Gezeitenwelt 1: Der Wahrträumer
Die Gezeitenwelt' ist ein neues Projekt von vier namhaften Rollenspielautoren¸ das mit viel Vorschußlorbeeren bedacht wurde. 'Das größte deutsche Fantasy-Epos¸ das jemals geschrieben wurde'¸ tönt z. B. Vielschreiber Hohlbein auf dem Backcover. Grund zumindest¸ sich mit diesem Werk einmal näher zu befassen.
Der auf zwölf Bände angelegte Zyklus wird in schönen Hardcoverausgaben herausgebracht¸ das ist schon mal was Neues neben den beliebten Taschenbuchausgaben für Fantasy-Romane. Band 1¸ 'Der Wahrträumer'¸ ist wirklich schön aufgemacht¸ mit Innenillustrationen von der DSA-Zeichnerin Caryad¸ mit Schmuckrahmen und Lesebändchen. Eine sehr gelungene Karte von Franz Vohwinkel auf den Vorsatzblättern rundet den guten Gesamteindruck ab.
Mit über 620 Seiten ist das Buch auch recht dick geworden¸ und man ahnt¸ dass nach dem Ende der Saga wohl über 7000 Seiten komplett sein werden. Das kann natürlich auch mit dem Wort 'größte' in Hohlbeins Werbespruch gemeint sein. Aber vertiefen wir uns erst einmal in den Inhalt.
Es geht um eine Welt¸ die von den Gegebenheiten unserer Erde ähnelt. Sie hat ebensolche Jahreszeiten¸ ein Jahr mit 365 Tagen¸ Kontinente und Ozeane¸ und natürlich verschiedene Völker. Diese Völker sind nun reine Fiktion¸ und fast hat man den Eindruck¸ es wird eine neue Rollenspielwelt beschrieben¸ so anschaulich vermittelt der Autor nach und nach die Bewohner dieser Welt. Hier merkt man vielleicht durch¸ dass Bernhard Hennen einige der DSA-Romane verfasst hat und unter anderem auch der Autor der erstklassigen DSA-Kampagne 'Die Phileasson Saga' ist. Die Welt ist auch sehr stimmig geraten¸ man hat auf innere Geschlossenheit geachtet und dazu sogar Archäologen und Geophysiker zu Rate gezogen. Ganz ohne irdische Anleihen ist es aber doch nicht abgegangen: man verwendet allerlei lateinische Namen und Bezeichnungen¸ kopiert kulturelle Verhaltensweisen des Spätmittelalters und bringt auch den Schamanismus der nordamerikanischen Indianer mit ein. Also eine Mischung aus Vertrautem irdischen und erfundenem Exotischen - ein Mix¸ der sich ja schon bei den Rollenspielen in Aventurien und Myranor bewährt hat.
Die Geschichte selbst läuft in einigen Handlungssträngen in verschiedenen Orten ab. Lediglich die Zeit ist gleich - Band 1 der Gezeitenwelten beginnt mit einer Naturkatastrophe¸ die entscheidend für das Leben verschiedener Völker und Reiche ist. Es wird die Geschichte von der Walfängerin Alessandra erzählt¸ die als fast einzige Überlebende ihres Dorfes eine Abenteuerlaufbahn einschlägt¸ es wird der Weg des Schamanen Seruun geschildert¸ der mit der Herde Riesenwollnashörner seines Volkes lebt¸ es wird über den tragisch-verblendeten Pater Francisco berichtet¸ der seine Probleme mit einer intriganten Kirche hat und es wird uns der Feldherr Joacino nahe gebracht¸ der mit seinem Heer einer Welt im Wandel zu trotzen versucht.
All diese Charaktere sind plastisch geschildert¸ zwar nicht so sehr tiefgehend wie es sich sicher anböte¸ aber interessant genug¸ um ihren Abenteuern interessiert zu folgen. Positiv zu bemerken ist¸ das es keine klare gut/böse-Aufteilung gibt¸ jeder versucht aus seiner Sicht heraus eben in dieser Welt zu bestehen¸ die durch die Naturkatastrophe etwas aus den Fugen geraten ist.
So liest man sich durch die 630 Seiten¸ die interessant genug sind¸ um den Leser bei der Stange zu halten. Richtig mitreißend ist es zwar nirgends¸ aber es erwartet den Leser eine gut ausgedachte Welt und eine Handvoll interessante Charaktere. Man muss auch bemerken¸ dass Bernhard Hennen die undankbare Aufgabe zugefallen ist¸ den Zyklus zu eröffnen¸ und da braucht man einfach einen größeren Spielraum¸ um den Leser in die Welt einzuführen¸ die Charaktere zu entwickeln und langsam eine Geschichte anklingen zu lassen.
Denn die Gezeitenwelt hat durchaus Potential. Schon im ersten Roman werden Geheimnisse angedeutet¸ die sich erst in den späteren Bänden lösen werden (hoffentlich). Man ist mit einigen Personen am Ende des Romans schon recht vertraut¸ so dass man doch sehr gespannt ist¸ wie es denn weiter geht - da könnte durchaus ein kleiner Soap-Opera-Effekt mit hineinspielen. Und schließlich bürgen die Namen der anderen Autoren ja auch für Qualität: Hadmar von Wieser¸ Autor des 'Donnersturmrennens' und der 'Schwertkönig'-Romane¸ Thomas Finn¸ Nautilus-Herausgeber und 'Über dem Greifenpaß'-Autor und nicht zuletzt Karl-Heinz Witzko¸ Autor so brillanter DSA-Romane wie 'Westwärts¸ Geschuppte!' und Abenteuer wie 'Jenseits des Lichts'.
Als Fazit lässt sich also sagen: durchaus interessant und ausbaufähig vorerst. Ob die Gezeitenwelt aber wirklich ein Meilenstein der deutschen Fantasy-Literatur wird¸ dazu fehlt momentan doch noch einiges. Aber für das ehrgeizige Projekt an sich für die schöne Aufmachung hat sie ihren vierten Stern wohl verdient.
D.G. © Halle der Helden 2003
Eine Rezension von: Günther Dambachmair http://www.halle-der-helden.at