Edition Metzengerstein: Dunkle Engel
New York im April des Jahres 1865: Der amerikanische Bürgerkrieg ist endlich beendet¸ die Sezession der Vereinigten Staaten in Nord- und Südstaaten rückgängig gemacht¸ die Sklaverei abgeschafft ‐ und in Washington fällt Abraham Lincoln einem Attentat zum Opfer. Bevor er bestattet wird¸ reist der Körper auf einer bizarren Rundfahrt durch die USA¸ damit die Bürger Abschied von ihrem Präsidenten nehmen können.
In New York macht Paula Grainger dem Toten ihre Aufwartung. Sie hat ihren Ehemann¸ den Militärkaplan Aloysius Grainger¸ auf einem der zahllosen Feldzüge des Bürgerkriegs verloren. Zwar war sie ihrem Gatten schon vorher lange entfremdet¸ doch der Verlust wiegt schwer in einer Zeit¸ in der eine alleinstehende Frau keinen leichten Stand in der Gesellschaft hat.
Vor der aufgebahrten Leiche Lincolns lernt Paula den Dichter Walt Whitman kennen. Der unkonventionelle Freigeist macht sie bekannt mit einem engen Freund: Zachery Brown¸ der als gemeiner Soldat im Krieg diente¸ lernte dort Aloysius Grainger kennen. Paula muss erfahren¸ dass ihr Ehemann keineswegs der etwas langweilige Prediger gewesen ist¸ als den sie ihn kannte. Grainger entpuppt sich als unkonventioneller Forscher¸ den die okkulten Praktiken der schwarzen Sklaven in den Südstaaten faszinierte. Wie tief Grainger in die Geheimnisse uralter afrikanischer Totenkulte und Woodoo-Praktiken eingedrungen war¸ kann auch der junge Jimmy Lee Cox bestätigen¸ der die Schlachtfelder des Bürgerkrieges nur zu gut kennen gelernt hat.
Doch die zentrale Figur des Graingerschen Doppellebens hält sich schon lange in Paulas unmittelbarer Nähe auf: Phoebe¸ ihre angebliche Dienerin¸ ist tatsächlich die Tochter der mächtigen afrikanischen Zauberin Eleuthera¸ die sich des Nachts in einer Leopardin verwandeln kann. Sie alle erzählen einander ihre Geschichten¸ die ein Dreivierteljahrhundert abscheulicher Sklaverei¸ Kriegsgräuel und schwarzer Magie lebendig werden lassen ‐ ein Drama¸ das in Afrika beginnt¸ nach einem Abstecher ins alte Europa über Westindien die jungen Vereinigten Staaten erreicht und mit historischen Persönlichkeiten wie Lord Byron¸ Edgar Allan Poe und dem lebenden Abraham Lincoln prominent besetzt ist.
Für die wahren Freunde des Unheimlichen hat sich der Dschungel der gedruckten Schauerlichkeiten in den letzten zehn Jahren zunehmend in eine Monokultur verwandelt. Gerade en vogue sind u. a. spießige Vampir- und Dämonenjäger à la "Buffy" (weiblich) oder "Angel" (männlich)¸ die ständig mit jenen seifenoperlichen Problemen ringen¸ die in der Phantastik garantiert nichts verloren haben¸ virtueller Hokuspokus aus dem Internet¸ allerlei mehr oder weniger außerirdisches Gezücht und natürlich ‐ ganz aktuell ‐ Waisenknaben¸ die sich als Zauberlehrlinge entpuppen¸ und fantas(y)tische Rollkommandos¸ die magische Artefakte (vorzugsweise Ringe) von Punkt A nach Punkt B tragen müssen. (Ein seichtes Potpourri solchen Mainstream-Grauens bietet übrigens stets zuverlässig der Hohlbein der Woche.)
Wenig zu lachen (bzw. zu gruseln) haben dagegen jene¸ die es gern ein wenig einfallsreicher und ‐ sprechen wir das heute verpönte Wort ruhig aus ‐ anspruchsvoller lieben. Glücklicherweise gibt es hierzulande den noch jungen und kleinen¸ aber feinen Festa-Verlag¸ dessen Programm dem Rice Ko(on)tzenden King-Jünger Alternativen bieten möchte. Mit "Dunkle Engel" legt Festa ein besonders sperriges Horrorspektakel um Kriegsschrecken und Unmenschlichkeit¸ archaische Magie und Voodoo¸ Hexen und Zombies vor¸ das wohl nur hier erscheinen konnte.
Dabei lagen Somtow-Werke einst in jedem deutschen Buchladen ‐ sie erschienen im Goldmann-Verlag. Das zu wissen ist wichtig¸ denn "Dunkle Engel" ist in gewisser Weise locker mit zwei früheren Gruselromanen Somtows verknüpft. Wie "Ich bin die Dunkelheit" ("Vampire Junction"¸ 1984; später zu einer Serie ausgebaut) und vor allem "Wolfsruf" ("Moondance"¸ 1989) ist "Dunkle Engel" in einem Nordamerika angesiedelt¸ in dem die Geschichte eine Spur neben der uns bekannten Realität verläuft. Die meisten Ereignisse und Namen stimmen überein¸ doch in gewissen Punkten gestattet sich der Verfasser die berühmte dichterische Freiheit. Der zeitgenössische Abraham Lincoln war ganz sicher nicht in ein übernatürliches Komplott verstrickt¸ in dem Wer-Leoparden eine zentrale Rolle spielten. Ebenfalls mit Vorsicht zu genießen sind Somtows Schilderungen des Bürgerkrieges. Zwar gibt es für das reale Grauen dieses vierjährigen Gemetzels mehr als genug Augenzeugenberichte und Fotos¸ doch hier wird es verfremdet und bildet den dramatischen Hintergrund und den 'Verstärker' für das romanhaft-phantastische Geschehen.
Denn "Dunkle Engel" ist sicherlich kein geradliniger Horror-Action-Zirkus¸ sondern lebt über weite Strecken von seiner wirklich eigentümlichen Atmosphäre¸ die man als Mischung aus Fiebertraum und naturmystischen Epiphanien bezeichnen könnte. So etwas liebt besonders der belesene Kritiker und Phantastik-Fachmann¸ dem Augenwinkel-Grusel stets mehr gilt als Bettlaken-Gebuh in Cinemascope. Davon sollte sich der normalsterbliche Leser jedoch nicht ins Bockshorn jagen bzw. einschüchtern lassen. Deshalb sei hier in Vertretung derer¸ die es bei der Lektüre nur zu denken¸ aber nicht zu sagen wagen¸ deutlich festgehalten¸ dass Somtow es recht häufig übertreibt mit seinen Schauerbildern und seinen symbolhaft verschlüsselten Rätselbildern¸ die sich dann nicht zu dem geplanten infernalischen Zaubermärchen ergänzen¸ sondern gegenseitig erschlagen.
Auch die kunstvoll verschachtelte Story¸ die rückwärts erzählt wird¸ mit doppelten¸ dreifachen¸ vierfachen Rückblenden in achronologischer Reihenfolge prunkt und vom Leser aus vielen einzelnen Geschichten zusammengesetzt werden muss (wenn es ihm denn gelingt ...) ¸ verrät mehr über den Ehrgeiz ihres Verfassers statt wirklich zu funktionieren.
Vorbehalte weckt zudem der Plot als solcher. "Dunkle Engel" spielt im Milieu der Südstaaten-Sklaven¸ die ungeachtet der Unmenschlichkeit des Systems¸ in dem sie leben mussten¸ eine eigenständige und einmalige Kultur bewahren und entwickeln konnten¸ die afrikanisch-'heidnische'¸ mittelamerikanisch-magische und nordamerikanisch-christliche Elemente mischte. Somtow¸ der in Asien geborene und erst als junger Mann in die USA umgesiedelte Autor¸ ist selbst das Kind mindestens zweier sehr unterschiedlicher Kulturkreise¸ so dass er sowohl mit den Schwierigkeiten als auch mit den Vorteilen vertraut ist¸ die es mit sich bringt¸ ein Wanderer zwischen den Welten zu sein. ln Sachen Fantasie und Phantastik kann Somtow sichtlich tiefer schöpfen als die Mehrzahl seiner Schriftsteller-Kollegen.
Aber obwohl er andererseits völlig unabhängig von ihrer Hautfarbe erfreulich schrill auf die politische Korrektheit seiner Figuren pfeift¸ sich tief in die Materie eingearbeitet hat und deutlich bemüht ist¸ dem Thema Voodoo neue Aspekte abzuringen¸ ist "Dunkle Engel" in den 'magischen' Szenen etwa so überzeugend wie der moderne Horrorfilm-Klassiker "Angel Heart" (1986): modischer Grusel-Kitsch vor "Southern Comfort"-Kulisse mit einem Schuss Anne Rice fürs glutvoll-märchenhaft Dekadente ‐ aber nicht zu viel¸ damit die US-Puritaner nicht gar zu laut aufheulen ... Sie werden eh' schon hart genug auf die Probe gestellt mit kleinen Sticheleien¸ die aus Nationalheiligen wie Walt Whitman einen lebensfrohen Schwulen oder aus Abe Lincoln einen Okkultisten und schließlich sogar einen Zombie machen.
Überhaupt gleicht Somtows Biografie selbst einem überaus farbenfrohen Märchen. Geboren 1952 als Somtow Papinian Sucharitkul im thailändischen Bangkok als Großneffe einer Königin von Siam und Sohn eines international bekannten Anwalts für Menschenrechte¸ kam Somtow in den Genuss einer Elite-Ausbildung in Eton und Cambridge¸ bevor er eine erste Karriere als rasch renommierter Komponist avantgardistischer Musik begann. Als echtes Multitalent verlor Somtow das Interesse an dem¸ was er beherrschte¸ und begann etwas Neues. Auch als Schriftsteller erregte er bald Aufsehen¸ wobei er sich längst nicht auf Horror- oder Unterhaltungsliteratur beschränkte (als Somtow Sucharitkul hat sich Somtow z. B. auch in der Science-Fiction originell hervorgetan)¸ sondern als Verfasser 'normaler' Belletristik¸ von Fabeln¸ mindestens einer Biografie und als Poet in allen Genresätteln behauptete. Darüber hinaus schrieb und inszenierte er Opern¸ Theaterstücke¸ Filmdrehbücher (die er nicht selten persönlich in Szene setzt) und¸ und¸ und ... Einen Leonardo da Vinci des Multimedia-Zeitalters könnte man ihn nennen (oder wenigstens einen Peter Ustinov ...) - oder einen Clive Barker¸ den das Kultur-Establishment auch durch die Vordertür einlassen würde.
Nicht zu beneiden war Übersetzerin Christel Roßkopf¸ denn Somtows Stil ist ‐ gelinde ausgedrückt ‐ eigenwillig. Er schreibt anspruchsvolle Prosa¸ die sich definitiv abhebt vom Subjekt-Prädikat-Objekt-Punkt-Schema der meisten zeitgenössischen Horror-Autoren. Wenn es nicht selbst schon wieder ein Klischee wäre¸ könnte man sagen¸ er mische asiatisch-assoziative Wortgewalt mit angelsächsisch-dokumentarischer Nüchternheit. Auf jeden Fall ist "Dunkle Engel" kein Buch¸ das wie der jeweils aktuelle Stephen-King-Band bereits einen Tag nach der Originalausgabe fertig 'übersetzt' auf den deutschen Buchmarkt geworfen werden kann. Christel Roßkopf hat sich Zeit gelassen und Mühe gegeben¸ die besonders in den vielen Szenen deutlich wird¸ in denen Folklore¸ Realität und Traum sich unmerklich mischen und wieder trennen.
Somtow ist selbstverständlich im Netz vertreten (unter http://www.somtow.com )¸ doch diese Website ist nicht nur optisch ein Graus¸ sondern präsentiert sich mit selten gesehener Dreistigkeit als Mischung aus Brachial-Buchwerbung und Fanshop für überteuerten Tand und Nippes (T-Shirts und Tassen mit dem Porträt des Meisters¸ obwohl der dem EDV-Beauftragten einer mittelständischen Bank geradezu musterhaft ähnlich sieht)¸ so dass man schon gar keine Lust mehr verspürt¸ die ebenfalls angebotenen Interviews oder Storys anzusteuern.
Ergänzung: Für November 2004 ist eine Neuauflage des derzeit vergriffenen Buches als Broschur bei Festa angekündigt.
Eine Rezension von: Michael Drewniok http://www.buchwurm.info/