fragte Tuachall flüsternd.
Sie sagte nichts, setzte sich nur im Bett auf und konzen-trierte sich darauf in Maitheas Visionen einzutauchen. Für gewöhnlich bereitete ihr dergleichen keine Schwierigkeiten - es war ein Spiel, das sie schon als Kind gespielt hatte - aber sie hatte Angst, was sie erleben würde. Alpträume waren unangenehm, doch sie blieben Hirngespinste. Was Bronwen nun bevorstand, war jedoch ein Blick in die Vergangenheit. Viel-leicht der Blick auf einen Doppelmord. Und sie durfte die Verbindung nicht einfach aufgeben, wenn es ihr zu viel wur-de. Sie musste dabeibleiben und das Bild an Tuachall über-mitteln. Maitheas' Traumwelt würde eine Weile zu ihrer Rea-lität werden.
Der Kontakt kam so abrupt, als hätte sie einen Hebel umge-legt. Plötzlich stand sie auf einem fremden Heuboden neben Iona und Derth, die sich im hereinfallenden Sonnenschein liebten. Maitheas war nicht hier, aber das verwunderte sie nicht. Manchmal war der Träumer anwesend und dann wieder fehlte er. Bronwen achtete nicht weiter auf die beiden, son-dern blickte suchend herum.
Sie wusste eigentlich nicht, wonach sie suchte. Zumal Traumrealitäten ohnehin eigenen Gesetzen folgten. Es sollte sie nicht wundern, wenn sie aus der Dachluke sah und keine Sonne fand, die das Liebesnest dennoch mit Wärme bedeckte. Nach optischen Eindrücken konnte sie nicht suchen - eher nach einer Empfindung, die hier nicht hergehörte.
Bronwen stieg die Leiter herunter. Von oben rieselte Staub und Heu rhythmisch zwischen den Holzdielen hindurch. Hier unten war alles ruhig. Die Pferdeboxen waren leer. Sie ging zum Scheunentor und stieß es auf. Dahinter war nur Sonnen-licht und ein diffus erscheinender Hofplatz.
‚Öffne die Luke' hörte sie Tuachall sagen. Tatsächlich setzte auf Brusthöhe eine Klappe im Scheunentor an, mit der man Licht hereinlassen konnte, wenn die Torflügel geschlos-sen waren. Bronwen legte den Riegel um und drückte die Luke auf.
Statt der Hofidylle sah man nun in eine schäbige Kammer. Nass und faulig roch die Luft. Darunter mischte sich der Duft von frischem Torf. Die Kammer war vielleicht eine Blockhütte außerhalb des Dorfes, in der Arbeitsgeräte aufbe-wahrt wurden.
Auf dem nackten Boden schlief jemand. Bronwen steckte den Kopf durch die Luke um besser sehen zu können. Es war Éadon. Die Wunde auf ihrer Stirn hatte sich verkrustet, aber darun-ter war sie dick und entzündet. Das Haar der Frau war sträh-nig und verdreckt. Sie hatte anscheinend keinen Gedanken an sich selbst verschwendet.
‚Siehst du sie?' fragte sie Tuachall. Bevor er antworten konnte, schlug Éadon die Augen auf.
‚Verschwinde hier!' schrie sie und stemmte sich vom Liegen hoch. Kauernd fixierte sie Bronwen wie ein Raubtier. ‚Du hast ihn mir schon wieder weggenommen. Und diesmal wagst du dich sogar zu mir, als wärest du im Recht. Weißt du denn nicht, wer ich bin?'
‚Bronwen, komm da weg!'
Sie ignorierte Tuachall. ‚Nein, dass weiß ich nicht. Ich kenne den Namen, den du heute trägst. Aber das sagt mir nicht, wer du gewesen bist.'
Éadon zog ihre Waffen aus dem Gürtel. ‚Diese Klingen habe ich schon früher getragen. Kannst du dich nicht erinnern, wie ich sie benutzt habe?'
Bronwen schüttelte den Kopf. Tuachall rief sie erneut zu-rück. ‚Du meinst nicht deine Überfälle in den letzten Näch-ten, oder?'
‚Das waren nur halbherzige Versuche, etwas anders zu ma-chen als vor vierzig Jahren. Nein, das letzte Mal als ich sie benutzt habe, steckte diese hier', sie hob das Waidmes-ser, ‚bis zum Heft in deiner Brust. Derth.'
‚Ich bin nicht...' Weiter kam sie nicht, denn Éadon stieß sich ab und schnellte wie ein Speer durch die Luft in die Öffnung der Luke.
Bronwen fiel rücklings und stieß sich den Kopf, als sie vom Bett rutschte. Ein Körper lag über ihr. Eine fremde Stimme lachte ihr ins Gesicht. Eine Klinge stach gegen ihr linkes Schultergelenk und schnitt beim Abprallen durch das Fleisch. Den Schmerz nahm Bronwen kaum wahr.
‚Es kann nicht sein! Éadon ist durch Maitheas' Traum hin-durch gesprungen. Wie hat sie das gemacht?'
In ihrer Verwirrung hätte Bronwen den zweiten Dolchstoß nicht überlebt, doch Tuachall trat der blonden Frau in die Seite und fing ihren Arm ab. Er riss sie hoch und warf sie von Bronwen fort. Sofort ging er auf die Attentäterin los, prügelte ihr die Waffen aus den Händen und trat die Messer außer Reichweite. Éadon blutete aus neuen Platzwunden.
Noch immer war Bronwen unbegreiflich, was passiert war. Sie richtete sich auf und presste die Hand auf ihre Verlet-zung. Sie blutete, weil sie aus einem Traum heraus angegrif-fen worden war. Dass Éadon ein Wesen aus Fleisch und Blut war, sah sie. Doch wie konnte sie einen Traum als Brücke zwischen einem Ort der Wirklichkeit und einem anderen benut-zen? Wie konnte das sein?
Maitheas erwachte und hastete panisch durch die Dunkel-heit. "Bronwen? Was ist passiert?"
"Sie ist hier! Sei vorsichtig, Maitheas!" Tuachall hielt sie in Schach, aber sie war so verdächtig ruhig. "Sie ist Farg. Du hast sie damals nicht getötet. Es war genau umge-kehrt. Hörst du, Maitheas? Sie ist Farg und hat damals Iona und Derth ermordet! Dich und mich trifft keine Schuld."
"Unsinn! Ihr seid an allem Schuld!" Éadon kreischte und plötzlich schlugen grelle Lichtbögen aus ihr heraus. Bronwen fühlte sich auf die Beine gehoben. Ihr ganzer Körper krib-belte und alles um sie leuchtete in gelb-grünem Flackern. Ebenso erging es Maitheas und Éadon. Zwischen ihnen spannte sich ein Dreieck aus zuckenden Lichtbahnen. Nur Tuachall blieb unbehelligt. Er hieb und schlug auf die Frau ein, die er zuvor entwaffnete hatte, doch ohne Erfolg. Er zerschmet-terte einen Stuhl an ihr, ohne dass sie es bemerkte. Dann rief er etwas, was Bronwen nicht hören konnte. Die Welt schien auf das mysteriöse Dreieck zusammenzuschrumpfen, das sie gefangen hielt.
"Iona", richtete sich Éadon an Maitheas, "diesmal will ich dir eine Wahl lassen. Ich habe mich verändert. Doch ich er-warte, dass du zu mir zurückkommst. Vergiss Derth oder Bron-wen oder wie immer mein Bruder heute heißt! Komm zu mir, dann wird alles gut."
Bronwen konnte nichts sagen. In ihrem Kopf wiederholte sich ständig ein Gedanke. Mein Bruder/meine Schwester.
"Es geht nicht ohne dich. Beim letzten Mal hat mich meine Wut übermannt und ich habe es bitter bereut. Du warst tot und alle sprachen nur noch von dir und Derth. Von eurer Lie-be. Wie sehr ich dich geliebt habe, hat niemanden interes-siert!"
"Ich... du hast mich getötet", stotterte Maitheas.
"Aus Verzweiflung! Du bist mir verloren gegangen. Nicht einmal tot konnte ich dich haben. Sie haben dich mit Derth begraben müssen und ständig diese dämliche Geschichte er-zählt. Warum habe ich bloß diesen Brief geschrieben? Ich wollte mich vor dem Henker retten, aber so hat es mich mehr gekostet als mein Leben. Du bist nicht einmal meine verstor-bene Frau gewesen - bloß die Liebe meines Bruders. Ich konn-te es schließlich nicht mehr ertragen. Habe die Messer an einem Versteck vergraben und bin dir gefolgt."
"Was bedeutet das?" wollte Maitheas wissen.
"In Derths Schlafzimmer erhängt. Aber das ist in Ordnung. Ich bin ja wieder hier. Bei dir."
Bronwen verstand allmählich, warum Tuachall nichts aus-richten konnte. Zwischen Éadon, Maitheas und ihr spannten sich mehr als weltliche Bande. Sie waren aneinandergeknüpft. Bronwen an Maitheas, weil sie sich geliebt hatten. Ebenso Maitheas und Éadon. Und Bronwen war einmal Fargs Bruder ge-wesen. - Wie lächerlich unwichtig war da die Frage, wie Éa-don herkommen konnte. Was sie alle in diesem Leben zusammen-geführt hatte, war nur zu offensichtlich. Die Welt jenseits von ihnen existierte kaum.
"Und jetzt komm her zu mir, Iona. Bitte!" Die Frau, die einmal ein Doppelmörder gewesen war, streckte die Hand nach Maitheas aus. Mit einem Ruck zog sich das gleißende Dreieck enger zusammen. Die Menschen an den Eckpunkten schwebten durch das Zimmer aufeinander zu.
Bronwen stemmte sich gegen den Sog an. Sie hatte keinen realen Widerstand, konnte sich weder fest halten, noch ir-gendwo abstützen. Sie wollte nur unter keinen Umständen nä-her an Éadon herankommen. Doch gleichzeitig kam sie auch Maitheas näher, der zwischen den beiden Frauen hinundherb-lickte.
"Ich weiß nicht, was ich tun soll..."
Genauso ging es Bronwen. Sie hatte trotzallem Mitleid mit der Frau, die versucht hatte sie zu töten und es schon ein-mal geschafft hatte. Egal wie Maitheas sich entschied, ir-gendjemand würde sterben. Das konnte sie in Éadons Gesicht lesen.
Tuachall sprang am Rande ihres Bewusstseins auf und ab. Er stand geradeaus vor ihr, doch Bronwen konnte sich kaum auf ihn konzentrieren. Alles jenseits der Lichtbarriere versank in Schleiern und Nebel. Er winkte mit beiden Armen, um auf sich aufmerksam zu machen, und Bronwen nickte zum Zeichen, dass sie ihn sehen konnte.
Er klopfte auf einen Kasten oder eine Schatulle in seinem Arm. Ein dickes, klobiges Etwas, das er aufklappte und über den Fußboden in die Mitte des Dreiecks schubste, wo sie ge-fangen war. Das Licht fiel herunter und beleuchtete ein auf-geschlagenes Buch.
Bronwen konnte den Titel lesen. 'Dualismus. Unvereinbare Pole und die Welt zwischen ihnen.' Sie sah auf und begriff, was er ihr mitteilen wollte.
Dem Buch zufolge war die Schöpfung zwischen Extremen auf-gespannt, zwischen Hell und Dunkel, Hitze und Kälte oder auch anderen Gegensätzen. Die Realität spielte sich in den Zwischenräumen ab. Die Wirklichkeit bildete sich aus Nuancen der Extrempole und schmiedete diese untrennbar aneinander. Eines Tages würden die Pole der Welt vom Gewicht der an ih-nen aufgehängten Schöpfung zu einander gesogen. Die Gegen-sätze würden sich ausgleichen und die Welt zugrunde richten.
Bronwen erkannte, dass zwischen Éadon, Maitheas und ihr der gleiche Dualismus herrschte. Die Ereignisse vor vierzig Jahren würden sich wiederholen, wenn sie nichts unternahm.
"Maitheas! Hör mir zu! Du musst eine Wahl treffen und bei-de Möglichkeiten, die Éadon dir gezeigt hat, sind falsch. Sie..." Bronwen bemühte sich das wütende Gebrüll ihrer Wi-dersacherin zu übertönen. "Sie sieht nicht die ganze Wahr-heit. Sie hatte nur ihre gierige Liebe, mit der sie mich oder auch uns beide verbrennen wird. Hörst du, Maitheas? Egal, wie du dich entscheidest, es wird wieder Tote geben."
Unter Éadons Hass wurde der Sog in dem Dreieck stärker. Die Seiten waren keine anderthalb Schritt mehr lang.
"Was soll ich denn tun?"
"Verzichte auf mich! Verzichte auf Éadon oder Farg! Du kannst keinen von uns haben. Solange auch nur ein Band zwi-schen uns dreien besteht, wird es irgendjemandes Untergang!"
"Aber..."
Bronwen musste bereits Schläge abwehren, so nah war sie an die Mörderin herangekommen. Fingernägel kratzten in ihren Arm und ihre Hände.
"Ich werde gleich nicht mehr da sein, Maitheas! Verstehst du, was du tun sollst? Du kannst nur gewinnen, wenn du auf alles verzichtest! Ich liebe dich und will, dass du lebst. - Deswegen muss ich dich verlassen."
Bronwen konzentrierte sich wieder auf Tuachall. Sie bemüh-te sich über Maitheas hinwegzusehen, als Tuachall um das Dreieck herumwanderte. Sie ignorierte auch die Hiebe, die sie von Éadon einstecken musste, und das Reißen an ihrem Haar. Sie blickte bloß in Tuachalls Gesicht, erinnerte sich an die gemeinsamen Erlebnisse. An den Tag, als sie in Skil-len ankamen, an die Reise zuvor, wie sie bei Sommerwind und warmen Regen am Meer entlang ritten. Den Duft eines Kartof-felfeuers bei Sonnenuntergang. Wie sie sich kennen gelernt hatten und sie das erste Mal in das düstere, abweisende Ge-sicht blickte, dass seitdem ihr Leben bestimmt hatte. Jetzt sah er ganz genau so aus. Gelassen, abwartend wie ein Adler. Er reichte ihr die Hand und zog sie daran aus dem Dreieck.
Die Wirklichkeit brach in aller Stille über sie herein. So wenig sie von Tuachall hatte hören können, so wenig drang irgendein Ton von Maitheas Lippen zu ihnen herüber.
Dabei konnte Bronwen ihn um Hilfe rufen sehen. Die Panik in seinen Augen, dass das Dreieck nun zu einer Linie zwi-schen ihm und Éadon geschrumpft war, dass er allein mit sei-nem Schicksal war, schmerzte sie. Doch sie konnte und durfte ihm nicht helfen.
Er versuchte den Abstand zu vergrößern, die ausgestreckten Arme der Frau abzuwehren, die ihn an sich ziehen wollte. Doch er war halbherzig, unschlüssig und ergab sich schließ-lich ihrem Locken. Das gleißende Band flammte auf und hüllte sie ein. Hier verbrannten sie sich gegenseitig wie Schwefel und Salpeter.
-
Das Grab lag keine zwanzig Schritt von Iona und Derth ent-fernt. Bronwen hatte dafür gesorgt, dass man die beiden zu-sammen begrub. Die Gastleute hatten sich gewundert und der Rest des Dorfes nicht weniger, als die Geschichte ihren Lauf genommen hatte. Doch die Hartnäckigkeit, mit der Bronwen darauf bestand, setzte sich durch. Der Entschlossenheit hin-ter Erschöpfung, Verlust und Wundschmerz konnte sich keiner widersetzen.
Nun blickten Tuachall und Bronwen auf den frischen Erdhü-gel herunter. Sie versuchte einen Abschied zu finden, den sie längst hinter sich gebracht hatte. Außer Bedauern emp-fand sie nichts.
"Hoffentlich können Sie beim nächsten Mal einen Weg fin-den, sich zu retten. Ich werde nicht mehr bei ihnen sein. Sie müssen alleine zurecht kommen."
"Wir sind alle mehr als unsere Gegenwart. Er wird sich an dein Beispiel erinnern, wenn die Zeit dafür gekommen ist."
Bronwen legte das Buch, mit dem Tuachall ihr Leben geret-tet hatte, zwischen die Blumengestecke und verließ Skillen an seiner Seite.
Bjørn Jagnow's Dualismus ist ein Prequel zum Fantasy-Roman "Wilde Jagd", erschienen in G.Meyer's Taschenbuchverlag, ISBN 3-934193-22-6. |