Briefe aus Jerusalem
Schaurig: der Untergang des Hauses Boone
Als Charles Boone sich nach Chapelwaite in Neu-England aufmacht¸ ahnt er noch nicht¸ dass auf dem ererbten Landsitz ein verhängnisvoller Fluch lastet. Doch schon bald¸ so verraten seine Briefe¸ wecken seltsame Geräusche und hartnäckige Gerüchte in der Nachbarschaft seinen Argwohn: ein verschollenes Dorf¸ wo das Böse regiert¸ ein mysteriöses Schattenwesen¸ das Blutzoll fordert - über kurz oder lang gerät Charles Boone an den Rand des Wahnsinns ...
Der Autor
Stephen King¸ geboren 1947 in Portland¸ Maine¸ ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Schon als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten¸ sein erster Romanerfolg¸ "Carrie" (verfilmt)¸ erlaubte ihm¸ sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit 400 Mio. Büchern in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. (Verlagsinfo) Er lebt in Bangor¸ Maine¸ und Florida. Seine Erstleserin ist immer noch seine Frau Tabitha King.
Sein Hauptwerk ist der Zyklus um den dunklen Turm. Er besteht aus folgenden Bänden:
Schwarz (ab 1978); Drei; Tot; Glas; Wolfsmond; Susannah; Der Turm (2005).
Der Sprecher
Joachim Kerzel¸ 1941 in Hindenburg/Oberschlesien geboren¸ erhielt seine Ausbildung an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Als gefragter Synchronsprecher leiht er Jack Nicholson¸ Dustin Hoffman¸ Dennis Hopper und vielen anderen Stars seine sonore Stimme. Ganz besonders im Gedächtnis geblieben ist mir seine Beteiligung an der Hörbuchfassung von Stephens Kings "Das Mädchen"¸ die er zusammen mit Franziska Pigulla bestritt. Seine sonore Stimme macht aus jedem Gegenstand etwas Grandioses. Daher ist er häufig auch in der Werbung zu hören¸ so etwa zu den Medienproduktion um Peter Jacksons "Herr der Ringe"-Verfilmung.
Kerzel liest den ungekürzten Text¸ den man in der Storysammlung "Nachtschicht" nachlesen kann. Atmosphärisch zum Grusel passende Musik von Michael Maranetti leitet die einzelnen Kapitel ein.
Produktion und Regie lagen in den Händen von Marc Sieper¸ die Tontechnik bediente Horst-Günter Frank. Aufgenommen wurde im SMT Sound Master Studio¸ Berlin.
Handlung
Am 2. Oktober 1850 bezieht Charles Boone das Haus Chapelwaite in Massachusetts¸ das seinem verstorbenen Cousin Stephen gehörte und das Charles geerbt hat. Es gehört der Familie der Boones seit fast einem Jahrhundert¸ erbaut von den Brüdern Robert und Philipp Boone¸ die sich im Jahr 1789 zerstritten und auf diese Weise zwei getrennte Zweige der Familie schufen. Charles stammt aus dem Süden¸ er ist mit seinem Diener Calvin McCann angereist¸ um hier einen Roman zu schreiben.
Doch wie er seinem Freund Granson¸ den er neckisch "Bones" nennt¸ in vielen Briefen schreibt¸ ist es mit dem Herrenhaus nicht zum Besten bestellt¸ und auch der Garten ist völlig verwildert. Hier starben nicht nur Stephen¸ sondern auch die junge Marcella und ihr Vater Robert¸ Charles' Großvater. Dass das Haus bei den Dorfbewohnern von Preacher's Corners nicht gut angesehen ist¸ kann Charles verstehen¸ aber dass man ihn für verrückt hält¸ weniger. Die Putzfrau Mrs. Cloris warnt ihn vor gewissen Eigenschaften des Hauses und fleht ihn geradezu an¸ wegzuziehen¸ bevor ihm etwas Schlimmes zustößt.
Sehr störende Geräusche poltern in den Mauern der 23 Zimmer. Auf der Suche nach deren Ursache stößt Calvin in der Bibliothek auf eine versteckte Landkarte und ein verschlüsselt abgefasstes Tagebuch¸ das aus dem Jahr 1789 stammt. Auf der Karte ist der Ort Jerusalem's Lot eingetragen¸ der jenseits des Flusses Royal liegen muss. In diesem Dorf ist ein Turm eingezeichnet¸ vermutlich der Kirchturm¸ und dabei steht: "der Wurm¸ der Verderben bringt".
Am 17. Oktober machen sich Charles und Cal auf den Weg¸ um Jerusalem's Lot zu erkunden. Das Dorf sieht aus¸ als stamme es aus dem 17. Jahrhundert und sei von den englischen Puritanern errichtet worden. Keine Menschenseele ist zu sehen¸ und es stinkt abscheulich. Als sie schließlich die Kirche betreten¸ verschlägt es ihnen den Atem. Zunächst sehen sie ein Gemälde¸ das Charles nur als Obszönität bezeichnen kann - eine pralle Rubens-Madonna¸ die von fetten Würmern umwimmelt wird. Noch schlimmer aber ist das¸ was über der Stelle hängt¸ wo sich der Altar befinden sollte: Das goldene Kreuz hängt verkehrt herum! Hier waren Satansanbeter am Werk. Das Fass zum Überlaufen bringt schließlich das Buch¸ das Charles aufgeschlagen auf der Kanzel findet. Es trägt den verfluchten Titel: "Die Geheimnisse des Wurms" - de vermis mysteriis ...
Am 20. Oktober ist Charles in der Lage¸ seinem Freund einen Brief über das zu schreiben¸ was er und Cal im Keller fanden. Charles hat eine 36-stündige Ohnmacht hinter sich und fühlt sich sehr schwach. Die Geräusche in den Wänden sind schrecklicher denn je zuvor. Man hat ihn von Bauer Thompsons Hof gejagt wie einen räudigen Hund¸ im Dorf will ihm keiner mehr helfen. Charles spürt¸ dass ein Verhängnis naht.
Doch ob sich dies mit dem Grauen messen lasse¸ auf das er mit Cal im Keller gestoßen ist¸ wagt er zu bezweifeln. Er soll sich täuschen.
Mein Eindruck
Mit Hilfe der kunstvollen und schon in der Schauerliteratur des 18. Jahrhunderts bewährten Erzähltechnik führt uns der erfahrene Autor in dieser Gruselgeschichte auf die Pfade¸ die vor ihm bereits Edgar Allan Poe¸ Bram Stoker (The lair of the white worm) und Howard Phillips Lovecraft ausgetreten haben. Die Parallelen aufzuzeigen¸ würde jetzt aber zu weit führen. Jedenfalls hat es alle Motive bereits einmal gegeben¸ aber die Zusammenstellung ist neu.
Charles Boone glaubt wie Roderick Usher¸ der letzte Angehörige eines verfluchten Geschlechtes zu sein¸ das sich eines schrecklichen Verbrechens gegen den rechten Glauben schuldig gemacht hat. Dieses Verbrechen wurde zuerst von dem puritanischen Sektierer James Boon ab dem Jahr 1710 begangen¸ in dem Jerusalem's Lot gegründet wurde. Es wurde wiederholt und erweitert¸ als Phillip Boone im Jahre 1789 das verbotene Buch "De vermis mysteriis" erhielt und zu unheiligen Riten verwendete.
All dieses Drumherum dient lediglich dazu¸ Schauder ob der Blasphemie zu erzeugen¸ die diese beiden Sektierer begingen. An dieser Stelle wird es sehr amerikanisch. Die amerikanische Kultur basiert bekanntlich auf der puritanischen Morallehre¸ die allen Sinnengenuss mit Strafe bedroht. Sie ist besonders in Neu-England noch immer lebendig. Wie muss also auf Charles Boone im Jahr 1850 - Poe war gerade mal ein Jahr tot - der Anblick einer wollüstigen Madonna und eines umgedrehten Kreuzes in einer neuenglischen Kirche gewirkt haben!
VORSICHT SPOILER!
Doch wie er aus dem Tagebuch seines Vorfahren Robert¸ der 1789 gegen James Boon und Philip vorgehen wollte¸ erfährt¸ bestand der Erfolg dieser "unheiligen Riten" nicht in Tod und Vernichtung¸ sondern im genauen Gegenteil. Die Kolonie Jerusalem's Lot blühte und gedieh¸ allerdings mit einem kleinen Schönheitsfehler: Der Inzest¸ den der Gründer James Boon mit seinen Frauen und deren Töchtern (und diese wieder untereinander mit seinen Söhnen) trieb¸ führte zu genetischen Defekten wie Schwachsinn usw.
Damit nicht genug¸ erlangte James Boon offenbar ein überlanges Leben. Als Philip ihn kennen lernte¸ muss er schon über hundert Jahre alt gewesen sein. Das war selbst für das 18. Jahrhundert eine unnatürlich lange Zeit. Warum konnte Boon so lange alle Krankheiten abwehren? Die Antwort¸ die Philip so begeistert auf seine Seite trieb¸ muss wohl in der Verehrung des Wurmes zu suchen sein¸ der sich unter der Kirche aufhielt. Was diese Kreatur darstellt und woher sie stammt¸ lässt sich bei HPL nachlesen: Yog-Sothoth¸ einer der Großen Alten von den Sternen.
Nur durch diesen Zusammenhang kann der Leser bzw. Hörer das Rätsel lösen¸ welches das Verschwinden der gesamten Bevölkerung von Jerusalem's Lot im Jahre 1789 umgibt. Wo sind alle hin? Sind sie zu den Sternen verschwunden¸ durch das Dimensionstor¸ das Yog-Sothoth¸ der Torwächter¸ für sie öffnete?
SPOILER ENDE
Wie Roderick Usher sieht auch Charles Boone sein Ende nahen¸ denn er sieht sich verflucht (Usher macht sich des Inzests schuldig). Allerdings befindet er sich im Irrtum¸ als er meint¸ er sei der Letzte seines Geschlechts. Die Pointe des kurzen Briefromans ist köstlich¸ denn sie wird ins Jahr 1971 verlegt¸ Und wieder einmal ist es Oktober ...
Der Sprecher
Joachim Kerzel ist einer der Stammsprecher der Hörspielserie "John Sinclair¸ Geisterjäger" und natürlich abonniert auf alle Rollen von Dustin Hoffman und Jack Nicholson. Mit seiner großen Spielfilmerfahrung bringt er die entsprechende Stimmodulation mit: mal tief¸ mal bebend¸ mal raunend - kurz und gut: zum Fürchten. Obwohl diese Aufnahme aus dem Jahr 1999 stammt¸ ist sie immer noch so frisch wie am ersten Tag.
Die Musik von Michael Marianetti besteht zum einen aus einem fetzigen¸ von der E-Gitarre betonten In- und Outro¸ zum anderen aus zahlreichen musikalischen Motiven¸ die als Hintergrundmusik eingesetzt werden. Mit ihren dunklen Tönen und Akkorden trägt diese Hintergrundmusik an und vor emotional intensiven Stellen wie etwa den Kirchenszenen zu einer starken Anspannung des Hörers bei¸ so dass sie mit Kerzels Vortrag eine einheitliche Wirkung erzielt.
Unterm Strich
"Briefe aus Jerusalem" ist purer Horror in der Manier von Lovecraft und Poe: die verfluchte Vergangenheit¸ deren langer Arm auch den letzten Nachkommen einholt und vernichtet. Und das Zentrum¸ wo das Böse sich zeigt¸ ist natürlich die Kirche des verlassenen Dorfes. Und eines Nachts zeigt sich dort der "Eroberer Wurm"¸ wie ihn schon Poe in seiner Schauererzählung "Ligeia" besang. Doch der Wurm ist nicht mehr eine Metapher¸ sondern eine Erfindung Lovecrafts: einer der Großen Alten¸ die von den Sternen kamen.
Ein Glück¸ dass King später nicht mehr an die Lovecraftschen Erfindungen anknüpfte¸ sondern sich modernere Unholde als die Großen Alten suchte: Vampire. Diese tauchen in seinem Roman "Salem's Lot" auf: "Brennen muss Salem". Mit Salem's Lot ist natürlich das Dorf Jerusalem's Lot gemeint¸ aber auch Salem¸ die Puritanerkolonie der Hexenprozesse im 17. Jahrhundert.
Gerade an der schönsten schaurigen Stelle dieses genialen Hörbuchs riss mich ein Telefonanruf aus wohligen Schauern! Meine dringende Empfehlung daher: Vor dem Anhören das Telefon ausstöpseln¸ die Tür abschließen und die Fensterläden schließen. Vielleicht noch eine oder zwei Kerzen für die schummrige Stimmung¸ dann kann's losgehen - mit dem Untergang des Hauses Boone ...
Eine Rezension von: Michael Matzer http://www.buchwurm.info/