Handschrift von Saragossa
Ich erblickte den Himmel. Ich sah¸ dass ich mich im Freien befand. Doch der Schlummer drückte noch auf meine Augen. Ich schlief nicht mehr¸ war aber auch noch nicht wach. Bilder von Martern und Qualen lösten einander ab. Ich erschrak darüber. Ich fuhr mit einem Ruck hoch und richtete mich auf.
Woher soll ich Worte nehmen¸ um den Schrecken auszudrücken¸ der mich nun ergriff? Ich lag unter dem Galgen von Los Hermanos. Die Leichen der beiden Brüder Zotos hingen nicht oben¸ sondern lagen links und rechts neben mir. Ich hatte offenbar die Nacht mit ihnen verbracht. Ich lag auf Fetzen von Stricken¸ Resten von Folterwerkzeugen und menschlichen Gerippen."
Gerade hat der junge Alfons von Woerden sein Hauptmannspatent der wallonischen Garden erhalten und reist von Cadiz nach Madrid¸ um den Dienst anzutreten. Furchtlos¸ wie er ist¸ (oder zu sein glaubt)¸ überquert er die Sierra Madre¸ die damals fast menschleer nur von einzelnen Räubern bewohnt wird.
In einem leerem Gasthaus¸ das¸ so heißt es¸ ein Spukhaus ist¸ trifft er zwei schöne Maurinnen der Familie Gomelez¸ verbringt mit ihnen die Nacht - und findet sich am nächsten Morgen unter besagtem Galgen wieder.
Immer neue Abenteuer¸ erotische wie unheimliche¸ besteht er¸ trifft einen Zigeunerhauptmann und zwei Räuber¸ Ahasver¸ den ewigen Juden und einen Kabbalisten¸ eine Fürstin¸ Einsiedler und Besessene und jeder erzählt ihm seine Geschichte. In den Geschichten tauchen neue Geschichten auf¸ zeitweilig sind es bis zu vier Erzählebenen.
Das europäische "Tausend und Eine Nacht" hat man dieses Buch aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts genannt¸ und aus sechsundsechzig Tagen und Nächten besteht es¸ jede prall gefüllt mit Geschichten.
Zeit und Muße sollte man haben¸ um es zu lesen¸ es ist kein Thriller - obwohl es einige Thrillerelemente enthält -¸ kein Pageturner¸ aber ein schillerndes Kaleidoskop von wilder Fabulierlust. Lange nur auszugsweise bekannt¸ legt Haffmann bei Zweitausendeins die neue Übersetzung aller mittlerweile aufgefundenen Kapitel dieses Buches vor. Ein Buch für lange Winterabende vor dem Kamin.
Über den Autor: Ebenso abenteuerlich wie das Buch ist seine Geschichte. Jan Graf Potocki 1761-1815)¸ ein Pole mit französischer Muttersprache¸ schrieb es 1803-15¸ doch selbst das ist nicht unumstritten. Die französische Ausgabe war lange verschollen¸ es gab nur die polnische Übersetzung und einige Bruchstücke des Werkes.
Graf Potocki war Dichter und Universalgelehrter¸ Anhänger der französischen Revolution und Berater des Zaren¸ Erforscher orientalischer Sprachen und Weltreisender. An der Kugel seines Samowars feilte er solange¸ bis sie in seine Pistole passte und dann erschoss er sich 1815 damit. (Nur in den Zweitausendeins Läden oder unter www.zweitausendeins.de erhältlich.)
Eine Rezension von: Hans Peter Röntgen http://www.textkraft.de