Die Töchter des Nordens
Dies ist eine Rezension aus Der phantastische Bücherbriefdem monatlich von 1980 bis 2021 erschienenen Newsletter vom Club für phantastische Literatur von Erik Schreiber. |
Auf den ersten Blick mag The Carhullan Army zu deutsch Die Töchter des Nordens als prophetischer, futuristischer Roman in der Tradition von H.G. Wells, Margaret Atwoods ein Novum sein. Das Buch spielt in einer beängstigend nahen Zukunft, in der das Öl zur Neige geht und der Klimawandel sich deutlich bemerkbar macht. In China und Südamerika wüten Kriege, während Grossbritannien, das in Bezug auf Nahrung und Energie völlig von Amerika abhängig ist, von einer alles durchdringenden Militär-Diktatur regiert wird. Das trostlose Leben der Bürger wird vollständig reguliert. Frauen werden gezwungen, empfängnisverhütende Spiralen zu tragen. Dieses grosse Bild ist verlockend, so dass es frustrierend ist, dass Sarah Hall mehr von der Froschperspektive betört zu sein scheint, insbesondere von der Ich-Erzählung einer 32-jährigen Frau namens Sister, die schreibt, während sie in einer Gefängniszelle in Lancaster schmachtet. Sisters klaustrophobisches Blickfeld hat etwas Vertrautes, das mit dem Genre einhergeht, aber ihre Geschichte ist wegen dieser Vorlage nicht weniger spannend oder effektiv. Sie beginnt einige Jahre zuvor mit ihrer nächtlichen Flucht aus der Stadt Rith, nach einer traumatischen Begegnung mit der Verhütungspolizei. Sie gibt ihre gescheiterte Ehe und ihren Job in einer Fabrik auf, die nutzlose Maschinenteile herstellt, und riskiert den Verlust ihres kostbaren "offiziellen" Bürgerstatus, um sich in die Berge aufzumachen, auf der Suche nach einer quasi-mythischen Gemeinschaft von Gesetzlosen, hauptsächloch Frauen, bekannt als Carhullan. Was sie schliesslich findet, ist kein Paradies, sondern ein abgelegenes Gehöft, das von 60 Frauen unter der strengen Kontrolle einer zähen charismatischen Köchin namens Jackie geführt und streng bewacht wird. Die Autorin beschwört auf brillante Weise das Leben in der Kommune herauf, in der jeder Einzelne - manchmal brutal - darauf getrimmt wurde, sich als Teil eines Ganzen einzufügen. Ihre detaillierten Sichtweisen der täglichen Routine in der schönen, aber unerbittlichen Landschaft sind gelungen beschrieben. Die Schwester wird physisch und psychisch völlig ausgebeutet und empfindet Carhullan dennoch als nahezu perfekt, weil dort "ein hohes Mass an Höflichkeit und Aufklärung herrschte, eine Gesellschaft, die weibliche Stärke und Toleranz feierte". Den meisten von uns würde es allerdings ziemlich trostlos vorkommen, ohne viel an Spiritualität, Poesie oder Humor, ganz zu schweigen von der eher dürftigen Auswahl an Männern in einer nahe gelegenen Siedlung und der ständigen unheimlichen Unterströmung von Gewalt. Carhullan hat eine Militäreinheit, der sich die Schwester anschliesst, nachdem Jackie erfährt, dass die Gemeinschaft bedroht ist. Der einzige Weg, wie einer von ihnen überleben kann, so beschliesst sie, ist, zuerst zuzuschlagen, und sie trainiert ihre kleine kampfbereite Truppe brutal, gnadenlos, bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Obwohl die Carhullan-Frauen nicht registriert und damit praktisch geächtet waren, waren sie grösstenteils pazifistisch eingestellt; Jackie Nixon hatte jedoch andere Vorstellungen und baute innerhalb der Kommune eine militaristische Einheit auf, die den Kampf gegen die Autorität aufnehmen sollte. Die Geschichte der Carhullan-Armee ist nicht die des letztendlichen Kampfes - den Ausgang erfahren wir gleich auf der ersten Seite -, sondern eher die von Sisters persönlicher Reise nach Carhullan und ihrer Verwandlung dort. Sarah Hall ist in ihrer Anatomie der Psychologie des Überlebens unerschrocken und doch einfühlsam, aber sie hält sich mit der Beschreibung grösserer Ereignisse zurück, in diesem Fall der finalen Klimaschlacht, und springt stattdessen direkt zu deren Folgen. Sarah Halls Erzählstimme ist nicht unbescheiden, sondern konzentriert sich viel mehr auf das, was sie sagen will, als auf die Art und Weise, wie sie es sagt - und doch ist es genau diese Klarheit, die ihren Roman viel von seinem Gewicht verleiht.
Ich ich denke, dass Sarah Halls Roman letztendlich ein sehr guter ist, weil sich Sisters Entscheidung in der Welt verankert anfühlt. Es hat etwas Eindringlicheres, wenn man sieht, wie ein Erwachsener und nicht ein Heranwachsender einen Prozess durchläuft, der eine Diktatur durch eine andere ersetzt und gleichzeitig so manipuliert, dass man dafür bereit sit zu kämpfen und zu sterben. Die Carhullan-Armee ist ein leiser, kraftvoller Roman, der lange im Gedächtnis bleibt; ein Roman, von dem ich vermute, dass er das wiederholte Lesen belohnt - und von dem ich sicher bin, dass er es verdient.
Eine Rezension von: Erik 'vom Bücherbrief' Schreiber https://www.facebook.com/erik.schreiber.355