Envoyer 07/2006
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Das universelle Rollenspiel-Fanzine Greifenklaue wurde bereits 1997 von Mitgliedern der Pfadfindergruppe Mantikore als gedrucktes A4-Heft ins Leben gerufen und eroberte ab 2005 auch das Internet. Neben dem gedruckten Fanzine betrieb Ingo aka "Greifenklaue" vor allem einen Blog, einen Podcast und ein eigenes Forum. Zur großen Bestürzung der Rollenspiel-Szene verstarb Ingo Schulze am Freitag den 26.11.2021. |
Der Envoyer ist nun mittlerweile deutlicher einem Schwerpunkt zugeordnet und bietet diesmal in der 117. Ausgabe vom Juli 2006 das Titelthema Cyberpunk.
Die Neuauflage von Cyberpunk aus dem Hause Talsorian, die V 3.0 bzw. 203x, wird in einer Rezi besprochen und erhält, wie der Autor erwähnt, mit 56% eine der schlechtesten Bewertungen seit Bestehen des Envoyer. Trotz dieses insgesamt vernichtenden Urteils arbeitet der Autor in seiner Rezension eine detaillierte Kritik aus, die auch das darstellt, was am neuen Setting zu gefallen weiß.
Die Regeln sind es nicht unbedingt, den der Rezensent stellt mit "Ein Kessel Blutiges" alternative Cyberpunk-Regelergänzungen vor, um Spielspaß und Realismus zu steigern. Wer sich selbst mit dem System beschäftigt, wird hier sicher den ein oder anderen Regelvorschlag finden, um es an seine Bedürfnisse anzupassen.
Ein Interview mit Christian Lonsing stellt die Pläne des Shadowrun-Chefredakteur für Shadowrun 4.0 vor. Es gibt allerdings nur wenige Fragen, die kaum Neues verraten und nur wenig auf die teils deutliche Kritik am 4.0-Grundregelwerk eingehen. Interessant ist allerdings die Frage danach, wo der Punk im Cyberpunk geblieben ist.
Felix Grassegger stellt sich dem Thema "Gangs" und versucht die Strukturen einer Gang aufzuzeigen sowie dem SL drei durchaus originelle Beispiel-Gangs an die Hand zu geben. Er verurteilt das Nutzen von Gangs als schnelles Kanonenfutter, auch von diversen Autoren, die seiner Ansicht nach Gangs schlicht mißverstehen. Der Artikel bietet durchaus gute Anregungen und Ideen, wartet aber auch mit erstaunlichen Allgemeinplätzen auf. Zitat: "Frauen steht da meist ein "einfacher" Weg offen, sie müssen sich von allen anderen Gangmitgliedern ‐ oder zumindest auch vom Boss ‐ vergewaltigen lassen." Ob das wirklich der Regelfall ist, das wage ich doch zu bezweifeln.
Die dreiseitige Kurzgeschichte "Der Söldner (Mensch V3.2 Alpha)" ist zwar kurz, aber nicht wirklich kurzweilig. Sie versucht die Problematik zwischen Mensch und Maschine, Moral und Ethik zu thematisieren, kommt dabei aber nicht auf den Punkt.
"Ohne Schmidt und Johnson" soll alternative Motivationen für Shadowrunner aufzeigen, was Jens Ulrich auch ganz gut gelingt. "Pack den Cyber in den Punk" bietet zwei Szenarioideen für Cybersettings. Sehr gut gefallen hat mir die Idee zu "Drei Vampire für Pater Johnson", bei der ein Pater um die Vernichtung von drei Vampiren bittet und sich ein gelungener Plottwister entwickelt. "Menschenfleisch" hingegen ist nicht schlecht aber in dieser Form zu knapp dargestellt; der Plot bietet reichlich Abbiegemöglichkeiten und Stolperdrähte, so dass er nur sehr erfahrenden Spielleitern wirklich empfohlen werden kann.
Zwei weitere Kurzabenteuer ergänzen diese Ausgabe des Envoyer. Die "Happy-Tankstelle" für Kleine Ängste ist dabei ein Schauplatz mit Abenteuerideen. Aber ein Rollenspiel um den Missbrauch von Kindern, das find ich einfach abartig, und so kann mich dieses Szenario hierzu auch nicht recht überzeugen. Ein Tankstellenbesitzer lässt Kinder Öl schlucken, um sie zu retten, und auch die kindlichen Charaktere geraten in seine Fänge. Mag jeder selbst entscheiden, ob er sowas spielen möchte oder lieber in der Realität die Augen offenhält. "Der Schlüsselanhänger" bietet dann eine Szenarioidee für Unknown Armies, die sicherlich auch wunderbar mit Kult und Konsorten funktionieren könnte. Eine originelle Idee, an der die Charaktere einiges zu knabbern haben werden.
Neuerdings findet sich nicht nur ein Blick in die LARP-Szene im Envoyer, sondern auch recht regelmäßig Ausflüge in die Welt des MMORPG, also des Online-Rollenspiels. Diesmal kommt Sabine Flier zum Thema Eventmanagment am Beispiel des Spiels Ryzom zu Wort. Events sind hierbei Ereignisse, bei denen viele Spieler zusammenkommen, was nicht nur das Niedermetzeln eines großen Monsters sein muss. Die Idee mit stimmigen Intimetexten und erklärenden Outtimetexten ist an sich gut, zumindest für den Nicht-MMORPG'ler aber nicht ausreichend umgesetzt, dazu bleibt der Artikel zu unverständlich. Auch wird das Thema "Event" recht weitläufig gefasst, denn eine Spielerin als Köder für einen Frauenentführer zu tarnen, ist für mich kein Event, da es nur eine einzige Spielerin betrifft. So muss man sich schon zwischenzeitlich fragen, ob man einen Werbetext zu Ryzom liest oder einen Sachtext zu Eventmanagment, der den MMORPG-Interessierten einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen soll.
Der Blick zum LARP widmet sich dann dem Thema "LARP zwischen den LARPs". Anscheinend ist das Problem, dass sich Con-Tage über eintägige Gewandungstreffen im heimischen Keller erschummelt werden, doch akuter, als gedacht. Auch die Meinung, beim LARP Lernfortschritte immer ausspielen zu müssen, und dies nicht zwischen den LARPs zu erledigen, stößt bei mir nicht unbedingt auf offene Ohren. Wenn man ein, zweimal im Jahr aufs LARP fährt, möchte man sich ja vielleicht doch mal am Plot beteiligen, statt acht Stunden Rüstungen zu schmieden, Schwerter zu polieren oder durch auf der Suche nach nicht ausgelegten Kräutern den Wald zu streifen, wie es das ein oder andere LARP-Regelwerk vorsieht. Ein gesundes Mittelmaß halte ich da eher für angebracht.
"Asche zu Asche" beschäftigt sich recht oberflächlich mit den möglichen Enden von Heldenleben, kurzum Tod, Ruhestand oder dem typischen Schwebezustand, sprich nicht fortgeführte oder lang pausierende Runden. Der Beitrag regt an, das Heldenleben mit einem Knall enden zu lassen, den Kreis des Lebens mit einem "sinnvollen" Tod zu beschließen.
Abgerundet wird der Envoyer vom Comic "Weltenretter", dem "Guten Rat aus Envoria", Produktnews, einigen Rezis und einem Leserbrief, der sich kritisch zu den Alveraniern und dem kritiklosen Interview der letzten Ausgabe äußert.
Fazit: Für Fans des Genres Cyberpunk ohne Frage eine gute Materialsammlung zum fast unschlagbaren Preis von 1,80 Euro, ansonsten sticht noch das Unknown Armies-Szenario heraus, welches auch gut zum UA-Schwerpunkt der nächsten Ausgabe gepasst hätte. Kleine Ängste-Spieler werden sich wohl über Materialsupport freuen. Einigen anderen Artikel benötigten noch Feinschliff, um sie besser auf den Punkt zu bringen, hier merkt man doch deutlich, dass ein Heft in einem Monat auch gefüllt sein muss.
Eine Rezension von: Ingo 'Greifenklaue' Schulze https://greifenklaue.wordpress.com/