Tolkien und der erste Weltkrieg
Dies ist eine Rezension aus Der phantastische Bücherbriefdem monatlich von 1980 bis 2021 erschienenen Newsletter vom Club für phantastische Literatur von Erik Schreiber. |
Haben die Orks etwas mit den Nazis zu tun?
Ist Tolkiens großes Epos von Mittelerde eine Allegorie auf den Ersten Weltkrieg? Diese und andere Fragen beschäftigen von jeher die Leser. John Garth stellt diesen Spekulationen ein fundiertes und faszinierend argumentierendes Buch über den großen Autor Tolkien entgegen.
»1914 als junger Mann in all das hineinzugeraten¸ war eine keineswegs weniger schreckliche Erfahrung als 1939 … 1918 waren alle meine engen Freunde mit nur einer Ausnahme tot.« So äußerte sich Tolkien zu Deutungen¸ die im »Herrn der Ringe« eine Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg sahen. John Garth beschreibt hier zum ersten Mal ausführlich¸ wie Tolkien in seiner Jugend erlebte¸ dass die Welt um ihn in der Katastrophe versank. Gerade diese Erfahrungen prägten Tolkiens mythologische Erfindungen maßgeblich¸ in denen er seine eigene literarische Tradition begründete. Mittelerde und seine Anziehungskraft sind daher nicht aus Eskapismus entstanden¸ sondern aus dem Drang¸ das Erlebnis der Verwüstung dichterisch in eine Form zu bringen¸ die bis heute nachwirkt und fasziniert. (Verlagstext
Der Verlagstext mit der Überschrift wirkt auf den ersten Blick verstörend bis provokant. Nach dem Lesen von Tolkien und der Erste Weltkrieg muss ich sagen¸ dass es wohl eines der besten Biographien über John Ronald Reuel Tolkien darstellt. Wobei der Titel richtiger heissen müsste: Tolkien und der grosse Krieg¸ denn damals wusste man noch nichts von einem zweiten Weltkrieg¸ dass man dem ersten Weltkrieg einen Nummerierung voranstellen müsste. Es gibt zwar eine weitere Biographie¸ doch das vorliegende Buch scheint vollständiger zu sein. Aber das ist nur ein Eindruck¸ den ich im Augenblick nicht ganz genau begründen kann. Da sich dieses Jahr der erste Weltkrieg zum 100sten Mal jährt und manche Leute ihn verklären und Jubiläum feiern¸ ist es natürlich auch interessant zu lesen¸ was Tolkien dazu dachte und welche Verbindung zu seinen Werken besteht. Im englischen Sprachraum erschien das Buch zum 90sten Jahrestag des grossen Krieges.
Der Übersetzer Marcel Aubron-Bülles ist selbst Tolkien-Fan und Vorsitzender der Deutschen Tolkien Gesellschaft.
Zurück zum Buch selbst. Zur äusseren Qualität muss man nichts sagen. Die Bücher aus dem Klett-Cotta Verlag sind immer bester Qualität. Der Schutzumschlag in Sepiagelb erinnert an alte Fotoaufnahmen¸ wirkt aber etwas dunkel und unfreundlich. Das Original wirkt vom Titelbild etwas besser.
Zum Inhalt. John Garth ist der Meinung¸ dass der grosse Krieg beim 22jährigen J. R. R. Tolkien als britischer Offizier traumatische Erfahrungen hinter-lassen hat. Diese Erfahrungen eines Offiziers¸ der Sympathie für die niederen Ränge hatte¸ sich mit ihnen aber nicht befreunden durfte¸ da er sonst die militärische Hierarchie durchbrach¸ weist John Garth in dessen Mythologien nach. Garth beginnt seine biografisch organisierte Studie in der Jugendzeit des Schriftstellers. Bereits als Schüler inteeressiert sich Tolkien für altnordische Sagen und Sprachen. Als Junge faszinierten ihn die Werke von den Schriftstellern George MacDonald¸ Andrew Lang und Lewis Carroll. Auf der von ihm besuchten König Edward School in Birmingham¸ lernte er eine Reihe Schülern kennen¸ von denen einige zu engen Freunden wurden. Die Freunde trafen sich regelmässig¸ sprachen über ihre Arbeit und kritisierten sich gegenseitig. An der Universität begeistert er sich dann für vergleichende Sprach-wissenschaft. Als John Ronald Reuel Tolkien 1954 und 1955 seinen Roman Der Herr der Ringe veröffentlichte¸ sahen viele Kritiker darin eine literarische Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs. Die der Autor jedoch immer vehement ablehnte und dafür den ersten Weltkrieg als prägend nannte.
Tolkien und der Grosse Krieg erzählt erstmals die komplette Geschichte¸ wie er¸ als die Welt um ihn herum in die Katastrophe stürzte¸ auf die Schaffung von Mittelerde kam. Diese Biographie zeigt Schrecken und Heldentum¸ die er als Offizier in der Schlacht an der Somme erlebte. Um die Schrecken des Krieges zu verarbeiten stürzt sich Tolkien in altnordische Sagen¸ entwickelt eine eigene Sprache namens Quenya und schreibt sich diese von der Seele. Wie kommt es jedoch¸ dass ein junger Mann mitten im Grossen Krieges mit der Arbeit an einem altertümlichen¸ vorchristlichen Mythos beginnt? Hätte er es dennoch gemacht¸ wenn er gewusst hätte¸ dass er die moderne Fantasy-Literatur begründen wird? Bei seinen Recherchen stützt sich John Garth hauptsächlich auf die Briefe¸ die sich Tolkien und seine engsten Schul- und Studienfreunden gegenseitig schreiben. Tolkien schien sich immer in Gesellschaft von intelligenten Menschen wohl gefühlt zu haben. In ihrem Kreis über seine Arbeit zu reden¸ beflügelte wohl seine eigenen Gedanken. Gerade die Gruppe¸ die sich TCBS nannte¸ war sehr erfolgreich in ihren Werken. Doch alle mussten in den grossen Krieg¸ von denen nur Tolkien und Wiseman zurückkamen. John Garth geht von der Prämisse aus¸ Tolkiens Mythologie ist eine literarische Reaktion auf sein Trauma ausgelöst vom Grossen Weltkrieg. Tolkiens Welt ist durchdrungen von den leidvollen Lebenserfahrungen eines 22jährigen Mannes¸ der die Hälfte seiner Freunde im Krieg verlor. John Garth greift all diese Themen auf und ermöglicht einen neuen Blick auf Tolkien. Dies ist eine von Grund auf neue Biographie über Tolkien.
Ein unglaublich berührendes Porträt¸ nachdenklich¸ einfühlsam¸ gut geschrieben. Ein Werk über vier Freunde und die Leiden¸ die auf die Männer eines historischen Ereignisses zukamen. Diese Biographie wird Ihnen einen neuen Blickwinkel auf das Werk des Begründers der High-Fantasy geben. Eine lohnende Lektüre. Eine der wichtigsten und gründlichst recherchierten Arbeiten über J. R. R. Tolkien.
Eine Rezension von: Erik 'vom Bücherbrief' Schreiber https://www.facebook.com/erik.schreiber.355