Priesterin der Insel
Unter dem Titel "Die Priesterin der Insel" ist 2003 Juliet Marilliers "Wolfskin" auf Deutsch erschienen¸ der erste von zwei Bänden aus der Saga of the Light Isles¸ der nun auch als Taschenbuch bei Knaur vorliegt.
Eyvind und Somerled sind zwei Jungen¸ wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Der eine¸ unkompliziert und gutmütig¸ wünscht sich nichts sehnlicher¸ als ein Wolfskrieger zu werden¸ ein Erwählter des Kriegsgottes Thor¸ und für seinen Jarl¸ seinen Anführer¸ auf Beutezug zu gehen. Der andere¸ zurückgezogen und unauslotbar¸ will unbedingt einmal König werden. Eine Bluteid bindet die beiden eng aneinander¸ enger als Brüder.
Als Somerleds älterer Bruder Ulf zu einer Expedition nach Westen aufbricht¸ um eine Inselgruppe zu suchen¸ die jenseits des Piktenlandes im offenen Meer liegen soll¸ sind auch Eyvind und Somerled mit dabei. Ulf wünscht sich für sich und seine Männer nichts weiter¸ als in friedlichem Einvernehmen mit den dortigen Ureinwohnern auf diesem Land zu siedeln und zu leben. Doch es kommt alles ganz anders ...
Nachdem Juliet Marillier in ihrer Sevenwaters-Trilogie von Konflikten zwischen Iren und Briten erzählte¸ hat sie sich diesmal den Wikingern zugewandt. Und wie mit ihrem Erstlingswerk ist es ihr auch mit diesem Buch gelungen¸ eine faszinierende Geschichte zu erzählen.
Eigentlich sind es zwei Geschichten.
Der eine Strang dreht sich um die Ankunft der Wikinger auf den Orkneys¸ die von den dort lebenden Pikten als Helle Inseln bezeichnet werden. Ulf ist ein Visionär¸ die Entdeckung und Besiedlung dieser Inseln sein Lebenstraum. Doch über seinem Haupt schwebt eine düstere Prophezeiung¸ und es scheint¸ dass er stets fürchtet¸ nicht genug Zeit zu haben¸ um sein Werk zu Ende zu bringen¸ so erfolgreich es sich auch anlässt. Und nicht alle teilen seine Vision. Ein friedliches Leben zwischen Viehpferch und Ackerfurche ist für einen Wolfskrieger einfach unvorstellbar.
Der andere Strang dreht sich um die Freundschaft zwischen Eyvind und Somerled. Es ist eine ganz eigene Beziehung zwischen den beiden¸ schwer nachvollziehbar und deshalb sehr sorgfältig aufgebaut¸ fast die ganze erste Hälfte des Buches dreht sich darum. Eyvind glaubt an seinen Freund¸ er allein. Er wei߸ dass Somerled die Fähigkeiten und den Willen dazu hat¸ tatsächlich König zu werden¸ wie er es sich erträumt. Aber Somerled ist nicht ganz einfach und stellt Eyvinds Geduld oft genug auf eine harte Probe.
Somerleds Hass gegen Ulf bildet die Verbindung zum ersten Erzählstrang¸ der erst in der zweiten Hälfte des Buches relevant wird. Und so wird Somerled zum Dreh- und Angelpunkt der ganzen Geschichte.
Somerled ist ein verschlossener Mensch. Er trägt fast ununterbrochen eine Maske aus Selbstbeherrschung¸ und selbst in den wenigen Augenblicken¸ da diese Maske schwindet¸ verrät er niemals wirklich¸ was er denkt oder fühlt. Dennoch zeigt sich schon früh an seinem Tun und an seinen Reaktionen¸ dass er ein sehr zwiespältiger Charakter ist. Eyvind kann nicht immer nachvollziehen¸ worum es Somerled eigentlich geht und was ihn treibt. Da die Geschichte größtenteils aus Eyvinds Sicht erzählt ist¸ bleibt Somerled für den Leser ebenso ein Buch mit sieben Siegeln¸ wie er es für Eyvind ist.
Nur in einem ist der Leser schneller als Eyvind: Er wird schneller misstrauisch. Eyvind ist nicht wirklich schwer von Begriff. Aber er ist durch einen Bluteid an Somerled gebunden. Somerled ist sein Freund. Und Eyvind gehört zu der Sorte von Menschen¸ die von anderen lieber nur das Beste glauben. Doch auf lange Sicht wird Somerleds Verhalten für Eyvind zur Zerreißprobe.
In einem Buch¸ in dem es um Hass¸ Eifersucht¸ Neid und Machtgier geht¸ kommt es irgendwann auch unvermeidlich zum Kampf. Waffengewalt ist hier aber eher eine Randerscheinung. Die Stärke des Buches liegt in der Darstellung der Charaktere und ihrer Entwicklung¸ wobei das Augenmerk hauptsächlich auf Eyvind liegt. Nicht umsonst lautet der Originaltitel des Buches "Wolfskin". Die Vermutung liegt nahe¸ dass der zweite Band mit dem Titel "Foxmask" sich eingehender mit Somerled beschäftigt. Dieser Band ist allerdings auf Deutsch noch nicht erschienen.
War "Die Tochter der Wälder" als Nacherzählung von Andersons "Die zwölf Schwäne" noch ganz im Bereich der Fantasy angesiedelt¸ so hat sich die Gewichtung in "Die Priesterin der Insel" mehr in Richtung Historienroman verschoben. Auch hier geht es um Rituale und Mysterien wie Ahnenbeschwörung und anderes¸ doch dient dies eher der Darstellung des kulturellen Hintergrunds der Pikten im Gegensatz zu den Wikingern.
Allen Büchern gemeinsam ist jedoch die wunderbare Sprache der Autorin¸ mit der sie Stimmungen¸ Gefühle und Gedanken beschreibt¸ die den Charakteren ihre Tiefe verleihen¸ und deren Feingefühl sich in der gekonnten Beschreibung von Kleinigkeiten wie Gesten und Blicken ausdrückt¸ die großteils unbeachtet¸ aber als eigene Sprache ebenso bedeutungsvoll sind wie das gesprochene Wort.
Die Autorin lässt sich viel Zeit in der Anlage der Charaktere und den Beziehungen zwischen ihnen¸ vor allem zu Beginn. Das macht auch diesen Band zu einer eher ruhigen Lektüre¸ was nicht heißen soll¸ dass er nicht spannend wäre¸ im Gegenteil. Wer in der Lage ist¸ sich in die Hauptpersonen hineinzuversetzen¸ ist auch imstande mitzufiebern¸ wenn die Spannung mit der Zuspitzung auf das Ende hin kräftig anzieht.
Freunde von rasanter Action werden hier wenig auf ihre Kosten kommen. Wem jedoch die Sevenwaters-Trilogie gefallen hat¸ der liegt auch mit diesem Buch nicht falsch.
Außer der Sevenwaters-Trilogie und der Saga of the Light Isles hat Juliet Marillier auch mehrere Fantasy-Kurzgeschichten geschrieben. Im Augenblick arbeitet sie an der Fantasy-Trilogie The Bridei Chronicles¸ einem Zyklus über das Reich der Pikten im letzten Jahrhundert vor Christus¸ dessen erster Band auf Englisch bereits erschienen ist unter dem Titel "The dark mirror".
Juliet Marillier war lange Zeit als Dozentin für Musikgeschichte¸ Gesangslehrerin und Chorleiterin tätig¸ ehe sie sich 2002 zurückzog¸ um sich der Schriftstellerei zu widmen. Sie lebt in Neuseeland¸ in der Nähe von Perth.
Eine Rezension von: Birgit Lutz http://www.buchwurm.info/