Tänzer im Frost
Hoch oben in den Bergen der schottischen Highlands lebt das Volk der Schneehasen. Hier¸ wohin die Menschen sich selten verirren¸ führen die einzelnen Clans - ungeachtet ihrer zahlreichen Feinde¸ die ein Stück wohlschmeckendes Hasenfleisch zu schätzen wissen - ein geruhsames Dasein.
In dieser Welt wächst Flitzer vom Clan der Geröller auf. Der junge Hase unterscheidet sich von seinen Artgenossen; er ist wissbegierig¸ und er macht sich Gedanken über die Welt jenseits des Hochlands. Seine geistige Gewandtheit ist von Vorteil¸ als aus heiterem Himmel eine Katastrophe über den Geröller-Clan herein bricht: Menschen treiben die Hasen zusammen¸ setzen sie gefangen und verschleppen sie ins Flachland¸ wo sich Flitzer und einige andere Clans-Mitglieder auf einem Bauernhof wiederfinden.
Der Schrecken der Hasen steigert sich zu blankem Entsetzen¸ als sie feststellen müssen¸ dass sie auf einer Treibjagd zum Vergnügen der Menschen gehetzt und getötet werden sollen. Die meisten Hasen kommen um¸ doch Flitzer¸ der die Augen offen gehalten hat¸ findet die Schwachstelle in der Treiberkette und kann entkommen.
Allein in der Fremde des Flachlandes¸ versucht Flitzer¸ in seine Heimat zurückzufinden. Doch ein einzelner Hase¸ der ungedeckt über die Felder zieht¸ schwebt ständig in Gefahr. In seiner Not schließt er sich zeitweise einem Kaninchen-Stamm an¸ der dem Unbekannten zunächst eher widerwillig Asyl gewährt¸ bis man einander besser kennen und schätzen lernt. Doch Flitzer zieht bald weiter. Er denkt daran¸ sich im Flachland niederzulassen. Die Kaninchen haben ihm von einem Platz erzählt¸ der ihm zusagen könnte. Freilich warnen sie den Hasen eindringlich: An jenem Ort soll der Floger¸ ein fliegender Teufel¸ hausen¸ dem kein anderes Tier gewachsen ist.
Flitzer schlägt die Warnungen in den Wind¸ ohne zu ahnen¸ dass er sich in Lebensgefahr begibt: Der Hase gerät in das Reich Bubbas¸ des riesigen Harpyie-Adlers¸ der sich zum Herrn des Flachlandes aufgeschwungen hat. Auch der Floger ist ein heimatloser Fremder; aus seiner südamerikanischen Heimat hat man ihn über den Atlantischen Ozean nach England gebracht¸ wo er seiner Gefangenschaft entkommen konnte. Gestrandet in einer ihm fremden Umgebung und völlig allein¸ hat sich sein Geist verwirrt. Gnadenlos terrorisiert er seine Umgebung und tötet aus reiner Mordlust.
Auch im Flachland leben Hasen - die Kolonie der Mondhäsin¸ die Flitzer mit einigem Misstrauen entgegentritt. Doch schließlich nimmt sie den Fremden auf¸ und in den folgenden Monaten beginnt sich Flitzer einzuleben. Die ständigen Attacken des Flogers gedenkt der Schneehase nicht als unausweichliches Schicksal zu akzeptieren. Ein Feind¸ den man kennt¸ ist weniger gefährlich - das ist sein Standpunkt¸ und folgerichtig beginnt er mit dem schwierigen und gefährlichen Unterfangen¸ den geflügelten Feind auszukundschaften. Doch ein Hase ist kein Spürhund¸ wie Flitzer bald schmerzhaft erfahren muss ...
Tiere¸ die sich wie Menschen benehmen¸ bevölkern die Literaturgeschichte schon seit vielen Hundert Jahren. Fabeln¸ gleichnishafte Geschichten¸ in denen bestimmte menschliche Wesenszüge auf bestimmte Tierarten projiziert wurden¸ um sie auf diese Weise umso plastischer darzustellen¸ sind seit dem griechischen Altertum (7. Jh. v. Chr.) bekannt¸ doch gibt es offensichtlich noch ältere Formen aus dem indischen Raum.
"Tänzer im Frost" ist natürlich keine klassisch-strenge Fabel¸ sondern eine Tier-Fantasy¸ ein ungleich jüngeres Subgenre der fantastischen Literatur¸ das seine Leser nicht mehr belehren¸ sondern "nur" noch unterhalten möchte. Auch diese Tiere verhalten sich nicht "artgerecht"¸ sondern agieren als Spiegelbilder menschlicher Verhaltensweisen. Der Grund ist ebenso einfach wie einleuchtend: Das Leben eines echten Hasen verläuft recht wenig prosaisch und ist nur für den eingefleischten Biologen von besonderem Interesse.
Seltsamerweise legen gerade die modernen Autoren von Tier-Fantasy großen Wert darauf¸ ihre "menschlich" denkenden und handelnden¸ d. h. absolut irrealen Protagonisten in eine Welt zu setzen¸ die streng den Gesetzen der Ökologie gehorcht. Das hat gewisse Konsequenzen¸ die recht erheiternd sein können. So kann kaum ein Autor solcher Tiergeschichten der Versuchung widerstehen¸ seine Figuren in eine Art Paradies nach "Greenpeace"-Zuschnitt zu versetzen. Auch Kilworths Hasenkolonie erinnert stark an eine alternative Landkommune (oder einen unentdeckten Eingeborenen-Stamm)¸ deren Mitglieder ein harmonisches Leben im Einklang mit Mutter Natur führen und dafür mit innerem Frieden und guter Verdauung belohnt werden.
In einer Welt "menschlicher" Hasen darf natürlich die Religion nicht fehlen. Ein Leben am Busen der Natur scheint ohne Mythen und Mysterien nicht möglich zu sein. Echte Hasen sind vermutlich Atheisten¸ aber Garry Kilworth lässt sich die Chance nicht entgehen¸ seine Leser in die exotische Welt nagetierischer Religion einzuführen. Diese trägt irgendwie indianische Züge¸ was für britische Hasen reichlich eigenartig wirkt.
Garry Kilworth (geboren 1941) gehört zu jenen Autoren¸ die sich durch Fleiß und Beständigkeit auszeichnen. Begonnen hat er seine schriftstellerische Laufbahn mit dem ehrgeizigen Science-Fiction-Roman "In Solitary" (1977). In den folgenden Jahrzehnten verlegte sich Kilworth auf eher "leichte" Kost¸ ohne jedoch in Routine zu erstarren - das belegen zahlreiche Preise¸ darunter so renommierte Auszeichnungen wie der "British Science Fiction Award" und der "World Fantasy Award".
Kilworths schriftstellerische Bandbreite ist groß. Er schreibt Science-Fiction¸ Fantasy und Horror¸ aber auch historische Romane und "normale" Belletristik. Darüber hinaus hat er sich einen Namen als Autor von Kinderbüchern gemacht¸ für die er ebenfalls mehrfach ausgezeichnet wurde. (Angaben zur Person und zur Werk lassen sich übrigens der Website des Schriftstellers entnehmen¸ die er mit einigem Aufwand und Liebe zum Detail offenbar selbst pflegt: http://www.garry-kilworth.co.uk.)
"Tänzer im Frost" ist nicht Garry Kilworths erster oder einziger Ausflug in die Tier-Fantasy. Er hat er sich sogar zu einem Spezialisten entwickelt¸ der sich anscheinend vorgenommen hat¸ nach und nach der Tierwelt der gemäßigten Klimazonen ein literarisches Denkmal zu setzen. So hat er sich mit seiner Feder neben dem Hasen bereits dem Fuchs ("Füchse unter sich"/"Hunter's Moon"; 1989)¸ der Maus ("Im Reich der Mäuse"/"House of Tribes"; 1995) und dem Wolf ("Fürst der Wölfe"/"Midnight´s Sun"; 1990) gewidmet.
Der Hase genießt in der Kunst- und Literaturgeschichte seit jeher eine Sonderstellung. (Einen guten und überdies amüsanten Abriss bietet das von Klaus Wagenbach 1983 herausgegebene - leider vergriffene - Wagenbach-Taschenbuch-Bändchen Nr. 100: "Karnickel¸ Karnickel".) Als Symbol der Fruchtbarkeit wird er schon in frühgeschichtlicher Zeit verehrt. Sogar die rabiate Einführung des Christentums hat er glänzend überstanden - als "Osterhase" getarnt¸ konnte er seine besondere Stellung bis heute behaupten und hat als "Meister Lampe" buchstäblich sprichwörtliche Bedeutung erlangt. (Ganz zu schweigen von "Mümmelmann"¸ dem Hermann Löns 1909 zu literarischem Ruhm verholfen hat.)
Dennoch musste der Hase vor einigen Jahren seine Spitzenposition in der ewigen Bestseller-Liste der Tier-Fantasy räumen¸ und zwar für seinen "kleinen Vetter"¸ das Kaninchen. Mit Tolkien"scher Sprachgewalt hat 1972 Kilworths Landsmann Richard Adams mit "Unten am Fluss" ("Watership Down") einen modernen Klassiker des Genres veröffentlicht (der 1979 sogar verfilmt wurde).
Ein solches Meisterwerk ist Garry Kilworth nicht gelungen. Das trübt aber in keiner Weise das Vergnügen an seinem spannenden¸ flüssig erzählten und mit "Menschenwerk" unterfütterten¸ aber nicht überfrachteten Roman. Besonders mit dem schizophrenen Adler Bubba¸ der weit mehr als der tumbe Bösewicht einer Märchenwelt ist¸ hat Kilworth einen Charakter ins Leben gerufen¸ der im Gedächtnis haftet.
Eine Rezension von: Michael Drewniok http://www.buchwurm.info/