Das Piratenleben
von Joachim Schmidt und Ulf Straßburger
Gott gebe, daß der Teufel euch
vor eurem Ende so quält,
wie ihr es mit mir getan habt.
Sterbender Knecht zu einem Pflanzer
Als die ersten nichtspanischen Europäer Westindien erreichten, war dieser Kulturkreis schon unwiederbringlich verändert. Die Spanier hatten systematisch alle eingeborenen Indianervölker unterdrückt, ausgebeutet und zur Arbeit in Goldminen und auf Plantagen versklavt.
Da aber weiterhin ein großer Bedarf an Arbeitskräften vorhanden war, wurden schwarzafrikanische Männer, Frauen und Kinder gefangen und als Sklaven in die Karibik und für das amerikanische Festland verschifft.
Um 1530 tauchten die ersten französischen Hugenotten in diesen Gewässern auf, und es folgten Menschen aus dem durch spanische Truppen besetzten Holland, aus dem durch Armut und religiösen wie politischen Wirren gebeutelten englischen Königreich sowie Glücksritter und Vertriebene aus anderen europäischen Nationen.
Obwohl Spanien alle Ländereien für sich beanspruchte, boten sich doch genug Schlupfwinkel auf wieder verlassenen Inseln, die für Spanien keinen wirtschaftlichen Anreiz mehr boten. Siedler, Jäger, Freibeuter und Halunken zog es in diese Gegend. Manche versuchten, ein neues Leben aufzubauen, andere lockte nur der Reichtum der spanischen Besetzungen, um ihren Teil davon abzubekommen.
Die Küstenbruderschaft
Die Inseln Jamaika, Kuba, Puerto Rico und Hispaniola wurden zu den ersten und wichtigsten Plätzen, wo sich Siedler, Jäger und Glücksritter niederlassen konnten. Später entwickelte sich Tortuga, nur eine Segelstunde von Hispaniola entfernt, zu einem der am meisten gefürchteten Verbrechernester der Welt. Auf den von spanischen Einflüssen entfernt gelegenen Inseln sammelten sich auch die Brüder der Küste, deren Mitglieder Bukaniere genannt wurden.
Die ersten Bukaniere waren heimatvertriebene, rauhe Gesellen, die mit der normalen Zivilisation gebrochen hatten und sich in der Neuen Welt niederließen. Sie gründeten eine harte Männergesellschaft mit neuen Regeln, denen sich jeder Bruder zu unterwerfen hatte.
Jeder, der Bukanier werden wollte, unterschrieb ihren Vertrag, Chasse Partie genannt.
Ihrem Verständnis nach war jeder dieser Gruppe gleichwertig und gleichberechtigt. Sie erwirtschafteten alles für die Gemeinschaft, der ein von allen gewähltes Oberhaupt vorstand. Der Besitz war Eigentum aller. Bevor es zur Verteilung der Beute und Güter ging, mußte jeder schwören, nichts zurückbehalten zu haben - und ein Meineid hatte normalerweise tödliche Konsequenzen.
Bukaniere waren untereinander loyal bis in den Tod - anders als bei den späteren Piraten.
Das spanische Militär versuchte einige Male, die Eindringlinge zu vertreiben, indem sie ihre Häuser zerstörten und sie auszuhungern versuchten. Über kurz oder lang gaben sie jedoch auf, falls ihre Angriffe nicht sowieso schon blutig zurückgeschlagen wurden.
1629, als der Druck der Spanier zu stark wurde, zogen sich die Männer unter dem Gouverneur Le Vasseur von Hispaniola zurück und siedelten auf Tortuga, daß sie bis auf kurze Zwischenfälle gegen den Feind halten konnten.
Jäger und Pflanzer
Einige der Bukaniere gingen in kleinen Gruppen auf die Jagd nach wilden oder verwilderten Tieren, um das Fleisch auf Indianerart über dem Boucan-Feuer haltbar zu machen. Fleisch und Tierfelle verkauften sie an vorbeisegelnde Seeräuber und spanische Händler, die froh über eine Möglichkeit waren, brauchbaren Proviant zu bekommen.
Andere rodeten Waldstücke und begannen, Felder zu bestellen. Die Ernte diente zum einen für die Existenzsicherung der Küstenbrüder, zum anderen als weiteres Handels- und Tauschgut mit den Seefahrern.
Knechte und Sklaven
Unter Jägern und Pflanzern war es mitunter üblich, daß sie einerseits Knechte aufnahmen, die sich für einige Jahre verdingten, andererseits auch Sklaven hielten.
Die Knechte kamen insofern freiwillig, als daß sie von den bekannten europäischen Konflikten in die Karibik getrieben wurden und nicht wußten, was sie hier erwartete.
Ihr Leben war oft härter als das der Sklaven, da sie für die Zeit der Verpflichtung ihrem Herren gehörten und in diesen Jahren stärker geknechtet wurden - schließlich hatten diese nichts mehr von den Knechten, wenn diese nach ihrer Zeit weggingen. Manche wurden dazu gebracht, darum zu bitten, zu einem anderen Pflanzer zu kommen. Ihr alter Herr bekam eine Auslösung bezahlt, die der Knecht dann wieder über Jahre abarbeiten mußte.
Die Sklaven blieben ihr Leben lang billige Arbeitskräfte. Ihr Tod war ein wirtschaftlicher Verlust, so daß sie zwar auch der Willkür des jeweiligen Besitzers ausgesetzt waren, aber auch ihren Wert hatten.
Durch Armut und Verschuldung konnte jeder in die Sklaverei verkauft werden.
Freibeuter und Piraten
Mit der Zeit, als karge Ernten und dürftige Jagden kaum das Lebensnotwendige einbrachten, als der spanische Druck und Handelsbeschränkungen anderer Länder immer stärker wurden, gingen die ersten Pflanzer und Bukaniere auf Boote und kleine Schiffe, um mit Überfällen auf spanische Siedlungen oder den Schiffsverkehr ihre Geldbörse aufzubessern. Besonders ihre frühere Heimat Hispaniola war ein beliebtes, nahegelegenes Ziel. Sie nannten sich nun auch Flibustiers - dem englischen Freebooters nachempfunden.
Die Bukaniere wurden später sogar von englischen Freibeutern wie Drake oder Morgan regelrecht für größere Raubzüge angeworben, um die Kampfkraft gegen die spanischen Besetzungen zu erhöhen.
Dadurch, daß immer mehr europäische Nationen Stützpunkte und Handelsniederlassungen gründeten und Siedler ansäßig wurden, ging der Bruderschaft mit ihrem Kodex und der in sich geschlossenen Gemeinschaft die Existenzgrundlage und auch ein wenig ihre Daseinsberechtigung verloren.
Trotzdem bildete die Küstenbruderschaft das Vorbild für die normalen Piratenmannschaften - viele Regeln und Gesetze wurden übernommen. Sie waren für die Zeit des 17. Jahrhunderts, trotz aller Grausamkeiten, innovativ und fanden in Europa erst in der französischen Revolution ähnliche, in die Tat umgesetzte Strukturen eines neuen Verständnisses von Gleichheit und Machtverteilung...
Die Piratengemeinschaft
In einer Piratengemeinschaft waren die Arbeiten und Positionen an Bord des Schiffes ebenso verteilt wie im zivilen oder militärischen Leben.
Obwohl auf den Piratenschiffen für entsprechende Jobs dieselben Titel wie beispielsweise Kapitän und Bootsmann verwendet wurden, war dies jedoch im Gegensatz zur christlichen Seefahrt eine selbstbestimmte und widerrufbare Hierarchie.
Es war alltäglich, daß die gesamte Mannschaft über ein Ziel oder eine Aktion abstimmte, die Mehrheit der Piraten eine herausragende Stellung einem Fähigen und Mutigen zu- oder einem Erfolglosen und Unfähigen absprach. So konnte es vorkommen, daß sich innerhalb weniger Monate mehrere Männer erfolgslos als Kapitän versuchten.
Auch die Würfel und andere unbestechliche Proben wurden zur Abstimmung oder im Wettstreit verwendet, um eine Entscheidung herbeizuführen.
Prinzipiell waren alle Männer gleichberechtigt, und allen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, stand am Ende einer Fahrt der gleiche Anteil zu. Verantwortungsvolle Posten wurden etwas besser bezahlt und im Enterkampf Verletzte wurden, wenn sie es überlebten, zusätzlich mit einer Art Verkrüppeltenzulage beteiligt.
Später Angeheuerte bekamen ihre Auszahlung natürlich nur anteilig.
Es gab also, im Gegensatz zu den Freibeutern, keine prinzipiellen Unterschiede durch Hierarchie.
Der Kapitän
Die Führung des Schiffes im Gefecht war die vordringlichste Aufgabe, für die die Piratengemeinschaft einen Mann wählte. Dieser sollte der Mannschaft möglichst großes Selbstvertrauen geben, verwegen sein - pistolenfest genannt - und außerdem nach Möglichkeit noch ein fähiger Seemann.
Im Gefecht, und nur dort, hatte er eine uneingeschränkte Befehlsgewalt, der wie in der sonstigen Seefahrt unbedingt zu gehorchen war. Ansonsten war er allen anderen Piraten gleichgestellt.
Ihm stand die Kapitänskajüte zu, dort konnte aber jeder einfache Pirat ungefragt hereinplatzen und die Kammer mitbenutzen.
Der Kapitän erhielt meistens zwei Anteile von der Beute.
Die Mutter der Mannschaft
Der Quatermeister verwaltete das Geld und war Vertrauensperson und Sprachrohr der Mannschaft. Er wurde als zweite wichtige Instanz dem Kapitän zur Seite gewählt. Er enterte zuerst eine Prise, organisierte das Soldbuch (in dem die auszuzahlenden Anteile jedes Einzelnen sowie Zeitraum der Zu- und Abgänge in der Mannschaft vermerkt waren) und führte Abstimmungen und Versteigerungen vor dem Mast durch. Auch leitete er Gerichtsverhandlungen und durfte als einziger von der Mannschaft beschlossene Strafen durchführen.
Der Quatermeister verdiente sich meistens anderhalb bis zwei Anteile.
Die Spezialisten
Wie auch auf zivilen und militärischen Schiffen gab es bei den Piraten verschiedene hervorzuhebende Positionen, die sich z.T. besonders bezahlt machten. Dazu gehörten Bootsmann, Geschützmeister, Segelmacher, Zimmermann (meistens gleichzeitig der Wundarzt), Mitglieder des Piratenorchesters und der Leutnant. Diese Posten wurden von Kapitän und Quatermeister vergeben oder von der kompletten Mannschaft bestimmt. Jeder konnte sich dann zur Wahl stellen und es wurde abgestimmt.
Der Leutnant war im Gefecht der Nachfolger des Kapitänes, falls dieser das Kommando wegen Kampfunfähigkeit nicht mehr führen konnte. Dieser Job hatte aber keine weiteren Vorteile.
Das Piratenorchester hatte die verantwortungsvolle Aufgabe, für Stimmung an Bord zu sorgen und im Kampf die Gegner mit einem Heidenlärm zu verschrecken und zu demoralisieren. Die Mitglieder der Kapelle waren vom Kampf ausgenommen, mußten dafür aber immer für Amusement sorgen, auch wenn nur einer an Bord diesen Wunsch hatte. Ein Musiker und die Spezialisten (außer dem Leutnant) wurden in der Regel mit 1¼ Anteilen an der Beute beteiligt, Bootsmann und Geschützmeister sogar mit 1½.
Die Mannschaft
Alle Arbeiten an Bord wurden gemeinsam ausgeführt. Anker lichten, Segel setzen und Reparaturen wurden von den Spezialisten angeleitet, aber zusammen ausgeführt. Andererseits wurden Arbeiten, die nicht unbedingt zur Erhaltung der Kampfkraft notwendig waren, gerne liegengelassen.
Lieber trank man Rum und vertrieb sich die Zeit mit Karten- und Würfelspielen, Schießenübungen oder Wetten.
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Die Piratenakte
Grundlage des Lebens an Bord waren die in der Piratenakte niedergeschriebenen Rechte und Pflichten, denen sich jeder damit unterwarf, daß er unter sie sein Zeichen machte und über der Heiligen Schrift oder dem Entermesser einen Schwur leistete.
Meistens waren in der Piratenakte folgende Punkte geregelt:
I.Jeder an Bord hat die gleichen Rechte und erhält einen gleichen Anteil an Proviant und Alkohol.
Jeder erhält anteilig Geld, abhängig von der Zeit, die er an Bord war. Spezialisten erhalten zusätzliche Anteile.
Bei Abstimmungen zählt jede Stimme gleich.
I.Im Kampf hat der Kapitän uneingeschränkte Befugnisse. Müden Kampfgeist oder Ungehorsam kann er sofort mit dem Tode ahnden.
Jeder Mann muß seine Waffen gefechtsbereit halten.
I.Jeder bleibt mindestens solange Mitglied der Gemeinschaft, bis jeder einen Anteil von 1000 Pfund hat. Danach ist es ihm freigestellt, von Bord zu gehen.
Wer im Kampf verwundet wird, erhält als Ausgleich einen angemessenen Betrag aus der gemeinschaftlichen Kasse. Für den Verlust eines Auges oder eines Beines sind 600 Pfund angemessen, für den Verlust einer Hand 400 Pfund.
I.Offenes Feuer nach Sonnenuntergang und Alkohol unter Deck sind bei Todesstrafe verboten. Wer nachts weitertrinken will, muß dieses in der Dunkelheit an Deck tun.
II. An Bord ist der intime Umgang mit Frauen und Jungen bei Todesstrafe verboten. Wer eine Liebschaft an Bord schmuggelt, wird mit dieser über Bord geworfen.
III. Wer einen anderen an Bord betrügt oder bestielt, wird aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Die Gemeinschaft beschließt das Urteil über den Täter.
IV. Streitigkeiten an Bord sind verboten. Bei Meinungsverschiedenheiten können diese bei einem Landgang mit Fäusten, Pistolen oder Säbeln ausgetragen werden.
Wer ein Mitglied der Gemeinschaft an Bord mit der Waffe verletzt, wird mit dem Tode oder mit Aussetzen bestraft.
I.Die Musiker dürfen nur mit Erlaubnis der Mannschaften oder am heiligen Sonntag ruhen.
Einige verboten auch Glücksspiele mit Geldeinsatz, regelten, daß einem ehrvollen Gegner Pardon zu gewähren sei oder nannten besondere Vorteile für das erste Sichten einer Prise.
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