Vampire Aus der alten Welt (2e)
Vampire: Die Maskerade (VDM) trat anfang der 90ern an und veränderte innerhalb kurzer Zeit das einst so von Fantasy bestimmte Bild der Rollenspielszene. Seitdem hat es zahllose Quellenbände für VDM gegeben - darunter den Band Elysium: Elder Ways (1996).
Mit ihm wurde es ermöglicht uralte Charaktere zu spielen¸ die es bis in die Gegenwart geschafft haben. Dieses Alter kann bei Vampiren mit einer unglaublichen Machtfülle gleichgesetzt werden¸ was der (Un-)Lebenserfahrung und niedrigen vampirischen Generation zu verdanken ist.
Elder Ways war sicherlich ein Puzzleteil¸ daß die Neugierde auf die "guten Alten Zeiten" bei den Maskerade-Spielern weckte - und Erinnerungen an die gute alte Fantasy¸ die ja viel mit dem Mittelalter gemeinsam hat. Wie spielt man wohl so einen Vampir¸ lange vor Telefon¸ Radio und TV? Hat er die gleichen Probleme und Sorgen wie ein moderner Vampir?
Mit seinem ersten Sprung zurück in die Geschichte entstand Vampire: Dark Ages¸ bzw. Vampire aus der Alten Welt¸ daß die ganze Welt der Dunkelheit ins finstere Mittelalter zurückversetzt und damit irgendwie zu Fantasy verwandelt ohne den morbiden Charme des Horror-Settings zu verlieren.
Das dies ein kluger Schachzug war¸ kann man heute erkennen¸ denn Vampire: Dark Ages ist eine der wenigen Serien von White Wolf¸ die immer noch rege produziert werden. Die Alte Welt hat es vom Quellenband zur eigenen Serie geschafft.
Das finstere Mittelalter
Wenn man bereits seine Erfahrungen mit Vampire: Die Maskerade gesammelt hat¸ kennt man das ganze komplizierte Gerangel der Sekten Camarilla und Sabbat um die Vorherrschaft über alle Kainiten. Man hat gelernt¸ daß die Menschlichkeit etwas ist¸ was es zu bewahren gilt und das das Unleben in unserer schnellebigen Zeit ganz schön aufregend sein kann.
In der Alten Welt kann man das alles getrost vergessen.
Amerika ist noch nicht entdeckt¸ die Sekten und das Wort Technologie sind noch nicht einmal erdacht worden. Die Entfernungen zwischen zwei Ansiedlungen sind für den gemeinen Menschen eine Distanz¸ die er in seinem Leben eher selten zurücklegt. Zwischen den Ansiedlungen befinden sich oft noch dichte¸ gefährliche Wälder oder anderweitig rauhes Land¸ das man entweder meidet oder nur im Schutz großer Gruppen durchquert.
Nach Sonnenuntergang schläft man hinter verrammelten Türen oder geht im trüben Licht einer Talgkerze dem Tagwerk nach¸ das man zuvor nicht geschafft bekommen hat... und alte Großmütter erzählen ihren Enkeln von schaurigen Kreaturen¸ die die Nacht durchstreifen und jeden unglücklich machen¸ der nicht rechtzeitig den Heimweg gefunden hat.
Das hört sich für jeden modernen Vampir in der Tat wie das gelobte Land an¸ nicht wahr? Keine verräterischen Kameras und Videoaufzeichnungen. Keine automatischen Schußwaffen und Kraftfahrzeuge mit mörderischen Stoßstangen...
In der Tat gestaltet sich das Leben für einen im Mittelalter existierenden Vampir in vielen Punkten ganz anders¸ z.B. in Bezug auf Ansiedlungen¸ Technologie und nicht zuletzt die Menschen.
Die vorliegende Version spielt um das Jahr 1230 herum und dreht damit im Vergleich zur der ersten Ausgabe des Regelwerks das Rad der Geschichte etwas weiter.
Im 13. Jahrhundert findet man in Europa und dem Rest der Welt nur sehr wenige Großstädte zwischen denen große Distanzen liegen - und dazwischen liegen allenfalls Kleinstädte oder kleine Ortschaften¸ die einen Vampir jedoch nur für kurze Zeit beherbergen können. Da Vampire ein recht großes Jagdgebiet¸ bzw. Menschen benötigen um dauerhaft in einer Region überleben zu können (man rechnet mir ca. 1000 Personen)¸ wird die Anzahl der Nachkömmlinge allein schon durch die Vernunft der Erzeuger und die Sorge um ihr Revier gebremst. Viele Vampire leben daher in sehr kleinen Gruppen oder ganz allein (von Ghoulen und Normalsterblichen einmal abgesehen).
Der technologische Stand ist niedrig. Telefon¸ Fax und Internet ade!
Kommunikation beschränkt sich auf lebende Boten (z.B. Ghoule oder Tauben) oder bei besonders wichtigen Informationen auf den direkten Austausch. Doch Reisen ist gefährlich. Von den ganz weltlichen Gefahren wie Überfällen durch Banditen einmal abgesehen (denen ein Vampir nach Sonnenuntergang wohl noch am leichtesten begegnen kann)¸ ist da vor allem das Sonnenlicht das dem Vampir eine Reise sehr erschwert. Bis auf die tierhaften Gangrel¸ in deren Macht es liegt sich in der Erde zu verstecken¸ sind alle Vampire beim Reisen sehr auf ihre menschlichen Gefährten angewiesen - ja geradezu abhängig.
Man stelle sich vor¸ daß ein Grenzposten den Inhalt der Kiste prüfen will¸ in der ein Vampir am Tage ruht. Man bedenke auch¸ daß Werwölfe das Sonnenlicht nicht scheuen müssen - und sowohl am Tag wie auch bei Nacht eine ernsthafte Gefahr für jeden reisenden Vampir darstellen.
Der einzige Vorteil der Distanz ist die unkomplizierte Art unter Kainiten Probleme zu lösen. Keine langatmigen Intrigen¸ Geschwätz oder ähnliches¸ sondern kurzer Prozeß. Das unerwünschte Eindringen in die Domäne eines Vampirs liefert den Eindringling in der Regel der Gunst des Gastgebers aus. Ein zusätzliches Problem¸ wenn Vampire auf Reisen sind.
Bei Streitigkeiten gilt das Gesetz des Stärkeren. Vampire¸ die überleben wollen¸ tun gut daran bereits vor dem Kampf ihre Chancen zu kennen oder die Kunst der Diplomatie zu beherrschen (bzw. die des Arschkriechens). Da bekommen die Traditionen (Gesetzte der Vampir-Gesellschaft) eine ganz neue Bedeutung...
Auch der Vollzug ganz alltäglicher Geschäfte wird kompliziert¸ wenn man den hohen Aberglauben der damals lebenden Menschen betrachtet. Wer wichtige Geschäfte nur nach Sonnenuntergang oder über Mittelsmänner erledigt¸ wird schnell einen gewissen Ruf erlangen - und der kann in Notzeiten das Ende durch einen verunsicherten Mob oder die Inquisition bedeuten.
Regelwerk
Eines der schönen Dinge auf die man sich bei Storyteller-Produkten verlassen kann ist¸ daß die zweite Version (zumal die deutsche Ausgabe) in der Regel wesentlich ausgereifter und noch besser ist als die Premiere. Auch in diesem Fall darf man sich über überarbeitete Texte und fehlerbereinigte Regeln freuen¸ die das Spiel noch empfehlenswerter machen.
Der Band wurde in neun Kapitel aufgeteilt¸ deren Inhalt logischerweise in vielen Bereichen (vor allem Regeln) dem von Vampire: Die Maskerade ähnelt. Wesentlich hierbei ist aber¸ daß Vampire aus der Alten Welt dadurch unabhängig von VDM oder einem anderen Storyteller-Regelwerk spielbar ist. Es handelt sich hierbei in der Tat um ein eigenes Regelwerk und nicht nur um ein Quellenbuch.
Trotz obiger Aussage¸ lohnt sich auch das Durchlesen von vertraut wirkenden Textpassagen und ähnlich überschriebenen Abschnitten¸ da der komplette Text auf das mittelalterliche Flair angepaßt wurde und auch viele vertraute Dinge neue (bzw. auf alt getrimmte) Namen bekommen haben.
In Folge thematisiert der Band Das Unleben in der Alten Welt¸ beschreibt die Clans Kains¸ stellt die Wege vor denen ein Vampir sein Dasein widmen kann¸ behandelt Regeln¸ Charaktererschaffung und Disziplinen¸ und liefert zu guter Letzt auch reichlich exklusives Material für den Erzähler - wie hier der Spielleiter genannt wird.
Die Alte Welt ist vor allem Europa¸ der nahe Osten und Nordafrika. Das erste Kapitel erzeugt ein sehr gutes Basiswissen - vor allem über die vampirische Sicht der damaligen vampirischen Gesellschaft. Man kann einem Erzähler in jedem Fall raten¸ sich in jeder verfügbaren Quelle zusätzliches Wissen über die menschliche Gesellschaft und historische Ereignisse anzueignen¸ um diese Zeit möglichst atmosphärisch darzustellen. Jede Bücherei bietet dazu hunderte von brauchbaren Quellen.
Viele Vampire: Die Maskerade-Spieler wird es reizen¸ endlich einmal einen der ausgerotteten Clans spielen zu können¸ oder einen Clan in seiner alten Form. Die Geschichte und vor allem die Sekten¸ haben nicht nur die Clans verändert¸ sondern auch einen Keil zwischen Fraktionen getrieben und andere widernatürlich verbunden.
Vorgestellt werden die hohen Clans Brujah¸ Kappadozianer¸ Lasombra¸ Toredaor¸ Tzimisce¸ Ventrue und die minderen Clans Assamiten¸ Gangrel¸ Jünger des Set¸ Malkavianer¸ Nosferatu¸ Ravnos und Tremere. Natürlich gibt es auch in dieser Zeit clanlose Vampire¸ die lokal an Macht gewinnen können - aber letzten Endes sind diese Kreaturen noch mehr zu bedauern als in der Gegenwart.
Die Wege beschreibt eine Reihe von Lebenseinstellungen¸ die unter Vampiren gebräuchlich waren¸ bevor die Camarilla schließlich den Weg der Menschlichkeit fokussiert hat. Jeder Weg hat eine andere Hierarchie von Geboten¸ an die der Vampir den kümmerlichen Rest seiner Seele klammert. Beschrieben sind der Weg der Könige¸ der Menschlichkeit¸ der Sünde¸ des Himmels und des Tiers.
Zur Charaktererschaffung möchte ich nicht zu viele Worte verlieren¸ da man diese größtenteils kompatibel in der Rezension zu Vampire: Die Maskerade durchlesen kann. Es sei angemerkt¸ daß die Charaktererschaffung für die genannten Clans komplett ist (inkl. aller Disziplinen¸ Vor- und Nachteilen) und kein Spielerhandbuch oder ähnliches mehr erforderlich ist.
Wer möchte¸ kann sich natürlich zusätzliche Anregungen durch den Kauf der Clanbücher verschaffen und findet auch in einigen Quellenbänden Informationen über weitere Blutlinien entfernterer Teile der Alten Welt.
In den Kapitel Dramatik¸ Erzählen und Verbündete und Antagonisten erfährt der Spielleiter alles zum Thema "Leiten einer Vampire aus der Alten Welt-Spielrunde". Man darf ungeschminkt erwähnen¸ daß sich gerade auch mit diesen Kapiteln die Storyteller-Rollenspiele ihren guten Ruf erarbeitet haben¸ weil die Regeln eher unkompliziert sind und insgesamt das Erzählen von Geschichten ein sehr hohes Gewicht erhält.
In Verbindung mit dem Anhang bekommt der Erzähler einen reichhaltigen Fundus an Ideen für eigene Abenteuer und Kampagnen an die Hand.
Auch sonst werden die restlichen Seiten des Bandes gut genutzt: ein gut kopierbares Charakterblatt¸ ein ordentlicher Index und die inneren Umschlagseiten vorne und hinten wurden als farbige(!) Landkarten Europas genutzt (politisch menschlich und vampirisch).
Technisches
Feder&Schwert haben Vampire aus der Alten Welt als robustes Hardcover mit ordentlicher Bindung produziert. Auch im Inneren glänzen ein gutes Layout¸ das sehr gute Texte mit hervorragenden Illustrationen verbindet.
Wenn man auch heute noch vereinzelt über die Qualität der verwendeten Illustrationen mancher Neuerscheinungen von White Wolf die Nase rümpfen kann¸ werden für die Grundregelwerke in der Regel die Besten herangezogen. Der vorliegende Band macht das keine Ausnahme. White Wolf bzw. Feder&Schwert ist mit diesem Band ein optischer Funkenwirbel gelungen¸ der allein schon beim Durchblättern des Bandes immer wieder für faszinierende Momente sorgt. Das Spiel mit schwarzen Flächen und weißer Schrift zum Beginn eines Kapitels¸ das vorbildliche Layout mit gut sortierten und optisch separierten Informationen¸ klar erkennbaren Überschriften.
Fazit:
Da macht das Lesen (und Rezensieren) Freude. Es ist schön¸ wenn einem als Leser 10 bis 15 Jahre Verlagserfahrung in solch einem Band umgesetzt sind. Hier treffen ein sehr gutes Regelsystem und eine sehr reichhaltige und atmosphärische Spielwelt in perfekter Komposition aufeinander. Historisch versierte Erzähler können allein auf dem Grundregelwerk basierend völlig autark spielen. Wer sich lieber mit Ideen versorgen läßt¸ kann sich aber auch auf einen regelmäßigen Nachschub an Quellenmaterial verlassen¸ wie z.B. das gerade erschienene Europa.
Ein tolles Rollenspiel - egal ob nun für Vampire: Die Maskerade-Fans oder komplette Neueinsteiger ins Hobby Rollenspiel.
Eine Rezension von: Dogio http://www.drosi.de