Die Wanne
2000-01
(Erzählung¸ Reinhard Wissdorf¸ 1999)
Dann hielt sie prüfend ihren Zeigefinger in das Badewasser. Es war ihr noch zu heiss. Sie nahm den Duschgriff aus seiner Halterung und drehte den Kaltwasserhahn auf. Der scharfe Strahl trieb ein sprudelndes Loch in die glatte Wasserfläche und wirbelte das Badesalz am Boden der Wanne durcheinander. Sie hatte sich heute etwas Luxus gegönnt: andalusische Mandelblüte.
Sie schnupperte und versuchte¸ den Duft des Salzes in sich aufzunehmen. Aber es war wohl schon zu alt. Der penetrante Geruch des Badezimmers nach Kalk und Moder überwog. Vorsichtig setzte sie ihren linken Fuss in die Wanne. Ihre Haut färbte sich sofort hellrot und sie zog das Bein schnell wieder zurück. Dann versuchte sie es von Neuem¸ wobei sie gleichzeitig den kühlenden Strahl der Handdusche gegen Ihr Bein hielt. Langsam zog sie den rechten Fuss nach.
Schliesslich lag sie bis zum Hals in dem heissen Wasser und genoss es¸ wie die Wärme langsam den Schweiss aus ihren Poren trieb. Sie schloss die Augen und lauschte.
Sie hörte das Tropfen des undichten Wasserhahnes. Bip.Bip.Bip.
Das Geräusch machte sie schläfrig.
Sie bemerkte das Rasseln ihres Atems und das unregelmässige Klopfen ihres Herzens. Das wiederum¸ beunruhigte sie.
Sie schlug die Augen auf und betrachtete sich ihren Körper. Er war nicht mehr jung. Die roten Pusteln auf ihrem Bauch hatte sie gestern zum erstenmal bemerkt. War das ein Zeichen? An ihrem Schamhaar hatten sich unzählige¸ winzige Luftbläschen festgesetzt¸ als sie in die Wanne gestiegen war. Der Anblick erinnerte sie an etwas. An moderndes Unterholz in klaren Seen. Sie lächelte bei dieser Vorstellung. Du bist wie ein Haufen moderndes Unterholz in einem See¸ dachte sie. Sie hob ihren Körper ein wenig aus dem Wasser heraus. Nur soviel¸ dass ihr Becken herausschaute.
Es knisterte¸ als sich die Bläschen an der Luft auflösten. Als sie sich dann wieder herabsinken liess¸ sah ihr Haar völlig normal aus. Bis auf die kahle Stelle.
Angewidert wandte sie den Blick ab und starrte an die gekachelte Wand. Der heisse Dampf hatte sich als matte Schicht auf ihrer wasserabweisenden Oberfläche niedergeschlagen.
Sie streckte den Arm aus und malte Buchstaben auf die Kacheln: P-A-U-L. Er hatte es nicht mehr geschafft.
Sicher lag er jetzt bei den Tausend anderen. Bei den Abertausenden¸ Millionen.
Langsam wurde ihr das Bad zu heiss. Sie angelte nach dem Badetuch und richtete sich auf. Die Berührung mit dem rauhen Handtuch tat ihr weh. Es fühlte sich an wie Sandpapier auf einer Schürfwunde.
Sie stieg aus der Wanne. Das Wasser tropfte von ihrem Körper und floss in Rinnsalen über den Steinfussboden. Der Fussboden war kalt.
Sie trocknete sich vollständig ab und zog sich dann den Bademantel über. Sie kämmte ihr Haar und vermied dabei¸ in den Spiegel zu schauen. Sie wollte nicht mitansehen¸ wie die kahlen Stellen grösser wurden.
Ein Schwächeanfall zwang sie auf die Knie. Sie hustete. Nein¸ sie würde nicht ins Krankenhaus gehen. Es hatte ohnehin keinen Zweck.
Wo war Paul? Hatte er nicht versprochen¸ zum Abendessen da zu sein? Das war vor drei Tagen.
Sie verliess das Badezimmer. Durch die geborstenen Fensterscheiben im Flur heulte der Windd und wirbelte Staub auf. Sie fröstelte und zog sich den Mantel enger um den Leib. Unter ihren Fusssohlen knirschte verbranntes Linoleum. Ihr Blick fiel auf die Überreste der Wohnzimmereinrichtung. Sie war fast neu gewesen. Jetzt lag das Sofa als formloser¸ schwarzer Klumpen in einer Ecke. Ein grotesker Anblick.
Sie sah durch das zerbrochene Fenster auf die ehemalige Stadt hinab. Unter einem anthrazitfarbenen Himmel tanzten Ascheflocken umher. Fettiger Russ drang in alle Ritzen der zerstörten Gemäuer und bildete Schlieren auf geschmolzenem Glas. Eine unheimliche Stille lastete auf Allem¸ als wäre die Welt in Watte gehüllt.
Nichts in ihrer Wohnung war heil geblieben. Bis auf das Badezimmer. Wie durch ein Wunder.
Sie machte kehrt und ging in das Badezimmer zurück. Das Wasser in der Wanne war noch warm. Wie lange würde sie noch heisses Wasser haben? Sie streifte den Bademantel ab und liess sich wieder in die Wanne gleiten. Sie legte den Kopf zurück und träumte.
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