Narbe
Fremdartige Welt
"Am Rande der Felsplatten¸ wo kaltes¸ helles Wasser einer schleichenden Dunkelheit weicht¸ ist ein Cray auf der Jagd. Er entdeckt ein Wild¸ und unter kehligem Schnalzen und Schnattern nimmt er seinen Jagdkalmar die Kappe ab und lässt ihn schwimmen. Der Kalmar schießt davon¸ hin zu der Schule fetter Makrelen¸ die als Wolke sechs Meter über ihnen wogt und wallt.[...]
Der Cray überlässt seinem Kalmar Kopf und Schwanz der Makrele¸ den blutenden Rumpf lässt er in einem Netzbeutel an seinem Gürtel gleiten.
Der Oberkörper des Cray¸ der humanoide¸ ungepanzerte Teil¸ reagiert empfindlich auf subtilste Veränderungen von Tiede und Temperatur. Jetzt spürt er ein Prickeln auf der bleichen Haut¸ als komplexe Strömungen ihn umspü len und ineinander fließen. Mit einem scharfen Ruck ballt sich die Makrelenwolke zusammen und blitzt über das krustige Riff hinweg.
Der Cray hebt den Arm und winkt den Kalmar heran¸ beruhigt ihn sanft. Er befühlt seine Harpune."
China Mievielle hatte bereits mit Perdido Street Station zahlreiche Preise gewonnen und seine Leser mit einer fulminant ausgearbeiteten Alternativwelt¸ einem viktorianischen London¸ in dem Menschen mit Insektenköpfen¸ Kakteenleuten¸ fliegende Menschen -Garudas und dampfgetriebenen Computer nur ein kleiner Teil des fremdartigen Szenarios waren. Schnell hat das Buch sich zu einem Bestseller entwickelt¸ ebenso schnell wurden Rufe nach der Fortsetzung der Geschichte laut.
Jetzt gibt es ein Nachfolgebuch¸ aber es ist keine Fortsetzung. Es spielt zwar auf derselben Welt¸ aber nicht in New Crobuzon und auch die Figuren sind andere. Diesmal erleben wir die schwimmende Armada¸ eine Stadt aus Schiffen¸ die zusammengekettet ü ber die Meere zieht und von Piraterei lebt.
Wieder bietet der Autor dem Leser eine Fülle fremder Lebensformen¸ sorgfältig ausgearbeitet und überzeugend dargestellt¸ darunter Anopheles-Menschen¸ deren Männer von Blüten leben¸ deren Frauen aber alles aussaugen¸ was Blut hat.
Auf diesem Hintergrund entwickelt er die Geschichte von Bellis¸ die aus New Crobuzon fliehen muss¸ von Piraten in die Stadt Armada gebracht wird und¸ weil sie die Einzige ist¸ die die Sprache Hoch-Kettai kann¸ von den Piraten ausgewählt wird¸ um ...
Aber nein¸ das verrate ich hier nicht. Denn Mieville entwickelt nicht nur eine faszinierende Welt¸ sondern lässt darauf eine Geschichte spielen¸ die dafür sorgt¸ dass der Leser das Buch nicht mehr aus der Hand legen mag¸ bevor er nicht die letzte Seite gelesen hat. Und auch dann möchte er weiterlesen¸ denn das ist der erste Band der Geschichte um die Narbe¸ der zweite "der Leviathan" ist gerade erst erschienen.
Dabei widerspricht diese Geschichte mit ihren fremdartigen Rassen und ihrer spröden Heldin so sehr allen gängigen Bücher-Marketingregeln. Wenn es nicht im angloamerikanischen Raum bereits ein Erfolg gewesen wäre¸ hä tte sich vermutlich kein deutscher Verlag für dieses Buch erwärmen können. Das zeigt einmal mehr¸ mit welcher Vorsicht diese "das verkauft sich nicht"-Regeln zu genießen sind.
Über den Autor:
China Miéville studierte bis zu seinem ersten Abschluss in Cambridge und machte dann seinen Master an der London School of Economics. Mit King Rat schuf er einen Geheimtipp¸ Perdido Street Station gewann mehrere Preise und auch die Narbe dürfte wieder ein Bestseller werden. Ein Interview mit dem Autor Buch findet sich bei Amazon.
Eine Rezension von: Hans Peter Röntgen http://www.textkraft.de