Shadowrun 4.01d (4e)
Inhalt
Seit dem Erscheinen der dritten Edition sind auch schon wieder ein paar Jahre ins Land gegangen und viele Runs gestartet worden. Aber mehr und mehr zeigte sich¸ dass die Regeln zu kompliziert waren und durch die vielen Sonderregeln aus Quellenbüchern nicht konsistent waren. Für einen Neueinsteiger war es sehr schwer¸ die hochkomplexen SR3-Regeln zu begreifen und selbst abgebrühte Veteranen der Schatten hatten Tränen in den Augen bei dem Versuch¸ die Fahrzeugkampfregeln zu begreifen oder einen Decker flüssig ins Spiel zu integrieren.
Eine neue Edition musste her.
Vor einem Jahr wurde sie angekündigt und im Herbst 2005 war es dann soweit: SR4 wurde veröffentlicht! Anfangs gab es ein paar Probleme mit Lieferanten¸ aber nachdem diese behoben waren¸ kamen alle Fans in den Genuss der neuen Regeln (die mittlerweile in einer zweiten Auflage vorliegen¸ jedenfalls im Englischen).
Um die neuen Regeln - und da besonders die nun drahtlose Matrix - einigermaßen elegant ins SR-Universum einzuführen¸ wurde ein Zeitsprung vorgenommen: SR4 spielt 2070¸ also fünf Jahre nach dem letzten Sourcebook. Und wie es sich für eine neue Edition gehört¸ beginnt alles mit einem großen Knall. In diesem Fall gibt es den Crash 2.0¸ der von Terroristen gestartet wird und die Matrix in der guten alten Form beendet und viele Computernetzwerke auf dem ganzen Erdball zerstört. Angesichts der massiven Schäden und der sowieso schon bestehenden Wireless Matrix-Initiative (siehe "Europa in den Schatten") entschließen sich die Konzerne und Regierungen¸ beim Neuaufbau der Matrix auf das drahtlose System zu setzen.
Wie es genau zu dem Crash kam und wer dahinter steckt¸ wird im ersten Kapitel des GRW beleuchtet¸ in einer Geschichtsstunde mit dem legendären Decker Fastjack. Für SR-Veteranen sind die Ereignisse bis zum Crash 2.0 natürlich bekannt¸ aber Neueinsteiger werden sie höchst interessant finden. Für alle wird es dann spannend¸ was sich zwischen 2065 und 2070 getan hat. So ist z.B. Kalifornien überflutet wurden und General Saito aus San Francisco vertrieben worden. Dieser Abschnitt ist aber bewusst vage gehalten¸ damit Autoren späterer Bücher genügend Gestaltungsspielraum haben.
Nach der in-game-Geschichte kommen die Regeln und damit die großen Neuerungen. Der W6 bleibt zwar erhalten¸ aber es wird nicht mehr nur mit einer Anzahl Würfel geworfen¸ die der Stufe in einer Fertigkeit entspricht¸ sondern der Würfelpool setzt sich aus Attribut plus Fertigkeit zusammen. Klingt bekannt von World of Darkness? Die Macher haben sich klar davon inspirieren lassen¸ genau wie bei der zweiten wichtigen Neuerung: es gibt keine variablen Mindestwürfe mehr¸ stattdessen sind eine gewürfelte 5 und 6 ein Erfolg. Das Hochwürfeln der 6 entfällt damit (außer in einem Sonderfall). Um eine Probe zu bestehen¸ muss man eine bestimmte Anzahl Erfolge (im deutschen GRW unglücklich mit "Mindestwurf" übersetzt) schaffen¸ mindestens natürlich einen. Das hat zur Folge¸ dass die meisten Chars mehr als die üblichen 5-6 Würfel haben¸ aber durch den erhöhten Mindestwurf von 5 auch weniger Erfolge schaffen.
Ein weiterer neuer Punkt ist die Charaktererschaffung. Das bereits bekannte Aufbaupunktesystem ist nun das Standardsystem¸ um einen Charakter zu bauen (Alternativen werden nicht genannt)¸ wofür 400 Punkte zu Verfügung stehen¸ gleichzeitig sind Fertigkeiten und Attribute teurer geworden¸ so dass SR4-Charaktere etwas "schwächer" sind als SR3-Pendants. Magier müssen ihr Magieattribut nun hochkaufen wie jedes andere Attribut und beginnen nicht mehr mit einem gemaxten Magie-Attribut von sechs. Es wurden Obergrenzen für Attribute und Fertigkeiten eingeführt: ein Charakter darf z.B. nur eine Fertigkeit auf 6 und den Rest auf 4 oder niedriger haben.
Zwei wichtige Faktoren sind ebenfalls der Veränderung zum Opfer gefallen: Karmapool und die verschiedenen andere Pools (Kampf¸ Magie etc.) gibt es nicht mehr. Der Karmapool wurde durch einen festen Edge-Wert ersetzt¸ der im Endeffekt die gleichen Auswirkungen hat¸ aber nicht mehr automatisch steigt. Kampfpools und seine magischen und Rigger-Äquivalente wurden ersatzlos gestrichen¸ was dem Spiel einige taktische Möglichkeiten beraubt.
Ein wichtiges Feld für Veränderungen waren die Rigger- und Deckerregeln. Im Prinzip gibt es immer noch die Matrix¸ aber Hacker (wie Decker in SR4 heißen) nehmen sie nur selten komplett war¸ meistens nutzen sie die Verbesserte Realität mittels ihres Kommlinks (eine Mischung aus Laptop¸ Handy¸ MP3-Player und GPS-System). Man muss sich das so vorstellen wie das Sichtfeld vom Terminator¸ der zu vielen Dingen Zusatzinformationen einblenden konnte. Ein Kommlink empfängt fortlaufend Signale und kann so den Nutzer mit Werbung versorgen¸ E-Mails abrufen lassen oder als Telefon dienen. Das Konzept ist schwer zu beschreiben und wird im GRW nicht ausführlich erklärt¸ da wohl zu wenig Platz vorhanden war. Hacker brauchen nun also nur noch ihr Kommlink¸ um auf Computersystem zugreifen zu können und sind dank der neuen vereinfachten Regeln (man würfelt auf Programmstufe plus Systemstufe) flüssig ins Spiel zu integrieren. Rigger funktionieren im Prinzip ähnlich und können einfacher Drohnen steuern als vorher.
Bei der Magie hat sich einiges getan¸ wie nicht anders zu erwarten. Magier können Geister nur noch von Sonnenaufgang bis -Untergang (oder andersrum) beschwören¸ genau wie Schamanen. Dafür kosten ihnen die Geister kein Geld mehr (in Form von Materialien) und die Unterscheidung zwischen Elementaren und Naturgeistern wurde aufgehoben. Beide magischen Schulen können im Prinzip die gleichen Geister beschwören und sie mittels kostenaufwendiger Materialen länger binden; so wie es Hermetiker in SR3 gemacht haben. Zaubersprüche werden nicht mehr mit einer bestimmten Kraftstufe gekauft¸ sondern einfach pauschal. Die Kraftstufe wird beim Zaubern festgelegt und wenn sie das Magieattribut des Zaubernden übersteigt¸ ist der Entzug körperlicher Natur.
In Sachen Ausrüstung ist SR4 sozusagen in der Realität angekommen und hat die Preise für die meisten Sachen deutlich gesenkt. Insbesondere bei Cyberware¸ Autos und magischer Ausrüstung fällt das deutlich auf. Endlich sind Cybergliedmaßen bezahlbar geworden! Außerdem haben die Designer die leidige Gewichtsange und den Straßenindex weggelassen¸ hier muss der GMV weiterhelfen.
Das sind nur einige¸ aber meiner Meinung nach die wichtigsten¸ Neuerungen¸ die SR4 bietet. Es sollte klar geworden sein¸ dass SR4 mit seinen Vorgänger sowohl von den Spielmechanismen als auch vom Flair nicht mehr zuviel gemeinsam hat. Anstelle der Top-Runner¸ die sich mit Insektengeister¸ Kometen und Blutmagier rumschlagen¸ sind Kriminelle getreten¸ die jeden Tag ums Überleben kämpfen müssen.
Aufmachung
Über das Cover des GRW ist in vielen Foren diskutiert worden und die Meinungen gingen weit auseinander. Mir gefällt es¸ bis auf den etwas drollig aussehenden Zwergen. Im Innenteil wurden nur wenig alte Illustrationen übernommen (S.226 und 337)¸ sondern viele neue verwendet. Die reichen von genial wie die farbigen Archetypen-Zeichnungen und dem Kampfbild auf Seite 132 bis zu grausam schlecht. Einfach mal die Bilder der einzelnen Rassen anschauen (S.65 ff.) oder das talentfreie Bild auf Seite 68. Aber insgesamt gilt für die grafische Aufmachung: viel Licht und wenig Schatten.
Beim Layout ist man dem alten System der GRW treu geblieben¸ was SR-Veteranen entgegenkommt. Einzig die mitten in die Charaktergenerierung platzierten Farbtafeln (die im englischen GRW dahinter sind) und das Fehlen eines Indexes trüben die Freude. Leider setzt sich auch bei diesem Buch der Trend des schlechten Lektorats fort¸ der sich durch die letzten FanPro-Bücher gezogen hat. Falsche Seitenzahlen bei Verweisen¸ einige unglückliche Übersetzungen (Mindestwurf) und Rechtschreibfehler trüben das ansonsten gute Bild.
Fazit:
SR4 ist definitiv ein Quantensprung und bringt das leicht angestaubte SR-Regelwerk ins 21. Jahrhundert. Die Neuerungen mögen auf den ersten Blick erschreckend sein¸ räumen sie doch mit einigen lieb gewonnen Mechanismen (wie dem Kampfpool) gnadenlos auf¸ aber im Spiel werden die Vorzüge deutlich: alles läuft flüssiger¸ das System ist elegant und problemlos an verschiedene Power Level anpassbar. Das System ist einfach und gerade für Einsteiger leicht zu lernen¸ was angesichts sinkender Umsätze im Rollenspielmarkt nicht unwichtig ist.
Ich kann allen alten SR-Hasen nur raten¸ ihre Skepsis über Bord zu werfen und sich auf SR4 einzulassen - ihr werdet's nicht bereuen!
Eine Rezension von: Lars Heitmann