Könige von Albion
Es begibt sich im Jahre des Christengottes 1459¸ dass der Kaufmann Ali ben Quatar Mayeen¸ geboren nahe Damaskus¸ auf die wohl merkwürdigste Reise seines Lebens geht. Schon mehrfach hat es ihn¸ der ein rechter Sindbad auf den Meeren der bekannten Welt ist¸ nach "Ingorland" verschlagen¸ jene verregnete Insel hoch im Nordwesten Europas¸ die von unzivilisierten¸ grobschlächtigen und ständig Krieg führenden Barbaren bewohnt wird. Dort kauft Ali Wolle und versucht sich an der Einführung eines Getränkes¸ das man einst ”Kaffee” nennen wird.
Dieser Broterwerb ist recht riskant. Die Engländer führen fast traditionell Krieg gegen die Franzosen¸ vor allem aber untereinander. Es geht um Macht und Religion¸ aber so recht durchschaut Ali das nicht; sein Interesse hält sich ohnehin in Grenzen. Das rächt sich¸ als ihn eines Tages ein Mönch anspricht¸ der ihm aufträgt¸ eine Botschaft in das ferne Reich Vijayanagara zu tragen. Ali lehnt zunächst ab¸ zumal sich besagter Mönch als Ketzer und Landesverräter entpuppt und umgehend von den Behörden auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Der Gast aus dem Morgenland empfiehlt sich unauffällig¸ aber als kurz darauf die Geschäfte schlecht gehen¸ beschließt Ali des "Mönches" Nachricht zu überbringen und hofft auf die hoffentlich lukrative Dankbarkeit des Empfängers.
Vijayanagara liegt in Südindien¸ beherrscht wird es vom Prinzen Harikara Raya Kurteishi. Es steht schwer unter dem Druck der muslimischen Nachbarn. Der Prinz schickte deshalb vor Jahren seinen Bruder Jehani nach England¸ um dort Waffen zu kaufen und Söldner zu werben. Stattdessen geriet Jehani in eine mysteriöse Verschwörung und gilt als verschollen. Nun trägt Ali frohe Kunde ins Reich: Des Prinzen Bruder lebt¸ aber er ist verletzt und muss sich verbergen.
Harikara beschließt Jehani höchstpersönlich zu retten. Der überraschte Ali sieht sich als Führer angeheuert. Mit seinem Anhang macht sich der Potentat aus dem fernen Osten auf in die Fremde - und gerät nicht nur in eine exotisch fremde¸ kaltfeuchte¸ düstere Welt¸ sondern sogleich in die Wirren der "Rosenkriege"¸ deren notorisch misstrauische und verfeindete Parteien den in ihrer Mitte erschienenen braunhäutigen Gästen viel Misstrauen entgegenbringen.
Über das Genre des historischen Romans haben sich zu Recht schon viele Rezensenten missmutig ausgelassen. Da ist es eine angenehme Abwechslung¸ ein Werk uneingeschränkt loben zu können. "Die Könige von Albion" bieten ein wunderbares Stück literarischer Unterhaltung. Handlung¸ Personenzeichnung¸ Stil - da gibt es wirklich nichts zu meckern.
Es beginnt bereits mit einem originellen Ansatzpunkt. Die Geschichte spielt in England¸ aber sie wird von völlig Ortsfremden erlebt. Das gestattet dem Verfasser einen (scheinbar) objektiven Blick auf Land und Leute. England erstrahlt in einem doppelt fremden Licht: Es leuchtet über einer mittelalterlich unerforschten Welt und wird gebrochen in den Augen der Gäste aus dem wahrlich fernen Vijayanagara.
Die Idee ist nicht neu; so ließ u. a. auch Michael Crichton in "Eaters of the Dead" (dt. "Die ihre Toten essen"¸ zum Film als "Der 13te Krieger" umgetitelt) einen gebildeten Morgenländer in den barbarischen Norden reisen. Eine wirklich gute Story erkennt man indessen daran¸ dass sie sich variieren lässt¸ ohne ihre Anziehungskraft einzubüßen.
Neben der spannenden Geschichte aus einer turbulenten Zeit nutzt Autor Rathbone die Gelegenheit¸ seine Landsleute einer Art Untersuchung zu unterziehen: Was macht den Engländer eigentlich so typisch "britisch" und wie hat sich das entwickelt? Das interessiert ihn mehr als die bis ins Detail beschriebene Rekonstruktion des 15. Jahrhunderts - er sei ohnehin kein Historiker¸ wird Rathbone in Interviews nie müde zu versichern. Begonnen hat er dies übrigens in seinem ersten¸ ebenfalls lesenswerten historischen Roman "The Last English King" (1999¸ dt. "Der letzte englische König")¸ der zur Zeit der normannischen Eroberung von 1066 spielt.
Folglich bedient sich Rathbone auch nicht des für historische Romane gern eingesetzten "zeitgenössischen" Tonfalls (der in der Regel hölzern¸ schwülstig oder einfach nur peinlich wirkt)¸ sondern schreibt "Die Könige von Albion" in einem modernen¸ ironischen Stil¸ der sich außerordentlich erfrischend und flott liest.
Obwohl die Geschichte den Titel "Die Könige von Albion" (Albion = die britischen Inseln) trägt¸ erstrecken sich ihre Schauplätze über einen weiten Ausschnitt der damals bekannten und besiedelten Welt. Wie Rathbone im Vorwort selbst schreibt¸ hat es das südindische Hindu-Großreich Vijayanagara tatsächlich gegeben. Es existierte zwischen 1346 und 1565¸ bis muslimische Armeen es eroberten und die gleichnamige Hauptstadt zerstörten. An ihrer Errichtung sollen einst die in Europa verfemten Tempelritter beteiligt gewesen sein¸ was Rathbone einen willkommenen Anknüpfungspunkt für seine Geschichte bot.
England beschreibt der Verfasser im Zeitalter der "Rosenkriege"¸ die trotz ihres lyrischen Namens von den üblichen bewaffneten Konflikten gekennzeichnet waren¸ die in diesem Fall ab 1455 um den englischen Thron zwischen den Seitenlinien York (weiße Rose im Wappen) und Lancaster (rote Rose) des Hauses Plantagenet ausgetragen wurden. Unsere Reisenden aus dem Morgenland waren schon lange wieder verschwunden¸ als diese Auseinandersetzung 1485 endlich durch den Sieg des Lancaster-Erben Heinrich VII. beendet wurde (der die Dynastie Tudor begründete).
Geschichte wird von nicht von hehren¸ sondern für hehre Gestalten geschrieben - und zwar nachträglich. Nur in der Rückschau geht es feierlich¸ wenigstens aber spektakulär zu. Schmutz¸ Lärm und Langeweile¸ peinliche Zwischenfälle und laute Schreie werden nachträglich ausgeblendet bzw. publikumswirksam gefiltert. Daneben gibt es noch das demonstrative Wälzen in Primitivität und rückständiger Gewalt¸ wie es z. B. die englische Komikertruppe Monty Python so fabelhaft im Film "Jabberwocky" exerzierte.
"Die Könige von Albion" liegt irgendwie dazwischen. Der Witz wird primär durch das geschriebene Wort vermittelt¸ aber der Effekt wird verstärkt durch gewisse Übertreibungen in der Figurenzeichnung. Kaufmann Ali ist Überlebenskünstler und kosmopolitisches Chamäleon zugleich¸ überall und nirgendwo zu Hause und daher die ideale Zentralfigur. Er ist überaus anpassungsfähig¸ ja geschmeidig im Denken und Handeln¸ was ihm in seiner Zeit ein vergleichsweise langes Leben sichert.
Harikara Raya Kurteishi ist ein Prinz im buchstäblichen Sinne. Noch unter den unwirtlichsten Umständen tritt er auf wie ein Herrscher und möchte gefälligst als solcher behandelt werden. Das sorgt für immer neue Verwicklungen und Ärger¸ weil selbst der ungebildetste Europäer sich den heidnischen "Wilden" aus der Fremde überlegen dünkt und dem Prinzen höchstens die "ehrenhafte" Rolle eines der drei biblischen Waisen aus dem Morgenland im Weihnachtsspiel zubilligt.
Gar nicht gut scheint Rathbone mit seinen Landsleuten umzuspringen. Das täuscht; zum einen schont er in seiner Darstellerriege niemanden¸ zum anderen weiß er deutlich zu machen¸ dass für diese Engländer das 15. Jahrhundert die Realität ist und sie folglich den Denkmustern ihrer Epoche verhaftet bleiben - oder in ihnen gefangen sind. Sie verhalten sich deshalb nicht absichtlich besonders grausam oder dumm¸ sondern glauben sich im Recht. Das ist der Boden¸ auf dem offenbar viel von dem wuchs¸ das noch heute die Inselnation prägt.
Julian Rathbone (geb. 1935 in London) lebt in Dorset und ist seit 1973 freier Schriftsteller. Er hat bisher 29 Romane veröffentlicht¸ davon 21 Thriller (die in der Rathboneschen Kurzvita des dtv-Verlags unterschlagen werden¸ weil sie - zu schnöde - vermutlich nicht ins Bild der genialen literarischen Neuentdeckung passen)¸ sechs "richtige" Bücher und drei historische Romane (die man offenbar gelten lassen kann).
Der überaus fleißige Mann veröffentlichte außerdem Kurzgeschichten¸ Gedichte und sechs Drehbücher. (Wer ihn eloquent über die moderne Monokultur auf dem Buchmarkt wettern lesen möchte¸ wähle http://www.eurozine.com/article/1999-01-24-rathbone-de.html ). Für seine Vielseitigkeit wurde Rathbone mit dem Titel eines "Geheimtipps" bestraft¸ aber immerhin mit Preisen überschüttet (darunter der "Deutsche Krimi-Preis" - Platz 3 - 1989 für "Grünfinger").
Eine Rezension von: Michael Drewniok http://www.buchwurm.info/