Europa in Trümmern
Europa liegt in Trümmern. Schon vor dem Absturz der Orbitalstation Esperanza wurde der Kontinent durch den Mutantenkrieg an den Rand der Zerstörung getrieben: Städte waren eingeebnet worden¸ eine wirtschaftliche wie politische Stabilität war nicht mehr gegeben. In den Nachkriegsjahren kämpfte jede Nation um den Wiederaufbau der eigenen Wirtschaft - dort wo ein Miteinander gefragt gewesen wäre¸ prägte Nationalismus und Misstrauen den Nachbarn gegenüber das Bild. Trotz der Schwierigkeiten arbeiteten einige europäische Nationen zusammen und schossen eine gigantische Raumstation¸ die Esperanza¸ in den Orbit. Als wenige Jahre später ein massiver Mutantenangriff die Station zum Absturz brachte und weite Landstriche insbesondere Frankreichs und der Umgebung verwüstete¸ wurde der Aufschwung Europas an einem Tage zerschlagen. Die an dem Projekt beteiligten Nationen waren finanziell geschwächt¸ große Teile Westeuropas zerstört und verstrahlt.
Europa hat ein neues Gesicht: Deutschland zersplittert in die Deutsche Degenerative Sozialistische Republik (DDSR)¸ eine konstitutionelle Tyrannei; die Progressive Psycho-Soziale Kommune (PPK) und Neu-Weimar; Großbritannien¸ Italien¸ Portugal haben die Esperanza-Katastrophe weitgehend unbeschadet überstanden; nicht so Spanien und vor allem Frankreich - Chaos und Gewalt regieren dort. Im Osten hat sich ein neuer Machtblock gebildet¸ das Neue Ottomanische Reich¸ das ebenso wie die Ukraine und Polen stark expansionisch agiert. Skandinaviens Bevölkerung lebt zum Großteil in riesigen Arkologien¸ die aufgrund mangelnder finanzieller Mittel langsam verfallen.
Inmitten all des Elends steht der Aeskulapianer-Orden. Seine Mitglieder versuchen zu helfen¸ wo sie nur können - einige begeben sich direkt in die zerstörten Regionen¸ wobei sie ihr eigenes Leben riskieren¸ andere widmen sich der Forschung oder arbeiten in den zahlreichen Kliniken des Ordens. Doch auch innerhalb der weitverzweigten Organisation der Aeskulapianer scheint nicht alles bester Ordnung zu sein¸ vielmehr ähnelt der Orden dem innerlich zerrissenen Europa mehr¸ als viele wahrhaben wollen: Die Aeskulapianer sind in mehrere Lager gespalten. Zum einen sind da die Rationalisten¸ die durch ihre strikt wissenschaftliche Herangehensweise an medizinische Probleme und einem entsprechenden Weltbild eine persönliche Einbindung zu verhindern suchen; zum anderen gibt es das Lager der Spiritualisten¸ die "Schamanen"¸ welche eine eher ganzheitliche¸ zen-buddhistische Betrachtungsweise bevorzugen. Doch die eigentliche Gefahr für den Orden geht von fehlgeleiteten Aeskulapianern aus: Soziopathische Vitakineten¸ die den Druck des Bewusstseins der Schmerzen anderer nicht mehr gewachsen waren und sich mit Drogen dieses Bewusstseins entledigten; übereifrige wie auch unethische Forscher¸ die vor bizarrsten Methoden nicht zurückschrecken; oder auch die Schwarze Garde¸ die Sicherheitstruppe des Ordens¸ die zwar loyal aber für ihr Auftreten berüchtigt ist¸ und dem Saubermann-Image des Ordens schadet.
All dies und einiges mehr erfährt man aus dem Trinity-Quellenbuch "Europa in Trümmern".
Bei der Gliederung wird die mit dem Regelbuch begonnene Linie fortgesetzt: Der erste Teil des Buches ist durchgängig farbig und gibt dem Leser einen groben Überblick über den Hintergrund. Die Textpassagen vermitteln den Eindruck¸ direkt aus den Aeon-Trinity-Archiven zu kommen: Interviews¸ Triton- und Proteus-Archiv-Einträge¸ Ausschnitte aus Publikationen des 22. Jahrhunderts oder auch eMail-Korrespondenz - der Leser wird langsam in die Welt von Trinity eingeführt. Gleiche Sachverhalte werden oftmals in nebeneinander stehenden Artikeln von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachtet¸ wodurch der Leser die Möglichkeit erhält¸ die Einstellungen der unterschiedlichen Parteien auf eine interessante Art und Weise kennenzulernen.
Inhaltlich werden die Methoden und Praktiken der Aeskulapianer und die Geschichte des Ordens dargestellt¸ sowie ein Überblick über die europäischen Länder geboten.
Die grafische Gestaltung ist¸ wie schon im Regelwerk¸ hervorragend: Die einzelnen Textpassagen besitzen angenehm gestaltete Rahmen¸ die eine Zuordnung z.B. zum Triton- oder Proteus-Archiv vereinfachen; der Text ist locker aufgearbeitet und gut zu lesen; die farbigen Illustrationen sind düsterer gehalten als im Regelwerk¸ passen dadurch aber sehr gut in das "Trümmer"-Setting. Lediglich die computergenerierten Bilder zerstören manchmal den ansonsten durchgängig guten Gesamteindruck¸ da zum einen der Stil von den handgemalten Illustrationen stark abweicht und sie zum anderen zu steril und unecht wirken. Aber dennoch macht es einfach Spa߸ in dem "Archiv" zu stöbern!
Der Regelteil ist in schwarz-weiß gehalten und großzügig illustriert. Im Gegensatz zum Grundregelwerk hat man hier auf einen einheitlichen Stil der Zeichnungen geachtet - die Qualität ist hervorragend!
Inhaltlich bietet der Regelabschnitt dem Leser Informationen über den Aeskulapianer-Orden: Wie ein Doc rekrutiert wird¸ wie seine Ausbildung verläuft¸ was man sich unter Vitakinese vorzustellen hat und wie sie die Wahrnehmung des Psionikers beeinflusst. Die Beschreibung zahlreicher Laufbahnen innerhalb des Ordens (Kliniknetzwerk¸ Forschungsnetzwerk¸ Organbanken¸ Verwaltung¸ Partnerschaft¸ Sicherheit¸ Besondere Projekte¸ unabhängige Docs) ist geschickt mit Hintergrundwissen zu den entsprechenden Bereichen verknüpft. Ein kurzes Kapitel über die Aeskualpianer und die Gesellschaft und neue Iatrose¸ Mentatis und Algese-Fähigkeiten schließen den Aeskulapianer-Teil ab.
Es folgen allgemeine Informationen zu den Eigenarten Europas und den wichtigsten Ländern¸ sowie deren Besonderheiten¸ wie z.B. bestimmte Städte¸ Strukturen oder das Militär. Die Beschreibungen haben eine gleichbleibend gute Qualität und sind für einen groben Überblick über das neue Europa ausreichend.
Das Kapitel "Infos für Erzähler" ist ein wenig knapp geraten mit seinen effektiv drei Seiten Text und gibt dementsprechend nicht viel her: Ein wenig Hintergrund zu den Legionen in Europa¸ zwei Organisationen und Mutantenaktivitäten.
Auch ein Abschnitt mit neuer Technologie darf nicht fehlen. Abgeschlossen wird "Europa in Trümmern" von einem Kapitel über wichtige Aeskulapianer¸ Persönlichkeiten Europas und einige NSCs. Auch hier stößt man wieder auf Informationen und Hinweise¸ die bereits früher im Buch - und sogar im Grundregelwerk - oberflächlich angesprochen wurden!
"Europa in Trümmern" ist ein wunderbar aufgemachtes Quellenbuch¸ das nur ein Problem hat: Es will einen zu breit gefächerten Bereich abdecken. Während sich die Hintergrundinformationen für die Aeskulapianer noch ohne Probleme im Spiel einsetzen lassen¸ reichen die Beschreibungen der Länder nicht aus¸ um sofort in Europa eine Kampagne starten zu können. Auf Kartenmaterial¸ auf dem z.B. die neuen Grenzen oder Transportwege verzeichnet sind¸ wurde gänzlich verzichtet. Auch Grundrisse der Montressor-Klinik¸ dem Hauptquartier der Aeskulapianer¸ oder anderen Einrichtungen sucht man vergebens. Wenn sich ein motivierter Spielleiter allerdings ein wenig Zeit nimmt und Arbeit investiert¸ lässt sich sicherlich einiges aus dem Hintergrundmaterial machen.
Fazit:
"Europa in Trümmern" lässt sich aufgrund der guten und interessanten Texte hervorragend als Buch "herunterlesen". Es bietet viele gute Ideen¸ die aber größtenteils vom Spielleiter noch ausgearbeitet werden müssen¸ um sie auch verwenden zu können. Wer sich davon nicht abschrecken lässt¸ hat mit dem Quellenbuch ein nützliches Werkzeug zur Hand¸ jeder andere kann sich beim Lesen in das geheimnisvolle Trinity-Universum entführen lassen und beim nächsten Spieleabend mit Hintergrundwissen protzen!
Die Kapitel über die Aeskulapianer machen die Docs interessanter und vor allem hintergründiger - eine Bereicherung für jede Trinity-Runde mit Aeskulapianer-Charakter.
Und dann kommt der gesamte Stoff noch in einer Aufmachung daher¸ die im Rollenspielbereich ihresgleichen sucht: Die Anschaffung von "Europa in Trümmern" kann trotz der Einschränkungen jedem Trinity-Fan nur wärmstens ans Herz gelegt werden. Es macht einfach Spa߸ das Buch zu lesen!
Eine Rezension von: Christian Günther