The Dungeon Alphabet
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Das universelle Rollenspiel-Fanzine Greifenklaue wurde bereits 1997 von Mitgliedern der Pfadfindergruppe Mantikore als gedrucktes A4-Heft ins Leben gerufen und eroberte ab 2005 auch das Internet. Neben dem gedruckten Fanzine betrieb Ingo aka "Greifenklaue" vor allem einen Blog, einen Podcast und ein eigenes Forum. Zur großen Bestürzung der Rollenspiel-Szene verstarb Ingo Schulze am Freitag den 26.11.2021. |
Vorweg – dies ist kein Buch für jedermann/-frau. Um The Dungeon Alphabet von Michael Curtis (erschienen bei Goodman Games, nur auf Englisch) wirklich bewerten/genießen zu können, muß man mit Historie, Eigenarten, dem Sinn und Zweck, ja, der ganzen Idiosynkrasie von "Verliesen" (Dungeons) vertraut sein. Und vor allem: man muß Dungeons lieben und den Old-School-RPG-Look (späte 70er bis frühe 80er) mögen. Da ich behaupte, diese Voraussetzungen zu erfüllen, folgt nun eine kurze Besprechung eines Buches, daß voreingenommener, eingleisiger und beschränkter kaum sein könnte – gleichzeitig aber auf seinen knapp 50 Seiten so grenzenlos, nützlich und lesenswert ist, wie ich es in letzter Zeit selten vor der Nase hatte.
Michael Curtis fordert in seiner lesenswerten Einleitung, neben anderen Dingen, daß man seinen rationalen Verstand gleich mal hintanstellt, damit man The Dungeon Alphabet wirklich gebrauchen kann. Logik – auch die Pseudo-Logik "plausibler" Fantasywelten – steht mitunter dem Erleben von echten Abenteuern im Wege. Und sie behindert, so impliziert es Curtis, allzu oft jene wilden, undurchdachten Ideen, die in Folge zu bunten, unvergeßlichen Erlebnissen und Begegnungen im Rollenspiel reifen können. Für all jene, die in der Lage sind, ihre modernen Denkmuster abzulegen, möchte The Dungeon Alphabet Inspiration und Unterhaltung sein. Und das, soviel sei vorweg genommen, schafft das Buch.
Was beim schnellen Durchblättern als Sammlung unzusammenhängender Würfeltabellen wirkt, ist bei näherem Hinsehen… eine Sammlung unzusammenhängender Würfeltabellen. Eine alphabetisch sortierte Sammlung unzusammenhängender Würfeltabellen. Aber in den einzelnen Zeilen dieser Tabellen verbergen sich Momente, Stunden und Universen voller Möglichkeiten. Beginnend bei A (wie Altäre), wie es sich für ein anständiges Alphabet gehört, geht Curtis Buchstabe für Buchstabe durch, und bietet zu jedem ein Element, ein Merkmal oder ein Schlagwort aus 30 Jahren Verliesgeschichte. Und diesen Buchstaben begleitet dann (neben einer kurzen Einleitung, die fett gedruckte Wörter als weitere Einträge im Buch markiert) eine mal längere, mal kürzere Würfeltabelle, deren einziger Daseinszweck es ist, den Spielleiter zu inspirieren, sich mit Hilfe des gewürfelten Zufalls auf eine kleine Gedankenreise zu begeben. Das Ziel dieser Reise ist meist eines, zu dem man ohne dieses Rüstzeug nie gelangt wäre. Okay, bevor ich zu sehr ins Schwafeln gerate, will ich das mal an einem oder zwei Beispielen konkretisieren.
R steht für Raum (Room). Wie jeder weiß, ist ein ordnungsgemäßes Verlies nix ohne Räume, Kammern und Hallen. Aber wenn es dort nichts zu entdecken oder zu bekämpfen gibt, werden solche Räume in der Vorstellung meist zu genau den weißen, leeren Kästchen, wie die Spieler sie auf ihrer Verlieskarte zu sehen bekommen. Doch das solche Räume viel lebhafter in Erinnerung bleiben können, läßt sich mittels der aufgeführten Tabelle und 2W10 bewerkstelligen… ich würfele mal: 15 – Beschleunigte Zeit: Wird die Tür zu dem Raum geschlossen, vergehen innerhalb des Raums 24 Stunden für jede Stunde, die außerhalb verstreicht. Noch ein Wurf: 8 – Absaugender Raum: der Raum entzieht Gesundheit, eingeprägte Zauber, magischen Ladungen, Erfahrungsstufen, etc. pro zehn Minuten, die man in ihm verbringt; die entzogene Energie könnte fiese Fallen betreiben oder für eine spätere Verwendung gespeichert werden. Ein letzter Wurf: 19 – statische Aufladung: Die Atmosphäre in dieser Kammer wird stark mit statischer Elektrizität aufgeladen, die sich entlädt, wenn eine lebende Kreatur Metall oder eine andere Kreatur berührt und eine geringe Menge Schaden verursacht.
Doch kein Raum ohne Tür! Türen verheißen Entdeckung, Spannung und Ungewißheit. Doch allzu oft sind sie lediglich langweilige Hindernisse aus Holz. Hier bietet der Buchstabe D für Türen (Doors) ebenfalls 20 zufällig bestimmbare Eigenschaften bzw. Beschreibungen an, die vielleicht die nächste Tür etwas interessanter erscheinen lassen. Schnell gewürfelt: 15 – Die Tür ist von abnormaler Größe (klein oder groß) und Form (dreieckig, sechseckig, rund, etc). Nochmal: 1 – Die Tür kann aufgrund von verbogenen Scharnieren, verzogenem Holz oder gesplittertem Rahmen, etc. nicht vollständig geschlossen werden. Okay, ein letzter Wurf: 18 – Die Tür ist in Wirklichkeit ein verkleidetes Monster.
Auf diese Weise versucht Curtis bei 24 weiteren Buchstaben, dem Verlies Leben, Beschreibung und CharakterABENTEUER einzuflössen. The Dungeon Alphabet ist ein systemfreies Quellenbuch; Spieltechnisches findet sich – mit Ausnahme von Würfelabkürzungen – nicht im Buch. Dummerweise begeht Curtis den (im Grunde unentschuldbaren) Faux Pas, auf vielen Tabellen mit 2 oder mehr Würfeln würfeln zu lassen, deren Ergebnisse dann zusammengezählt werden. Dadurch entsteht eine "glockenförmige" Wahrscheinlichkeitsverteilung, die manche Tabelleneinträge viel häufiger als Ergebnis generiert als andere. Ich denke nicht, daß dies eine gewollte Sache ist, da die entsprechenden Einträge den Schluß nicht nahelegen. Wie dem auch sei, hier hätte ein echter "Old Schooler" mehr Sorgfalt walten lassen sollen.
The Dungeon Alphabet ist reine Inspiration; eine Inspiration von der Sorte, die sich nicht um neuerliche Story-Konventionen schert oder Zugeständnisse an eine etwaige "inhärente" Kampagnenweltlogik macht. Es werden nicht die Migrationsgewohnheiten von Orkstämmen unter Berücksichtung des letzten großen zwischenweltlichen Götter-Exoduses in die Würfeltabellen mit einbezogen. Die Dungeon-Alphabet-Inspiration ist eine wilde, freie und ungehemmte Quelle, die das Absurde gern mal zur Norm erhebt und auch den Spieler hinter dem Charakter überraschen möchte. Daher ist auch eindeutig klar zu stellen: vorgekautes und spielfertiges wird der vorbereitungsgebeutelte SL hier nicht finden! Die vielen Fragen und Wege, die durch einen Würfelwurf auf den enthaltenen Tabellen aufgeworfen bzw. freigelegt werden, gilt es selbst zu beantworten oder weiter zu gehen. Sie sind wie Trittsteine, über die man an neue, bislang ungedachte Orte und Möglichkeiten gerät. Und in diesem Hinblick ist The Dungeon Alphabet von Michael Curtis ein echter Zugewinn. Gerade auch für die nicht mal zehn Euro, die das Hardcover-Buch als Import kostet.
Ich schlage nochmal eine andere Seite im Buch auf… hm, ich nehme mal Seite 41: W steht für Wundersames (Weird). In klassischen Dungeons sind jede Menge seltsame und abgedrehte Dinge bzw. Ereignisse enthalten – die meist seltsamer und abgedrehter werden, je tiefer man eindringt. Und jedes davon steht für ein Geheimnis, ein Mysterium, daß es zu erleben und zu erklären gibt. Eine Tabelle mit zwölf Einträgen (W12) soll uns inspirieren. Ich würfele eine 7 – Eine Treppe, die völlig abrupt an einer Steinwand endet. Der zweite Wurf: 11 – Eine Wolke leuchtender Staubpartikel schwebt an schwer zugänglichen Stellen in der Luft, etwa auf einer hohen Galerie, auf der gegenüberliegenden Seite eines tiefen Abgrunds, oder auf der Spitze einer Steinsäule. Ein letzter Wurf: 5 – Ein normales Tier, daß aber in einem Verlies fehl am Platze wirkt, wie etwa eine Katze, ein Reh, ein Frettchen oder ein Kanarienvogel, wird hin und wieder von den Abenteurern gesehen; es taucht immer nur in einiger Entfernung auf und kann allen Versuchen, ihm zu folgen oder es zu fangen, leicht entfliehen.
Vielleicht ist es ja auch ein Kanninchen, daß immer wieder durch ein Loch in einer Wand entkommt. Wer weiß, zu welchen "Wunderländern" diese simplen Tabellen den Spielleiter/Leser entführen können?
[Olaf "Argamae" Buddenberg]
Eine Rezension von: Olaf 'Argamae' Buddenberg https://greifenklaue.wordpress.com/