Der Löwenzug
von Dirk Friedrichs
Von Dirk Friedrichs
Der Löwenzug, wie er von den Priestern und Bauern gleichermaßen gerufen wurde, war für das Königreich Shovel das einschneidendste Erlebnis der jüngsten Vergangenheit. Keiner konnte vorher die Ausmaße absehen, die dieses Ereignis mit sich ziehen würde, und als die Ketten des Löwen erst einmal befreit waren, vermochte sie ihm keiner mehr anzulegen.
Alles begann vor einem Jahr in den Grenzlanden Shovels, in welches Priester Solamûrs ausgesandt wurden: die Vorhut des neuen Kultes, dessen Ziel es war, eines Tages alle Inselbewohner zu seinen Gläubigen zu zählen. Es waren mutige Wanderprediger und gelehrte Leute, welche ein Leben lang gegen die dunklen, ungläubigen Seelen kämpften, um sie für das Licht ihres Gottes zu gewinnen. Nicht selten dauerte es Jahre, bis sich die anfängliche Abneigung eines Landstriches gelegt hatte und die Priester mit Wort und Tat von ihrer Mission überzeugen konnten.
Doch soweit sollte es in den Grenzlanden nicht kommen: Eines Tages brachen zwölf Prediger beim ersten Licht der Sonne von der Nordwacht auf, um ihre ausgewählten Dörfer aufzusuchen, alle Warnungen des Hauptmannes Scofolk der Nordwacht in den Wind schlagend.
Mikas, der Priester
Angeführt wurden diese Gläubigen Solamûrs vom Ehrenwerten Mikas, welcher schon bei der Bekehrung einiger Skanten beträchtliche Erfolge verbuchen konnte. Er hatte sich damals allein in das Skantenland gewagt, und als er eines Abends auf die Reiter unter Khan Zofog stieß, welche säbelrasselnd auf ihn zustürzten, sah er sich schon am Ende seines Lebensweges angelangt, da kam ihm die rettende Idee.
Da er wußte, wie sehr das Skantenvolk Zauberei verachtete, entschied er sich, stolz stehenzubleiben und fing an, die wilden Reiterhorden kräftig auszulachen. Dieses erstaunte die Skanten so sehr, daß der Schamane hervorkam und sich diesen Menschen genauer ansah. Verrückt sei er, war seine einfache Erklärung, mit der sich sein Khan allerdings nicht zufrieden gab. Er stieg ab und stellte dem Fremden eine Frage: Sag mir, wieso lachst du uns aus? Weist du nicht, wer ich bin?
Mikas beherrschte Ugguri, die Sprache der Skanten, und gab zur Antwort: Ich weiß, wer ihr seid, Khan Zofog, und um euch zu erklären, warum ich lache, möchte ich euch eine Frage stellen, wenn ihr erlaubt: Durch was erhält ein König den Respekt von seinem Volk?
Zofog stutzte erneut über diesen Mut und erwiderte: Weil ihr Leben in seiner Hand liegt.
Ein Meuchelmörder hat auch mein Leben in seiner Hand, doch ihn verachte ich, nicht jedoch den König. Es muß noch mehr sein...
Zofog gefiel langsam dieses Rätselspiel, zumal er glaubte, daß mit dem König er gemeint war. An sich herunterblickend führte er fort: Er muß auch von stolzer Natur ein, ein Mann mit Ehre, den jeder respektiert und dem jeder sein Leben geben würde. Bei den letzten Worten schaute er sich unter seinen Kriegern um, ob sie seinen Worten auch genau gefolgt waren.
Da sprecht ihr wahr. Es ist der Respekt vor seinem Herrscher, welches das Volk in die Knie zwingt, nicht seine Macht über Leben und Tod. Genau dies führt mich zu euch: Ich komme, um euch zu sagen, daß die Welt jenseits eurer Steppenländer nur noch Spott für den Khan und seine Reiter über hat.
Was sagt ihr? Zofog hatte schon seinen Krummsäbel gezückt und hielt ihn drohend über dem Priester Solamûrs. Warum achten sie meine Skanten nicht?
Sie achten euch deshalb nicht, weil euer Säbel nur bis zu meinem Kopf reicht, niemals jedoch alle Menschen aller Königreiche bedrohen kann. Und das einzige, was die Menschen über euch Skanten wissen, ist, daß der Säbel ihre einzige Sprache ist.
Zofog konnte seinen Zorn nur mühsam zurückhalten: Euer König ist nicht anders. Das Schwert ist seine einzige Sprache, und wer nicht gehorcht, der stirbt.
Oh nein, Khan Zofog, da irrt ihr euch. Alle Untertanen verehren ihren König auf das höchste, da in ihm ein Teil von Solamûr lebt, des höchsten Gottes unter den Menschen. Alle Könige dieser Welt sind von Geburt an gesegnet von Solamûr, und wer ihm Treue schwört, den läßt er stark und mächtig auf seinem Thron werden. Und alle Untertanen gehen in die Knie vor den Gesegneten Solamûrs, alle Welt verehrt sie und preist ihre Namen. Wollt ihr auch so gepriesen werden und soll euer Name von Küste zu Küste mit Ruhm und Ehre in Verbindung gebracht werden? Wollt ihr das...?
Von diesem Tage an huldigte ein Stamm der Skanten Solamûr, natürlich ohne den Geistern und anderem Schamanismus abzuschwören, doch dies von den Skanten zu erzwingen, überließ Mikas schlauerweise späteren Priestern und Ordenskriegern.
Zurück in Cal, erhielt Mikas von Ras Thevis, dem obersten Hohepriester Solamûrs, die Weihe des Ehrenwerten Priesters, welcher sich vor seinem Gott mit besonderen Taten hervorgetan hat; und damit genoß Mikas großes Ansehen im Königreich (im Gegensatz zu den Skanten). So hielt er eines Tages die Zeit für gekommen, erneut auf eine Bekehrungsmission auszuziehen, diesmal in die Grenzlande von Shovel...
Die Ermordung Mikas
Seneirl war das erste Dorf in der Nähe der Nordwacht, und es zeigte zunächst ähnliche Anzeichen der Ablehnung wie damals die Skanten, doch bestärkt von Mikas Ruhm traten die Wanderprediger mutig unter die Bewohner der Siedlung. Mikas hatte gerade begonnen, sein Wort zu erheben, da sprang eine junge Frau vor ihn und beschimpfte Mikas, daß die Krieger seines Gottes sie einst unter dem Vorwand des Ritualmordes an einem Kind aus ihrem Heimatdorf gejagt hätten, nicht ohne sie vorher noch zu schwängern. Mit diesem kleinen Kind auf dem Arm wandte sie sich darauf an die Dorfgemeinschaft, welche ihr Leid kannte. Schnell waren Dreschflegel und Heugabeln zur Hand und die Priester umzingelt.
Die Situation war kurz vor dem Eskalieren, da besann sich Mikas auf seinen alten Trick, denn er merkte, daß er mit Worten nicht mehr weiter kam: er fing an, lauthals zu lachen! Doch weit kam er nicht, da hatte die junge Mutter schon ein Messer gezückt und es in seinen Hals gerammt. Aus dem Lachen wurde ein Röcheln, bis Mikas sehr zum Entsetzen seiner Mitbrüder in den Matsch fiel und sein Leben aushauchte. Keiner von ihnen überlebte das anschließende Massaker, an dem fast das ganze Dorf beteiligt war. Und damit war der Grundstein für den Löwenzug im folgenden Jahr gelegt.
Hauptmann Scofolk konnte nicht umhin, sich nach einigen Wochen nach dem Verbleib der Wanderprediger zu erkundigen, und so kam er auch in das Dorf Seneirl. Obwohl dessen Bewohner die Spuren ihrer Bluttat längst verwischt hatten, las Scofolk in den Mienen der Bauern, daß Mikas hier bekannter war als vorgegeben. Er schnappte sich einen, von dem er wußte, daß er ihn zum Reden kriegen würde, und erfuhr somit die ganze Tragödie. Obwohl er alles andere als ein eifriger Anhänger Solamûrs war und wußte, daß seine Untertanen nicht anders dachten, ahnte er den Ärger, den dieses Massaker heraufbeschwören würde. So rief er alle Einwohner Seneirls herbei, trat vor sie und erklärte ihnen, daß für ihn dieser Vorfall niemals passiert sei. Er werde erklären, daß Mikas hier durchgereist sei und Gerüchten zufolge zu weit nach Norden gezogen wäre. Dort wurde er mit seinem Gefolge dann Opfer eines Überfalls von Barbaren. Falls je in Seneirl Fragen über Mikas gestellt werden würden, so sei diese Geschichte die einzige Antwort. Sprachs, wendete sein Pferd und ritt zurück zur Nordwacht.
Zeltans Ermittlungen
Kaum angekommen, ließ er einen Brief mit ähnlichem Inhalt aufsetzen, und hieße der verschwundene Priester nicht Mikas und trüge nicht den Titel eines Ehrenwerten Priesters, hätte man das Schicksal dieser Prediger wohl auf sich beruhen und in der Geschichte versinken lassen.
Doch als Cantlion Unbar, seines Zeichens Hohepriester Solamûrs zu Shovel, diesen Brief las, wußte er, daß er nun Ordenskrieger und Priester ausschicken mußte, um den Leichnam Mikas ausfindig zu machen. Die sterblichen Überreste mußten geborgen und nach Cal zum Hohetempel überführt werden, da es ein Sakrileg in den Gesetzen seines Gottes war, einen Ehrenwerten Priester auf unheiligem Boden zu bestatten.
So erreichte ein halbes Jahr nach Mikas Ermordung ein Dutzend Ordenskrieger unter Priester Zeltan die Nordwacht. Zeltan wurde von Cantlion Unbar ausgewählt, weil er schon einige Erfahrung mit den Ungläubigen Shovels besaß und bei einer heiligen Mission wie dieser vor keiner weltlichen Gefahr zurückschreckte.
Hauptmann Scofolk standen Schweißperlen auf der Stirn, als er Fragen zu Mikas Schicksal beantworten mußte, und als Zeltan ihn nach seiner eigenen Gläubigkeit fragte und Scofolk noch einige Fehler bei seinen auswendig gelernten Glaubensregeln unterliefen, wußte der Priester, daß er hier keinesfalls einen Verbündeten vor sich sitzen sah.
Seine Spur führte ihn recht schnell in das Dorf Seneirl, welches der letzte Ort war, wo Mikas gesehen wurde. Die Antipathie der Bewohner gegenüber seinem Glauben spürte er sofort, was in diesen Regionen noch nichts ungewöhnliches war, nur waren diese Bauern zu erpicht darauf, ihn unbedingt davon überzeugen zu wollen, daß Mikas sofort weiter nach Norden gezogen war. Auf seinen Bekehrungsversuch angesprochen, meinten die Bauern nur, daß Mikas zuerst weiterziehen wollte, um auf seiner Rückreise Solamûrs Wort zu verkünden. Spätestens hier wurde Zeltan mißtrauisch, da ein Priester immer zuerst das erste Dorf auf seiner Reise zu bekehren versucht, um Führer und Fürsprecher für weitere Dörfer zu gewinnen.
Zeltan reiste darauf scheinbar nach Norden, nur um von seinen Ordenskriegern des Nachts eine Mutter mit Kind gefangennehmen zu lassen. Mit dem Messer an der Gurgel des Kindes wurden der Bauersfrau alle Einzelheiten über die Ermordung der Prediger entlockt, bis hin zu den Worten Scofolks, daß er die Tat verheimlichen werde. Zeltan ließ sich darauf die Stelle zeigen, wo Mikas mit seinen Getreuen verbrannt wurde, und fand dessen besonderes Glaubensamulett, welches ihm damals vom Hohepriester zu Cal verliehen wurde.
Der Aufruf zum Löwenzug
Als Zeltan in Shovel seinen Bericht vortrug, war das Entsetzen in Cantlion Unbars Augen groß. Der alte Hohepriester sah sich nun von einer Verschwörung umgeben, in welche selbst die Anführer und der Adel mit eingebunden war. Nur so war zu erklären, warum die Bekehrung zum Solamûr-Glauben schon viele Jahre in Anspruch nahm, und die Ermordung Mikas war der beste Beweis. Vielleicht wußte sogar der König von der Tat und hieß sie insgeheim gut. Von diesen für den Orden katastrophalen Gedanken erfüllt, schrieb Cantlion Unbar an den höchsten Priester Solamûrs, den Hohepriester zu Cal, einen Brief, in dem er ihn inbrünstig um tatkräftige Hilfe bat.
Sprecher Solamûrs auf Caedwyn, Ras Thevis der Erhabene, erhielt den Brief und faßte einen Entschluß. Er wartete bis zum Geburtstag König Odelfins, zu dem sich alle höchsten Adligen des Königreiches seit eh und je einfanden, welche im Gegensatz zum König immer noch in Solamûr ihren höchsten Gott sahen. Ras Thevis der Erhabene hielt vor allen Gästen im Palast eine Rede, mit soviel Elan und Inbrunst vorgetragen, daß sich ihr kaum einer entziehen konnte - und er sprach von Shovel. Er fragte, wie es denn möglich sein kann, daß ein Nachbar des Königreiches den Namen Solamûrs öffentlich verspotten, seine Tempel zerstören und heilige Männer wie Mikas töten könne, ohne daß etwas unternommen werde. Die Ermordung Mikas war für alle Anwesenden neu und die Empörung dementsprechend. Ras Thevis schilderte alle Untaten, welche sich in den vergangenen Jahren in Shovel ereignet hatten, freilich aus etwas einseitiger Sicht, um am Ende seiner Rede allesamt zu fragen, ob ihre Untätigkeit wirklich Solamûrs Wille sein könne. Selbst die Ungläubigsten des Adels empörten sich, da sie in diesen Übergriffen auch ihre eigene Stellung angetastet sahen. Was würde passieren, wenn diese Bewegung nach Cal übergreift und die Untertanen den Glauben an das Recht verlieren, daß es der Wille der Götter ist, daß sie vom Adel beherrscht werden...
Auch König Odelfins Rede, daß dies eine Angelegenheit von Duncan III., dem König Shovels sei, und er alles versuchen werde, um dem Solamûr-Kult zu helfen, konnte die Gemüter nicht beruhigen, zu glaubwürdig schien der Bericht aus den Grenzlanden Shovels.
Die Gläubigsten der Adelsleute traten schließlich entschlossen hervor und schworen, ihr Schwert zu ziehen und gegen die Feinde Solamûrs ins Feld zu führen, bis auch die letzte Bastion des Unglaubens besiegt sei. Ras Thevis der Erhabene hatte sein Ziel erreicht, sein Glauben trug gegen den aufkommenden Templerglauben in Cal einen erneuten Sieg davon und auf den König fiel ein dunkles Licht, da sein Schwert in der Scheide blieb.
So segnete er nicht nur einen jeden Adligen, der an diesem Löwenzug teilnahm, er befahl auch seinen Priestern, auf die Straßen zu gehen, um vom Löwenzug zu künden oder zur Pilgerfahrt nach Shovel aufzurufen, um Tränen in der Kapelle des Mikas zu vergießen (diese war von Cantlion Unbar errichtet worden: Sie wurde durch eine Statue von Mikas geschmückt, an deren Hals das aufgefundene Glaubensamulett hing). Anfangs war dies nur als weiterer Schachzug von Ras Thevis geplant, die Macht des Solamûr-Glaubens in der Bevölkerung zu stärken, doch das Ergebnis seiner Verkündigungen überraschte selbst ihn: eine Empörungswelle ging durch alle Einwohner Cals und verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf den Märkten und großen Handelsstraßen. Nach wenigen Wochen wußte jedermann im Königreich von den Worten des Hohepriesters und dem Willen einiger Adliger, bewaffnet nach Shovel zu ziehen. Längst waren neue Geschichten zu dem Märtyrertod Mikas hinzugekommen, welche an den ungläubigen Bewohnern Shovels kein gutes Haar ließen - jeder wußte ein neues Gerücht zu erzählen, angefangen von Kindesentführungen über Brunnenvergiftungen bis zum Verbreiten schlimmer Krankheiten.
Vom Auszug der Gläubigen
Da die Laienpriester allen Teilnehmern des Löwenzuges Solamûrs ewige Segnung versprachen, nahmen ganze Scharen von Bauern und einfachen Leuten, welche oft ohne Arbeit waren und sich ein besseres Leben im eroberten Shovel versprachen, ihre Waffen zur Hand und zogen mit Frau und Kindern gen Moisen. Von dort, so besagten die neuesten Gerüchte, werden bald Schiffe zur Insel übersetzen.
Der Teil des Adels hingegen, der feierlich in des Königs Palast seinen Schwur geleistet hatte, fing an, Söldner anzuwerben und kleine Streitheere aufzustellen. Bei den einen waren es hauptsächlich religiöse Gefühle, welche sie zu dem Schwur bewogen hatten, während andere in dem Löwenzug ein profitables Geschäft sahen, da sie sich zu Herren der neu eroberten Gebiete im Grenzland Shovels ausrufen und sich unter das Banner des shovelischen Königs stellen würden. So waren es gerade Adlige von niederem Status, welche den Schwur ablegten, während fast alle Mitglieder des calschen Hochadels Abstand vom Löwenzug nahmen. Sie versuchten sogar vehement, die Bauern davon abzuhalten, ihre Lehnsgebiete zu verlassen und die Äcker unbewirtschaftet zurückzulassen, doch meist ohne Erfolg.
So erlebte Moisen mit der Ankunft der Löwenkrieger, wie sie sich selbst nannten, Tage des Chaos und des Glaubenseifers, welchen der Herzog von Moisen kaum Herr werden konnte. Inzwischen hatte Ras Thevis den König gebeten, seinen Löwenkriegern die königliche Flotte zur Überfahrt zur Verfügung zu stellen, und als dieser ablehnte, Verhandlungen mit der Händlergilde aufgenommen. Die Kauffahrer wurden schließlich weniger mit gläubigen Worten, sondern vielmehr mit barer Münze überzeugt, ihre Schiffe dem Löwenzug anzuvertrauen. So segelte im Frühjahr diesen Jahres [welches Jahr?] die erste Flotte gen Shovel, um mit ihren Kriegern in ein Königreich einzufallen, was nicht das ihre war, und um das Recht selbst in die Hand zu nehmen.
Die adligen Löwenkrieger zogen es vor, zu warten, bis diese schwer zu bändigende Meute aus Moisen verschwunden war, oder benutzen die Häfen von Ferport im Norden oder Tran im Süden als Ausgangspunkt ihrer Unternehmungen.
So waren es drei Flotten und drei Heere, welche über verschiedene Wege in Shovel Fuß zu fassen versuchten und auch zeitlich versetzt ankamen. Während der Löwenzug, welcher sich vornehmlich aus Leuten des Volkes zusammensetzte und der mit Abstand größte Teil von den dreien war, in der Hauptstadt landete und später unter Führung des Priesters Zeltan nach Norden zog, segelten die Schiffe aus Ferport unter Mubarag, dem Grafen von Shanan, sogleich gen Anon, einem größeren Dorf an der Ostküste Muuralankujas. Das dritte Heer unter der Führung Drakans, des Freiherrn vom Travelwald, und des Ehrenwerten Priesters Bardom der Jay Abbey traf erst nach der Abreise des ersten Heeres in der Hauptstadt Shovel ein.
Alle drei Teile des Löwenzuges sollen im folgenden einzeln betrachtet werden.
Duncans Worte
Nachdem Hohepriester Cantlion Unbar seinen Brief mit der Bitte um Hilfe abgesandt hatte, bewahrte er Stillschweigen um die Ermittlungen Zeltans, da er in König Duncan III. ebenfalls einen Verräter an Solamûr sah. Dem König entgingen nicht die Versuche Cantlion Unbars, ihn in den folgenden Wochen zu meiden, wo es nur möglich war und erbat schließlich eine Aussprache mit seinem Hohepriester, den er insgeheim aufgrund seines Mißtrauens verfluchte. Da Unbar in diesen Tagen das Antwortschreiben von Ras Thevis erreicht hatte, welches ihm den Aufruf zum Löwenzug mitteilte, hielt er dem König Shovels daraufhin eine Donnerpredigt, in der dieser sich alle Beschimpfungen vom Zorn Solamûrs, welcher über ihn kommen werde, bis zu seinem eigenen Unglauben anhören mußte. Am Ende legte ihm der Hohepriester als Bestätigung den erhaltenen Brief vor und schaute mit stolzerfüllter Brust auf den König herab.
Duncan III. glaubte, seinen Augen und Ohren nicht zu trauen. Da erzählte ihm dieser Priester, daß er es für gut befunden habe, das Land in einen Bürgerkrieg oder schlimmeres zu stürzen, weil ein allzu mutiger Priester bei einem Bekehrungsversuch erschlagen wurde. Und weil es hier nicht schon genug Fanatiker und Märtyrer in Solamûrs Reihen gab, sandte er gleich nach einem ganzen Heer von Fanatikern und Märtyrern aus dem nächsten Königreich. Ungläubig schaute er erst seine Berater, dann den Hohepriester an, bis sein Kopf zornesrot geschwollen war. Urplötzlich zog er sein Schwert, holte weit aus und schlug die rechte Hand Cantlion Unbars ab, ehe dieser begreifen konnte, was geschah.
Wer seit ihr, Mann, daß ihr es wagt, über mein Volk richten zu wollen? Sagt eurem Gott, daß ich neben meiner Hand keine andere dulden werde, die ihre Finger nach meinem Land ausstreckt!
Blutend und wimmernd zog sich der Hohepriester aus dem alten Thronsaal zurück, und mit diesen Worten war das dünne Band zerrissen, welches seit Jahren zwischen König und Priesterschaft gewoben wurde.
Der Löwenzug des Volkes
Das erste Bild, was sich den ankommenden Löwenkriegern im Hafen der Hauptstadt Shovel bot, war bizarr. Während in den ersten Reihen Priester und Ordenskrieger Solamûrs Aufstellung genommen hatten, standen hinter ihnen Soldaten des Königs bereit, um der Meute sogleich anzuzeigen, wer hier das Sagen hatte. Zeltan hatte es zu seiner Herzensangelegenheit erklärt, die gläubigen Streiter auf dem rechten Wege zu führen, was auch von Cantlion Unbar gebilligt worden war. So lud er die ankommenden Massen ein, zum Tempel zu pilgern und ein Gebet für Mikas zu sprechen. Doch einige Löwenkrieger waren überschäumenden Mutes und wollten ihr Heil eher in der Waffe als im Gebet suchen, so daß sich hier schon die ersten Gruppen vom Haupttroß lösten.
An den folgenden Tagen kam es immer wieder zu Unruhen in den Gassen und Gasthäusern, welche sogar noch die Vorfälle von Moisen in den Schatten stellten. Es waren erfundene Gerüchte (von denen einige auch ganz bewußt die falschen Ohren fanden), welche von Ungläubigen oder Anhängern des alten Glaubens in der Stadt kündeten. Allen Warnungen der Soldaten zum Trotz bildeten sich nächtliche Fackelzüge, welche zum Haus eines Verräters an Solamûr zogen und es stürmten oder in Brand setzten, ehe Rettung nahte.
Am nächsten Morgen bot der königliche Ausrufer demjenigen eine große Belohnung, welcher die Schuldigen des nächtlichen Attentats melden konnte, doch die Erfolge waren begrenzt. Vielmehr verschlimmerte sich nun auch der Konflikt zu den königlichen Soldaten, da sie als Helfer oder Verbündete der Ungläubigen galten. So endeten einige Gasthausabende in einem wahren Blutbad, bei dem einmal viele Löwenkrieger, ein anderes Mal etliche Soldaten des Königs den Tod fanden.
Dazu traten die schlagkräftigen Truppen des Löwenzuges insgeheim in einen Wettstreit, wer die größte Anzahl an Ketzern aufspüren und töten konnte. Bald sah jedermann ein, daß schnell etwas passieren mußte.
Cantlion Unbar distanzierte sich von den Unruhen und gab Zeltan die Schuld, da er seine Gläubigen lenken und führen müsse. Dieser sah sich in der ausweglosen Lage, bei seinen täglichen Predigten ein Feindbild aufbauen zu müssen, welches jedoch nur allzu leicht auf einige Bewohner der Stadt ungemünzt werden konnte. Duncan III. sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt und fluchte nun lauthals über die Solamûrbrut. Schließlich befahl er dem Hohepriester, innerhalb von drei Tagen alle Löwenkrieger aus der Stadt zu bringen, sonst werde er dies mit seinen Soldaten gewaltsam tun.
Die Löwenschlacht
Überstürzt und ohne richtiges Ziel rief somit der Priester Zeltan zum Aufbruch nach Norden. Das Heer der Löwenkrieger sammelte sich vor den Toren der Stadt und brach nach dem dritten Tag auf. Nur vereinzelte Gruppen wurden zurückgelassen, welche inzwischen längst die Lust an einem Heerzug verloren hatten und versuchten, zurück nach Cal zu gelangen. Der Löwenzug wurde indessen vom königlichen Heer auf Schritt und Tritt bewacht, da sich ähnliche Vorfälle in den Dörfern wiederholen konnten.
Zeltan mußte sich derweil eingestehen, daß er keinesfalls das Zeug zu einem Heerführer besaß. Er konnte zwar mitreißende Reden schwingen und den Geist eines jeden in Flammen setzten, scheiterte aber an so dringenden Problemen wie der Nahrungsversorgung und Unterkünften. Momentan war Hochsommer, und das war sein Glück, denn die meisten konnten im Freien schlafen oder Wasser aus dem großen Strom Plenisch schöpfen. Doch mit jedem Tag, den er sich von der Hauptstadt entfernte, nahmen die Probleme zu.
Der Troß besaß keinerlei Ordnung, stets stürmten wildgewordene Bauern vor und plünderten einzelne Gehöfte, wenn sie nicht vorher von den Soldaten geschnappt wurden, während die Alten und Kranken zurückfielen und erkennen mußten, daß Solamûr ihnen nicht seine Gunst schenkte und sie von allen Krankheiten heilte. Während dieser Tage stieg die Wut jedes Löwenkriegers gegenüber den königlichen Soldaten ungemein an, da diese sie anscheinend hindern wollten, zu ihren Feinden oder etwas Nahrung zu gelangen. Zudem war jenes Heer gut organisiert und konnte über Lebensmittel nicht klagen. Es kam, wie es kommen mußte und wie es Duncan III. schon vorausgesehen hatte: der Löwenzug griff eines Morgens das königliche Heer an!
Priester Zeltan hatte vorher erkannt, daß er mit diesen Bauernscharen niemals bis zur Nordwacht im Grenzland kommen würde, und begann langsam, das von seinen Kriegern neu entdeckte Feindbild zu übernehmen. Mit der Gewißheit, daß Solamûr ihm beistehen werde, hoffte er, die Vorräte und Zelte der Armee in seinen Besitz zu bringen und befahl zum Angriff. Da er auch in den taktischen Wegen der Kriegführung alles andere als bewandert war, wurde die Löwenschlacht, wie sie später heißen sollte, zum totalen Fiasko. Zeltan fiel in der Schlacht, genauso wie viele andere Priester und Ordenskrieger, so daß dieser eine Tag dem Solamûr-Glauben in Shovel mehr Verluste brachte als all die Jahre vorher zusammen...
Die Löwenkrieger, welche ihr Heil in der Flucht gesucht hatten, zogen nach Cal zurück oder blieben als Räuber oder Bettler im Land. Für sie war der Löwenzug beendet und alle hatten besseres zu tun, als sich einem späteren Heer anzuschließen. Oft sah man in jenen Tagen ein verdrecktes Solamûr-Banner auf den matschigen Straßen liegen.
Das zweite Heer
Einen Monat später erblickten die Schiffe des Grafen Mubarag von Shanan die Küstenlinie Muuralankujas. Dort ahnte kein Einwohner, was für ein Unheil über ihn kommen würde. Der einzige spärliche Kontakt des wilden Nordlandes zu den Königreichen im Osten und Süden bestand in seltenen Händlerschiffen, welche Felle gegen Getreide oder Metallwaren handelten.
Und nun sahen die Nachtwachen des Dorfes Anon mit dem Nebel auch große Kriegssegler ohne Beleuchtung kommen, welche mit leisen Ruderschlägen direkt auf ihren Hafen zusteuerten. Der Alarmschrei ließ jedermann auffahren und zu seinen Waffen greifen, dann drangen auch schon die ersten Todesschreie an ihre Ohren. Anon wurde im Dunkel der Nacht eingenommen und niemand verschont, standen diese Menschen doch für das Übel auf der Welt, welche den Göttern lästerten und Menschen wie Mikas erschlugen.
Zufrieden bezog Mubarag im eroberten Dorf Quartier und plante seine nächsten Schritte. Ihm wurde gemeldet, daß es einigen Barbaren gelungen war, der nächtlichen Falle zu entkommen, so daß er in naher Zukunft mit Angriffen weiterer Kriegerstämme rechnen mußte. Da es ihm unklug erschien, überstürzt ins Hinterland aufzubrechen und damit seine Versorgungslinie ungesichert zu lassen, befahl er, Anon besser zu befestigen. Das entsprach zwar nicht dem Geist vieler Ritter, welche den Toten von letzter Nacht noch viele weitere hinzufügen wollten, doch sie beugten sich dem Grafen und beschränkten sich auf Patrouillenritte.
Da in Shovel niemand Kenntnis von dieser Streitmacht hatte, schickte der Graf mutige Reiter in den Süden, um ihre Eroberung zu melden. Insgeheim hoffte der Graf, daß er die Region rund um Anon halten und später für sich annektieren könne, um dann den Bauern des ersten Heeres Ackerland zur Verfügung zu stellen. Von ihrer verheerenden Niederlage in der Löwenschlacht sollte er erst viel später erfahren.
Tatsächlich blieb eine Antwort von Muuralankujas Clans nicht aus. Sobald sie von den Überlebenden aus Anon die Tragödie gehört hatten, wurde ein Rat einberufen, dem jedes wichtige Oberhaupt der Umgegend beiwohnte. Schnell wurde beschlossen, zu den Waffen zu greifen und die ersten Pläne geschmiedet.
Fünf Wochen nach der Blutnacht von Anon zogen aus allen Richtungen Barbaren herbei, welche die inzwischen zur Festung umgebaute Siedlung umschlossen. Im Morgengrauen des fünften Tages nach ihrer Ankunft begann der Angriff: Mit den gefürchteten Drachenbooten von See und Brandpfeilen und Steigleitern von Land stürmten die Barbarenhorden mit einer Heftigkeit vor, die die kühnsten Vermutungen Graf Mubarags überstieg. Seine Mannen hielten dennoch stand, dank ihrer Metallrüstungen und einer guten Moral. Doch es war noch nicht überstanden...
Ein neuer Than
Die Barbaren zogen wieder ab, und obwohl Graf Mubarag dahinter eine List verborgen sah und Ritter ausschickte, um sie zu beobachten, war es eine List, die sich ihm entzog: Alle Krieger kehrten in ihre Siedlungen zurück, als schien es der Wille der Götter zu sein, daß diese Festung nicht in ihre Hände fallen konnte. Forsche Pläne seiner Ritter, ihren Rückzug erneut anzugreifen, schlug der Graf in den Wind, da er immer noch keine Nachricht aus Shovel hatte und das Bauernheer ausblieb. Nur mit einer Verstärkung wäre an ein Weiterziehen überhaupt zu denken, wie er den Rittern klarmachen konnte. Und so nahm die Grafschaft (oder sollte es schon bald ein Herzogtum sein...?) Anon immer mehr Gestalt an, da Mubarag nicht im geringsten daran dachte, auch nur einen einzigen seiner Krieger sinnlos im Löwenzug gegen die Barbaren zu opfern.
Für die meisten Bewohner Muuralankujas war es tatsächlich der Wille der Götter, daß sie ihr Dorf nicht zurückerobert hatten, doch es gab einen unter ihnen, welcher dies anders sah. Er hieß Mor-Goral und war einer der Überlebenden der Blutnacht von Anon. Damals war er ein angesehener Krieger seines Clans, welcher sogar auf dem besten Wege war, das neue Stammesoberhaupt zu werden: Die ersten beiden Proben hatte er schon erfolgreich abgeschlossen, da erfolgte der Angriff. Nun faßte er ein neues Ziel, und es war ein noch größeres als jenes zuvor: er wollte Than werden!
Seit Generationen galt das Amt des Thans nur noch als eine Geschichte aus längst vergangenen Tagen. Niemand wußte, welche Prüfungen es zu bestehen galt, um Oberhaupt aller Clan-Anführer zu werden, nur noch der Ort seiner Herrschaft war überliefert: das Heim in der Nähe des Wolfswaldes.
Dorthin begab sich Mor-Goral, und damit begannen seine Abenteuer und Götterproben, die an anderer Stelle erzählt werden sollen. Hier reicht es nur, zu erwähnen, daß es ihm am Ende gelang, sich zum Than über ganz Muuralankuja zu erheben. Er einte alle Stämme unter sich, und da er ein strenger Führer war, groß und kräftig von Gestalt, erhaben und weise im Auftreten, rief er alle seine Krieger zu den Waffen, um erneut gegen Anon zu ziehen - und alle gehorchten.
Dieser zweite Angriff traf das Land des Grafen Mubarag völlig unvorbereitet, zumal inzwischen fast ein halbes Jahr vergangen war. Längst war dem Grafen klar, daß keine Bauern kommen würden, während das dritte Heer auch nicht zu ihm gelangen konnte. Also warb er inzwischen im alten Königreich Cal viele Bürger an, welche durch übertriebene Versprechungen seine Schiffe bestiegen hatten, um ein neues Leben zu beginnen. Als sich das erste Schiff der kleinen Flotte dem Hafen von Anon näherte, erblickten die Siedler schon die Rauchwolken.
Von dem kurzen Ruhm des Grafen Mubarag von Shanan blieben nur noch Trümmer und verkohlte Leichen, selbst jedes Tier war getötet, jede Pflanze verbrannt worden, welche unter der Hand des Grafen ihr Leben gefunden hatte. Mor-Goral hatte den Grafen eigenhändig erschlagen, als dieser vor seinen Füßen winselte und um Gnade bat. So stachen die Schiffe der Siedler erneut in See, zurück in ihr Heimatland, um dort vom Schicksal des Grafen und seiner Mannen zu künden.
Der Zug unter Drakan
Der Freiherr vom Travelwald war der Anführer des dritten Heeres, welches von Tran aus die Hauptstadt Shovel anlief. Sein Heer an Söldnern war weitaus kleiner als das des Grafen Mubarag, dafür hatte er sich einverstanden erklärt, Bauern in seinen Löwenzug mit aufzunehmen. Zusammen mit dem Ehrenwerten Priester Bardom, welcher für den rechten Geist bei dem Unternehmen sorgen wollte, hatte sich auch der Freiherr viel vorgenommen: er wollte hinausziehen bis zur Nordwacht, wo nach den Worten von Ras Thevis der Unhold leben sollte, der das Massaker an Mikas gutgeheißen hatte.
Das Verhängnis des ersten Heeres in der Löwenschlacht war ihm bekannt, da er erst ein Vierteljahr nach diesen Geschehnissen die Insel erreichte. Die Gerüchte hatten zwar nicht die Umstände erklärt, wie es zu dieser Schlacht zwischen Königstruppen und Löwenkriegern gekommen war, doch Drakan hatte ebenfalls von den unkontrollierbaren Zuständen in Moisen gehört und ahnte, daß diese wilde Meute von niemanden im Zaum gehalten worden war und es somit zu dem Unglück kam.
Um Duncan III. mit seinem Heer einen weiteren Schock zu ersparen, segelte er mit seinen Beratern mit einem Schiff eine Woche vor seiner Streitmacht aus. Seine Ankunft verursachte längst nicht das Aufsehen, wie es beim ersten Heer der Fall gewesen war, zumal sich der Solamûr-Kult eine blutige Nase geholt und aus allen militärischen Aktionen zurückgezogen hatte. So erbat Drakan um eine Audienz beim shovelschen König - ohne seinen Priester Bardom, denn auch er hatte von der Fehde Duncans mit dem Sonnenkult gehört - und wurde bald vorgelassen.
Der Freiherr Drakan war nicht nur ein kühner Heerführer, der es sich nicht nehmen ließ, mit seiner Ritterschar stets in vorderster Reihe zu kämpfen, sondern vor allem auch ein listiger Diplomat. Noch ehe der König ihn begrüßen konnte, begann er seine Klage über wildgewordene Untertanen, welche wohl glaubten, selbst herrschen zu können, seien dies nun Bauernheere oder Laienpriester. Wie sehr bedauere er den Vorfall vor drei Monaten, und welch gutes Beispiel gäbe die Löwenschlacht dafür ab, wenn Männer des Geistes versuchten, sich in weltliche Belange einzumischen. Drakans Lamentieren hätte noch Stunden andauern können, wäre Duncan nicht von seinem alten Eichenthron aufgesprungen, um diesen Ehrenmann zu umarmen. Mit den Worten, daß er schon glaubte, der einzige vernünftige Mensch in einer Zeit der Unvernunft geblieben zu sein, lud er Drakan ein, sein Gast zu bleiben, so lange es ihn hier halte.
Richter von Königs Gnaden
Nachdem der Freiherr eines Abends Duncan über seine Pläne informiert hatte und dabei sein Versprechen abgegeben hatte, sich allen Wünschen des Königs zu fügen, betonte er das Verbrechen, welches der Herr der Nordwacht allen Solamûr-Gläubigen angetan hatte. Dieses Verschweigen eines gemeinen Mordes an einem Ehrenwerten Priester gehe nicht nur den König, sondern jeden adligen Herrn an, der sich von Solamûr beschienen glaubt. Und um seinen Feldzug gegen die Nordwacht rechtlich abzusichern, bot sich Drakan dem König für ein Jahr als Vasall an, in dessen Auftrage er handeln würde.
Duncan begann langsam, Drakans Besuch zu verstehen, vor allem auch, welch trickreiche Pläne im Kopf des Freiherrn vorgingen. Schmunzelnd erklärte Duncan sich einverstanden, da er ohnehin vorhatte, gegen den Verrat des Hauptmann Scofolk vorzugehen, dies bis jetzt jedoch unterlassen hatte, um es vor den Augen der Priester nicht wie eine Schwäche aussehen zu lassen.
So wurde ein Tag vor Ankunft des dritten Heeres eine prunkvolle Zeremonie im Königspalast abgehalten, in der König Duncan dem Freiherrn vom Travelwald für die Dauer eines Jahres einen neuen Titel verlieh: Glaubensrichter von Königs Gnaden!
Durch diesen Schachzug verlor der König nicht sein Gesicht vor seinen Kronvasallen, als wenn er einem fremden Adligen erlaubt hätte, in seinem Reich ein Heerzug zu führen, während ihm andererseits niemand nachsagen konnte, daß er Feinde Solamûrs beschützen würde. Insgeheim hatte diese Ernennung einen weiteren Vorteil: Da Duncan genau wußte, wie stark noch der alte Glaube in seinem Königreich vertreten war und er auch auf die Gunst dieser Untertanen angewiesen war, überließ er es anderen, diese zu bestrafen, während er seine Hände zumindest fast in Unschuld wusch...
Glaubensrichter Drakan befolgte des Königs Befehl, das Heer vor der Stadt lagern zu lassen und diesem nur tagsüber zu erlauben, Shovel zu betreten. Nach zwei Wochen der Planungen und Vorbereitungen waren Drakans Soldaten abmarschbereit. Bis dahin hatte es sein Begleiter Bardom vermieden, sich im Hohetempel seines Gottes blicken zu lassen, da er wußte, daß er sich dort jedem Befehl Cantlion Unbars beugen mußte. Er wollte diesem erst einen Besuch abstatten, wenn er siegreich aus den Grenzlanden zurückgekehrt war, da dies seine Position enorm gestärkt hätte, wenn er sich dann wahrscheinlich anhören mußte, mit dem Druidenkönig, wie ihn Unbar nur schimpfte, gemeinsame Sache zu machen.
Hauptmann Scofolk von der Nordwacht hatte den Ehrenwerten Mikas längst vergessen und ihm wäre nie in den Sinn gekommen, daß die Gerüchte von der Löwenschlacht mit ihm im Zusammenhang standen. Er hatte genug damit zu tun, sich auf die Barbaren Muuralankujas zu konzentrieren, da ihm seine Späher meldeten, daß sie bald in den Krieg ziehen werden. Da seine Nordwacht die erste Linie der Verteidigung bildete, bereitete er sich auf eine Belagerung vor. Er konnte nicht wissen, daß der Zorn der Clans nicht ihn, sondern den Invasor Mubarag in Anon treffen würde, und war um so überraschter, als ihm seine Reiter ein Heer Gepanzerter aus Süden meldeten. Erst glaubte er, daß dies die Verstärkung sei, welche er vor drei Tagen angefordert hatte - doch so schnell, und vor allem so viele? Scofolk begann, sich ernsthaft zu sorgen und schickte Boten zum Heer. Als diese nicht zurückkehrten, blieb ihm nichts weiter, als Tag um Tag vom höchsten Turm der Nordwacht das zu erwarten, was vielleicht seinen Untergang bedeuten könnte.
Die Belagerung der Nordwacht
Glaubensrichter Drakan hatte es nun eilig, da der Winter langsam nahte. Sein Plan war, Scofolk gleich zu Beginn schwer unter Druck zu setzen, in der Hoffnung, dieser würde sich ergeben oder heimlich das Weite suchen. So nahm er dessen Botenreiter gefangen, um Scofolk mit seinen Ängsten im Ungewissen zu lassen.
Nach wenigen Tagen war es dann soweit: Drakans Banner wehten am Fuße der großen Wehranlage, sein Heer umlagerte den ganzen Turm, als der Glaubensrichter von seinem Pferd aus folgende Worte sprach: Herr der Nordwacht, hier spricht Drakan, Glaubensrichter von Königs Gnaden! Ich erkläre euch hiermit für schuldig, den Ehrenwerten Priester Mikas und seine Begleiter im Angesichte Solamûrs verraten und ihre schändliche Ermordung gebilligt zu haben. Tretet heraus, und wir werden noch heute über euch richten. Oder aber versteckt euch in den Mauern und sterbt alle bis zum letzten Mann. Was sagt ihr?
Scofolk war sprachlos angesichts dieser Anklage, da er geglaubt hatte, daß niemand im Dorf Seneirl ihn verraten würde, da seine Worte damals die Einwohner vor dem Untergang bewahrt hatten. Er brauchte auch nicht antworten, denn dies tat sein Bruder Dundalk, der von Mikas Ermordung nichts wußte: Ihr sprecht Lügen, wenn ihr meinen Bruder anklagt. Die Priester starben durch die Hände der Barbaren, während mein Bruder ihnen damals Gastfreundschaft gewährt hatte. Und dies ist die Wahrheit!
Nun trat Priester Bardom vor, da er bei solch infamen Behauptungen nicht an sich halten konnte: Eures Bruders Taten kamen ans Tageslicht, als Priester Zeltan von meinem Orden euer Dorf Seneirl besuchte. Er fand die Spuren der Bluttat und hörte die Worte des Verrats von jemandem, der dabei war.
Scofolk hatte sich nun gefaßt und war gewillt, angesichts dieses Priesters nicht klein beizugeben: Sprecht ihr vom gleichen Zeltan, welcher vor wenigen Wochen dem Wahnsinn verfiel und seinem Gefolge befahl, die Königlichen anzugreifen? Gebt ihr so viel auf die Worte eines Umnachteten, daß ihr die Wahrheit nicht erkennt? Mikas wurde genauso von eurem Gott gestraft wie Zeltan, denn beide handelten wirr.
Genug dieser Lügen, unterbrach ihn Drakan. da ihr jegliche Schuld abstreitet, soll das Schwert über euch richten. Und mit diesen Worten begann die Belagerung der Nordwacht.
Hauptmann Scofolk wußte, daß seine Mannen zu ihm halten würden, da keiner gut auf Solamûrgläubige zu sprechen war. Der Konflikt drohte in den Augen aller Beteiligten zu einem Kampf um den wahren Glauben zu werden, und man bildete sich sogar ein, daß es nach der Schlacht in ganz Shovel nur noch den Glauben der siegreichen Partei geben könne.
Die Festung war alles andere als ein leichter Gegner, zumal viele Generationen von Barbarenhorden Angriffe auf den Feind im Süden gewagt hatten, welche stets erfolglos blieben. Doch das Heer Drakans war mit den starken, aber berechenbaren Barbarenkriegern nicht zu vergleichen: von Anfang an wurden Schutzschilde, Sturmleitern und ein großer Belagerungsturm gebaut, während Drakans Ritter versuchten, den schwachen Punkt der Nordwacht herauszufinden. Da für alle Belagerer feststand, daß der Hauptangriff noch vor Einbruch des Winters erfolgen sollte, saß ihnen die Zeit im Nacken, um alles Belagerungsgerät rechtzeitig fertigzustellen. Und so kam es, daß in den letzten Tagen des Feenmondes, als die nördlichen Ebenen Muuralankujas schon in einen dicken Winterpelz gehüllt waren, die Vorbereitungen beendet waren. Glaubensrichter Drakan hielt seinen letzten Kriegsrat ab, in dem die endgültige Strategie besprochen und die Parolen ausgegeben wurden. Dann begann der langerwartete Angriff auf die Nordwacht.
Der Schwur auf Rache
Den ganzen Vormittag über liefen Drakans Soldaten vergeblich gegen die alten Mauern der Feste Sturm, denn Scofolk war bestens ausgerüstet und gewillt, noch ein weiteres Jahr in der Wacht auszuharren. Doch dann, gegen Mittag, gelang den Angreifern ein entscheidender Schlag: die Mauern des Ostwalles, welche als dünn und instabil galten, gaben an einer Stelle der hämmernden Wucht des großen Rammbocks nach und fielen in sich zusammen. Scofolk eilte selbst mit seinen engsten Getreuen herbei, um die Bresche zu halten, während Drakan seine Ritter rief und ihnen entgegenritt.
In den späteren Balladen wird es heißen, daß sich die beiden Todfeinde Drakan und Scofolk ein packendes Duell geliefert haben, welches noch bis in die Nacht dauerte, bis der eine endlich siegte. Doch in Wirklichkeit spielte es sich anders ab: Drakan lenkte sein Pferd genau auf die Bresche zu, um mit seiner Lanze bis zum Innenhof vorzustoßen. Mit donnerndem Hufe folgten seine Ritter, welche ebenfalls Lanzen anlegten. Keiner von Scofolks Kriegern floh bei dem Anblick dieser Reiterschar, doch wurde vielen dieser Heldenmut sogleich mit dem Tode belohnt. Doch Drakans Pferd war von einem Speer tödlich getroffen und so stürzte sein Reiter auf den Boden des Innenhofes. Sofort hatten seine Ritter einen Kreis um Drakan gebildet, doch dieser stand nicht wieder auf. In dem Glauben, daß ihr Anführer tot und alles vergebens sei, überfiel sie die Kampfeswut. Sie stürmten auf die Brüstungen und brachten vielen wackeren Kriegern den Tod, wodurch der Weg frei war für die anstürmenden Bauern. Noch vor Sonnenuntergang war die Nordwacht in der Hand der Löwenkrieger und Solamûrs Banner strahlte darauf vom höchsten Turm über das Land. Wie Drakan versprochen hatte, überlebte niemand aus der Festung den Angriff - Scofolk war von einem der Ritterpferde niedergeritten und sein Schädel zertrümmert worden - niemand außer einem Mann. Scofolks Bruder Dundalk war schon drei Wochen vorher durch die Reihen der Belagerer geschlichen, um aus den umliegenden Dörfern Kämpfer zu rekrutieren. Er erreichte am Morgen nach der Schlacht mit einigen hundert Bauern die Feste und sah, daß alles vergebens war. Nachdem er sein Heer wieder entlassen hatte, da er mit ihnen keinesfalls die Nordwacht hätte einnehmen können, zog er sein Schwert und schwor Drakan und dem Solamûr-Kult ewige Rache. Dann verschwand auch er vom Schlachtfeld, einen letzten Blick auf seine Heimatfeste richtend.
Glaubensrichter Drakan hatte jedoch den Sturz überlebt und kam zur Besinnung, nachdem Bardom seine Wunden versorgt hatte. Er konnte nach dieser Schlacht nie wieder richtig gehen, doch um so stolzer war er auf seinen Sieg.
Boten wurden ausgeschickt, welche bis nach Cal von der ruhmreichen Schlacht künden sollten, während Drakan mit seinen verbliebenen Löwenkriegern auf der Nordwacht überwinterte. Im Frühjahr des nächsten Jahres wurde er von einem neuen Hauptmann des Königs abgelöst und zog wieder zurück in seine Heimat. Seine Ankunft löste in Moisen einen Freudentaumel aus, und so zog er weiter bis nach Cal, wo er von Ras Thevis persönlich höchste Ehrung erfuhr. Ihm wurde der Beiname Solamûrs Schwert verliehen und er wurde vom König in den Grafenstand erhoben und erhielt weitere Ländereien.
Damit war auch der letzte der adeligen Löwenkrieger heimgekehrt und schloß ein Kapitel in der Geschichte, von dem fast alle Beteiligten froh waren, als es vorbei war. Die meisten Narben im Königreich Shovel waren schnell verheilt und nur wenige Spuren kündeten später von den Ereignissen des Jahres 596 [???].
Nur der Begriff des Löwenkriegers war in Shovel von Dauer und bedeutete später in den einen Geschichten ein von Solamûr selbst Gesandter, welcher die Armen beschützt und Gerechtigkeit bringen wird, während er in den anderen Geschichten zur Gestalt des Bösen wurde, der unartige Kinder holen kommt oder nachts den Tod bringt...