Die Wanderhure
Das Medium Aevum¸ das "mittlere Zeitalter" oder das sogenannte Mittelalter umgibt von jeher die Aura des geheimnisvollen¸ düsteren und finster rückständigen Zeitalters menschlichen Daseins.
Die Antike markierte im Selbstverständnis vieler Generationen jene Phase menschlichen Daseins¸ da die Grundlagen jedweder kulturellen Ausrichtung der menschlichen Gesellschaft gelegt worden waren. Griechische Philosophen¸ Mathematiker¸ Histiographen etc. markieren Meilensteine der menschlichen Existenz und lieferten der ihnen nachfolgenden römischen Kultur so manche kulturelle Steilvorlage¸ die dankbar aufgegriffen und perfektioniert worden ist.
Das Medium Aevum nun schien diese Hochphase des fortschreitenden Aufschwungs unterbrochen zu haben und die Humanisten des 15. Jahrhunderts¸ die sich selbst wiederum in der Tradition ihrer antiken Vorbilder sahen¸ meinten sich das Recht herausnehmen zu können¸ ihre eigene historische Position zu erhöhen¸ indem sie jene¸ immerhin über achthundert Jahre währende Epoche der Menschheitsgeschichte¸ als eine Zeit des schleichenden Niedergangs bezeichnen zu dürfen. Es war in ihrem Selbstverständnis eine Zwischenzeit¸ zwischen den beiden Phasen absoluter Hochblüte menschlicher Kultur.
Gerade dieses doch sehr negativ behaftete Bild¸ welches vom Mittelalter über die Jahrhunderte hinweg tradiert worden ist¸ hat einen Vorurteilskanon begründet¸ der gerade heute Grundlage der breit gefächerten Rezeption¸ dieses Zeitalter betreffend¸ begründet.
Daher erscheint es auch kaum verwunderlich¸ dass gerade von dieser Zeit ein besonders tiefgründiger Reiz und eine entsprechend hohe Anziehungskraft auszugehen scheint. Die Anzahl von nichtwissenschaftlichen Abhandlungen¸ Romanen¸ Geschichten etc. zum Mittelalter ist enorm¸ jedoch ist das Bild¸ welches hier gezeichnet wird¸ nicht gerade als positiv zu bewerten¸ zumal die nicht unbedingt dicht gesäte Quellenlage¸ die uns Aufschluss über die tatsächlichen Gegebenheiten geben könnte¸ nicht dazu angetan ist¸ hilfreich demjenigen zur Seite zu stehen¸ der das Bild vom Mittelalter in ein vorteilhafteres Licht zu rücken sucht.
Nichtsdestotrotz oder vielleicht auch gerade deshalb bleibt die Faszination der Menschen¸ die sich für diese Zeit¸ wenn auch weitgehend vor dem Hintergrund der vorurteilsbehafteten Vorstellungen¸ die seitens vor allem der verklärenden Hollywoodrealität geniert wird interessieren¸ ungebrochen.
Gerade in letzter Zeit erlebt das Genre des historischen Romans einen ungewöhnlichen Aufschwung¸ der sich vor allem auf jene Literaten konzentriert¸ die ihre Geschichten im Mittelalter verorten.
Nicht zuletzt Iny Lorentz¸ die "Königin des historischen Romans"¸ hat mit ihrer Erzählung "Die Wanderhure" und diversen vorhergehenden¸ wie auch nachfolgenden historischen Romanen dem Genre einen zusätzlichen Auftrieb gegeben.
Die Wanderhure erzählt das Schicksal der jungen Marie Schärer¸ Tochter eines Konstanzer Kaufmannes¸ die ob einer Intrige ihres zukünftigen Ehemannes; Ruppertus Splendidus; auf die vor allem Maries Vater¸ Matthis Schärer hereinfällt; dazu "verurteilt" ist¸ ihre Heimatstadt Konstanz zu verlassen und als herumwandernde Hübschlerin ihren Lebensunterhalt verdienen muss. Die Hure Hiltrud nimmt sich Maries an¸ versorgt ihre Wunden und führt die bis dato wohlbehütete Kaufmannstochter ihrer zukünftigen "Bestimmung" als Amüsierdame zu.
Der Weg¸ auf dem der Leser Marie begleitet¸ ist hart und steinig. Gerade die Unbill der Zeit¸ mit ihren undurchschaubaren machtpolitischen Grenzen¸ einem nach heutigen Maßstäben ungerechten und teilweise nicht nachvollziehbarem Rechtssystem und diversen anderen politischen¸ sozialen¸ wirtschaftlichen und spirituellen Missständen¸ macht Marie und ihrer treuen Freundin Hiltrud das Leben schwer und somit für den Leser umso interessanter. Der konkrete historische Rahmen der Darstellung ist ebenfalls sehr interessant¸ denn die Handlung findet vor dem Hintergrund des Konstanzer Konzils von 1414 statt¸ eines der bahnbrechenden Ereignisse dieser historischen Epoche. Es ist eine Zeit der gesellschaftlichen Umbrüche¸ der klerikalen Neuordnungen und machtpolitischen Auseinandersetzungen¸ in denen der Leser auf den Spuren einer jungen entrechteten Frau wandeln kann.
Sozusagen im Vorbeigehen liefert die Autorin¸ Iny Lorentz¸ historische Fakten und bindet sie gekonnt in die Handlung ein¸ so dass nie der Eindruck entsteht¸ es handele sich um eine bewusst trocken angelegte historische Abhandlung¸ sondern dem Leser wird stets das Gefühl einer lebendigen Darstellung einer vorurteilsbehafteten Zeit an die Hand gegeben. Lebendig¸ spannend und teilweise auch überraschend¸ stellt sich dem geneigten Leser dieses Romans derselbige dar.
Iny Lorentz hat es verstanden eine Geschichte zu erzählen¸ die ohne jegliche historische Vorkenntnis seitens des Lesers verstanden werden und auch gutiert werden kann. Die Fülle an neuen Eindrücken¸ die spezifische historische Epoche¸ vor deren Hintergrund die Geschichte ihren Verlauf nimmt¸ ist zwar gro߸ jedoch nicht erdrückend. Auch hat man nie den Eindruck¸ als wolle die Autorin durch massive Anhäufung von Faktenwissen ihrerseits dem Leser das eigene Können prahlerisch vor Augen führen¸ eine sehr wohltuende Eigenschaft¸ da oftmals andere Autoren hierbei anders verfahren.
So wird Iny Lorentz Roman auch zu einem lehrreichen Mittelalterroman¸ im Zuge dessen Lektüre man einiges über diese Zeit erfahren und lernen kann¸ was sicherlich nicht dazu angeraten ist¸ es als wissenschaftlich fundiert weiter zu verwenden¸ jedoch allemal dazu angetan ist¸ dem Leser Lust auf mehr zu machen¸ will sagen¸ den Leser dazu animieren sich andernorts intensiver informieren zu wollen.
Dennoch sollte nicht verschwiegen werden¸ dass einige Passagen innerhalb des Romans nicht ganz schlüssig sind¸ bzw. die Fragen aufwerfen¸ die seitens der Autorin unbeantwortet zu bleiben scheinen.
Dieser Kritikpunkt richtet sich vor allem gegen die Konzeption der einen oder anderen Figur¸ deren Stellenwert innerhalb des Geschichtsverlaufs eine Position einnimmt¸ die zu abrupt überraschend wirkt.
Ohne der Handlung ihre Spannung gänzlich nehmen zu wollen sei an dieser Stelle lediglich der Name einer Figur erwähnt und oberflächlich angemerkt¸ dass gerade die Rolle dieser Figur in ihrer Gänze nicht nachvollziehbar zum Ende der Erzählung hin erscheint; die Figur des Michel. Michel¸ der jüngste Sohn¸ eines Konstanzer Schankwirts¸ der offenbar eine tiefe Zuneigung Marie gegenüber empfindet und ihr nach ihrer Verbannung aus Konstanz zu folgen versucht¸ verschwindet aus der Wahrnehmung des Lesers. Erst gegen Ende des Romans¸ findet er ihn wieder. So wichtig seine Funktion an diesem Punkte der Darstellung auch wird¸ so marginal erscheint sie zum Anfang. Dies stellt für mein persönliches Dafürhalten einen gewissen Bruch dar¸ zumal Michels weiterführende Funktion in der Geschichte zusätzlich belastet wird¸ durch eine Aufgabe¸ die ihm dank des historisches Hintergrundes¸ des Konstanzer Konzils¸ zukommt¸ die aber für Maries Werdegang zumindest im Rahmen des Romans keine wirkliche Bedeutung zu haben scheint.
Generell wäre auch anzumerken¸ dass obwohl Iny Lorentz eine faszinierende Darstellung der historischen Epoche vorgelegt hat¸ auch diese nicht vollends vorurteilsfrei bleibt¸ nicht zuletzt deshalb¸ weil sich die Autorin der Rolle der Frau im Mittelalter angenommen hat und dies nicht nur im Bezug auf den hier zu rezensierenden Roman¸ sondern bezogen auf ihr gesamtes Oeuvre.
So wichtig die Rolle der Frau auch ist¸ gerade da diese in der Vergangenheit oft seitens der Wissenschaft¸ aber auch der Literatur¸ sträflich vernachlässigt wird¸ so belastend kann diese sehr einseitige Fokussierung auch sein¸ denn nicht allein die Frauen waren ein entrechtetes Mitglied der damaligen Gesellschaft¸ sondern es galt dies für das Gros der Bevölkerung. Natürlich sei eingeräumt¸ dass gerade die Frauen hierbei eine negative Sonderstellung eingenommen haben. Doch kann dieser historische Feminismus¸ der hierbei offenkundig zur Schau gestellt wird¸ nicht zuletzt für eine männliche Leserschaft zum Teil eher abschreckend wirken¸ gerade weil die Entrechtung der Frau seitens des unterdrückenden Mannes derart überbetont wird.
Alles in allem ist "Die Wanderhure" jedoch ein mehr als lesenswertes Buch¸ was nicht zuletzt mit dem sehr gefälligen und flüssig zu lesenden Sprachstil der Autorin¸ bzw. um es präzise zu formulieren¸ des Autorenduos¸ welches sich hinter dem Pseudonym Iny Lorentz verbirgt¸ zusammenhängt. Der chronologische Aufbau ist schlüssig und damit leicht nachzuvollziehen¸ allerdings stolpert der Leser ab und an über eine Fülle an Personennamen¸ deren Zuordnung ob ihrer punktuellen Ballung eine Herausforderung an das Kurzzeitgedächtnis stellt. Dieses "Manko" wird allerdings allemal durch die Spannung¸ die wiederum parallel aufgebaut wird¸ wettgemacht.Unbesehen kann man dieses Buch zur Lektüre empfehlen¸ allerdings sollten zartbesaitete Leser diese mit Vorsicht angehen¸ da die Autorin nicht unbedingt den Schleier der verklärenden und zurückhaltenden situativen Abstrahierung¸ über die Handlung deckt¸ sondern sehr plastisch und anschaulich erzählt¸ was ab und an die Fantasie derart anregt¸ dass die fiktive Handlung allzu realistisch zu werden droht.
Eine Rezension von: Florian Kayser http://www.geisterspiegel.de