Geister zum Fest. Weihnachtliche Gruselgeschichten
Die Crème de la crème der angelsächsischen Gespenstergeschichte gibt sich hier die Ehre. Verstärkt wird ihre Reihe durch einige lange vergessene¸ aber nicht weniger fähige Autoren¸ die ihren Teil dazu beitragen¸ an eine uralte Tradition zu erinnern: Am Weihnachtstag¸ wenn Familien und Freunde zusammensitzen und gutes Essen sowie viel Alkohol die üblichen Streitigkeiten gedämpft haben¸ erzählt man sich Geistergeschichten.
So war es jedenfalls¸ bevor das Fernsehen erfunden wurde. Eine regelrechte Gruselkultur entwickelte sich. Zu den Feiertagen gaben Verlage eigene Storys in Auftrag¸ Zeitungen brachten Geister-Weihnachts-Sondernummern. Gern nutzten Schriftsteller diese zusätzliche Einnahmequelle. Besonders in der langen viktorianischen Epoche und dann noch bis zum I. Weltkrieg entstanden Gespenstergeschichten¸ die zu den reinsten ihres Genres gehörten. Sie beinhalten alles¸ was wir Leser der Gegenwart noch heute mit Geisterspuk der nostalgischen Art assoziieren: Schrecken & Gemütlichkeit¸ nostalgisch vergoldet durch das Wissen um ihre Entstehungszeit¸ die gern als "die gute¸ alte" verklärt wird.
Charles Dickens (1812-1870) markiert mit "Die Geschichte von den Kobolden¸ die einen Totengräber stahlen" die ursprüngliche Nähe der Gespenstergeschichte zur Sage. Als Naturgeister "modernisiert" werden wir Kobolden¸ Feen oder vorzeitlichen Gottheiten im phantastischen Genre auch später immer wieder begegnen; in dieser Sammlung zeigt es uns Horace Russell Wakefield (1888-1964) mit "Der Weihnachtsbaum" eindrucksvoll. (Gabriel Grubb erinnert übrigens schon stark an Dickens" ungleich berühmteren Menschenfeind Ebenezer Scrooge aus "A Christmas Carol"¸ dem in der Weihnachtsnacht drei Geister sein verpfuschtes Leben vor Augen führen.) Joseph Sheridan Le Fanu (1814-1873)¸ ein europäischer Pionier der Kurzgeschichte¸ den die Literaturkritik ohne Zögern Edgar Allan Poe zur Seite stellt¸ lässt den Teufel höchstpersönlich auftreten¸ dessen Kampf um die Seele eines kriminellen Totengräbers bei aller Märchenhaftigkeit wirklich gruselig dargestellt wird.
Mit Mark Lemon (1809-1870) machen wir einen zeitlichen und literaturhistorischen Sprung. "Das Gespenst als Detektiv" entstand zu einer Zeit¸ als man begann¸ sich "wissenschaftlich" mit der Geisterwelt zu beschäftigen. Lemon greift die damals durchaus diskutierte Frage¸ ob Gespenster stets Sendboten des Totenreiches sind¸ oder ob auch Lebende sie schicken können¸ ohne sich womöglich selbst dessen bewusst zu sein. Gleichzeitig erfährt der Leser einige frösteln machende Details über das britische Rechtssystem des ausgehenden 19. Jahrhunderts¸ das aus heutiger Sicht ausgesprochen mittelalterliche Züge besaß: "Recht" leitete sich hier nicht von "Gerechtigkeit" ab¸ sondern eher von "Rache" - ganz so¸ wie es die amerikanischen Kolonisten noch heute schätzen.
Robert Louis Stephenson (1850-1894) ist ebenfalls auf der Höhe seiner Zeit. "Markheim" macht die viktorianische Verquickung von aufkommender Psychologie und Okkultismus deutlich. Sehr modern mutet Stephenson an¸ wenn er seinen tragischen Helden über das Wesen des Bösen diskutieren lässt¸ das eben doch nicht Bestimmung ist¸ wie zeitgenössische Moralapostel gern behaupteten. (Ihre Nachfahren tun dies übrigens noch heute.) Rosemary Timperley (1920-1988) wandelt Lemons Idee kurz¸ aber originell in "Weihnachtsbekanntschaft" ab. Leslie Poles Hartley (1895-1972) greift mit "Der Mann im Lift" das Motiv der Geistererscheinung als Warnung vor einem zukünftigen Verhängnis auf.
Zur englischen Gespenstergeschichte gehört seit jeher ein ordentliches Quäntchen Humor¸ der hier natürlich tiefschwarz sein muss. Jerome Klapka Jerome (1859-1927) gibt mit "Unsere fröhliche Geisterschar" nicht nur den perfekten Einstieg in diese Sammlung vor¸ sondern zieht unerhört witzig und kundig zugleich die Liebe seiner Landsleute zu Spuk und Grausen durch den Kakao¸ um ihr gleichzeitig seine Referenz zu erweisen. Dasselbe gelingt James Matthew Barrie (1860-1937)¸ dem Schöpfer des unsterblichen "Peter Pan"¸ in "Das Heiligabend-Gespenst". Mrs. Alfred Baldwin (alias Louisa Macdonald Baldwin¸ 1845-1925) legt mit "Original und Fälschung" eine trügerisch heiter einsetzende Gruselmär vor¸ die lange vom fröhlichen¸ sorgenlosen Leben der englischen Oberschicht-Jugend erzählt. Das tragische Ende überrascht dann sehr und ist folglich recht wirksam. Ausgerechnet Jason Boynton Priestley (1894-1984)¸ der diesseits und jenseits des Ärmelkanals unzählige Schulkinder mit "An Inspector Calls"¸ seinem weinerlichen Klassiker um Schuld & Sühne¸ gequält hat¸ präsentiert mit "Der Dämonenkönig" eine urkomische Variante des Aufeinandertreffens von Menschen- und Geisterwelt.
Mrs. B. M. Croker (alias Bithia Mary Croker¸ 1849-1920) präsentiert mit "Nummer Neunzig" eine Spukhaus-Geschichte ohne Wenn und Aber; in ihrer Villa geht es um¸ und es sind durch und durch böse Gesellen¸ die dies tun. Das Finale kommt also nicht unerwartet. Auch Algernon Blackwood (1869-1951) lässt es mit "Der Seesack" richtig krachen; hier wird gespukt ohne Kompromisse an die "psychologische" Fraktion der phantastischen Literaturkritik¸ und das auf einem Niveau¸ das die dem realistischen Grusel abholden Sauertöpfe nachhaltig Lügen straft! (Sie versöhnt Blackwood mit "Übergang"¸ denn hier erzählt er rätselhaft und deutungsreich¸ aber dem Puristen wahrscheinlich immer noch zu bodenständig und vor allem unterhaltend.) "Thurlows Weihnachtsgeschichte" von John Kendrick Bangs (1862-1922) ist beileibe nicht neu¸ aber sie wird schwungvoll erzählt¸ vermittelt uns einen Blick auf die (zeitlosen) Nöte eines Berufsautoren und wirkt durch seinen netten Schlussgag: Thurlows Bericht über seine Heimsuchung ist zugleich die Geschichte¸ die ihm zu schreiben zuvor nicht möglich war. Einfach "nur" gute Geistergeschichten präsentieren auch Hugh Walpole (1884-1941) mit "Der Schnee"¸ A. M. Burrage (alias Alfred McLelland Burrage¸ 1889-1956) mit "Smee" oder Marjorie Bowen (alias Gabrielle Margaret Vere Campbell Long¸ 1886-1952) mit "Das Rezept" oder George Herbert Bushnell (1896-1973) mit "Ich werde die geeigneten Vorkehrungen treffen".
Montague Rhodes James (1862-1936) ist der König der englischen Gespenstergeschichte. Wieso dies so ist¸ stellt er mit der "Geschichte eines Verschwindens und eines Erscheinens" sogleich eindrucksvoll unter Beweis - hier wird gemordet¸ gespukt und gerächt¸ Auge um Auge¸ Zahn um Zahn. Das schaurige Geschehen¸ in dem sich Horror und Humor auf einmalige Weise mischen¸ wird als Folge von Briefen berichtet. (Für Ihren Rezensenten bestätigt diese Story übrigens einmal mehr seine Abscheu vor Clowns und Kasperles.) James" Einfluss auf die (angelsächsische) Phantastik ist außerordentlich. Noch zu seinen Lebzeiten wuchs eine "James-Gang" genannte Schar von Verehrern heran¸ deren eigenes Werk den Einfluss des Vorbilds nicht verleugnen konnte oder wollte. Ganz sicher gehört Edmund Gill Swain (1861-1938)¸ langjähriger Kollege James" am King"s College zu Cambridge und lebenslanger Freund¸ zu ihnen. "Grabet¸ und ihr werdet finden" ist Teil eines ganzen Zyklus" von Geschichten um Hochwürden Roland Batchel aus der Gemeinde Stoneground¸ deren Sammlung Swain 1912 ausdrücklich James widmete. Mit "Weihnachtszauber" und "Gebal¸ Ammon und Amalek" machen Daphne Froome (1920-1988) respektive David G. Rowlands (geb. 1941) deutlich¸ dass die "James-Gang" auch in ihrer heutigen Inkarnation quicklebendig ist!
Grant Allen (1848-1899) legt mit "Der Turm von Wolverden" eine eigentlich sehr einfache Geistergeschichte vor¸ die er mit allerlei (pseudo-)historischen Reminiszenzen an die keltisch-"heidnische" Vergangenheit seines Heimatlandes in "literarische" Sphären erhöhen möchte. Das Ergebnis wirkt recht bemüht und ist deutlich stärker gealtert als die meisten übrigen Storys dieser Sammlung. Dasselbe Schicksal ereilte Marie Corelli (alias Mary Mackay¸ 1855-1924)¸ einst eine unerhört erfolgreiche Bestseller-Autorin¸ deren Werk längst vergessen ist; "Der Mönch und der Engel" belegt in seiner süßlich-moralisierenden Scheindramatik¸ wieso dies so kommen musste. Auch Bernard Capes (1854-1918) ist mit "Ein Geisterkind" nur marginal erträglicher. Wie man eine rührende¸ aber nicht rührselige Geschichte erzählt¸ die man sofort mit dem Attribut "weihnachtlich" versehen würde¸ zeigen uns dagegen Elia Wilkinson Peattie (1862-1935) mit "Liebes kleines Gespenst" oder Elinor Glyn (1864-1943) mit "Das Gespenst von Irtonwood".
Ausgerechnet Ramsey Campbell (geb. 1946)¸ der britische Großmeister der Phantastik¸ liefert mit "Das Weihnachtsgeschenk" eine seiner schwächeren (älteren) Geschichten ab¸ die sich gar zu sehr auf Robert Aickmans Megaklassiker "Das Wechselgeläut" stützt. Das trübt den Eindruck dieser wunderbaren Sammlung wenig¸ die in das Regal jedes Freundes klassischer Gruselgeschichten gehört und dort mit Gewissheit zu manchem Weihnachtsfest hervorgezogen wird!
Eine Rezension von: Michael Drewniok http://www.buchwurm.info/