Der Friedhof in Prag
Dies ist eine Rezension aus Der phantastische Bücherbriefdem monatlich von 1980 bis 2021 erschienenen Newsletter vom Club für phantastische Literatur von Erik Schreiber. |
Der Friedhof in Prag ist in seiner Art und Weise ein Text¸ der eine Sammlung geheimer Machenschaften darstellt. Wenn der Leser denkt¸ er hätte die verwirrende Verschwörung durchblickt¸ so eröffnen sich auf der nächsten Seite schon wieder ganz neue Betrachtungsweisen. In den angeblichen Protokollen der Weisen von Zion dreht es sich um eine angebliche jüdische Verschwörung auf einem Prager Friedhof. Hauptsächlich geht es um die Entstehung der Protokolle. Die einzige erfundene Figur in diesem Roman ist Simon Simonini¸ 1830 in Turin als Sohn des italienischen Offiziers und Anhänger Garibaldis geboren und in den vielfältigsten Berufen versiert. Er wuchs in einem sozialen Umfeld auf¸ wo er lernt¸ dass Frauen und Kommunisten seinem Leben entgegenstehen und verachtet religiöse Gruppen wie Jesuiten und Juden¸ ja er hasst sie sogar mit einer unheimlichen Leidenschaft. Auch wegen seinem Grossvater¸ dem bekennenden Antisemiten¸ der die Juden für das größte Unglück der Welt hielt. Mit 25 Jahren legt er sein juristisches Examen ab. Als sein Großvater Jean-Baptiste Simonini stirbt¸ beträgt sein Erbe Nichts. Oder besser¸ es ist ein riesiger Schuldenberg. Da man als Normalsterblicher damit nicht leben kann und schon gar nicht will¸ verlässt er den Pfad der Tugend und des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit und schlägt einen Weg als Fälscher ein¸ passend bei einem Notar erlernt. Die offiziellen Verbrecher¸ sprich der Geheimdienst von Savoyen werden auf ihn aufmerksam und beschäftigen ihn. In seiner neuen Eigenschaft als Handlanger und Spion lügt¸ fälscht und mordet er¸ trifft in Sizilien während des zweiten italienischen Unabhängigkeitskrieges auf Guiseppe Garibaldi¸ den Freiheitskämpfer. Aber auch andere illustre Persönlichkeiten wie Garibaldis Stellvertreter Nino Bixio und Ippolito Nievo gehören nun zu seinen Bekannten. In den 45 Jahren bis 1900 ist er bei allen wichtigen Ereignissen der Weltpolitik beteiligt oder Gast. Er beschreibt¸ dass die französische Revolution von bayerischen Freimaurern initiiert wurde. Sein Großvater gibt jedoch zu bedenken¸ dass die Freimaurer eine Erfindung der Juden sind. Zu Simoninis Briefpartnern gehören die unterschied-lichsten¸ ja sogar konträren Gruppen. Satanisten und Jesuiten¸ Mitgliedernn der Dreyfus-Affäre um den gleichnamigen Oberst und deren Gegner Edouard Drumont¸ den Schriftstellern Dumas und anderen mehr. Simonini ist für die unterschiedlichsten Auftraggeber tätig¸ aber letztlich interessiert ihn nur sein eigenes Ziel. So ist er als Spion ebenso für Frankreich tätig¸ wie für Italien¸ er fälscht Handschriften um Oberst Dreyfus als deutschen Spion zu überführen¸ er ermordet einen Priester¸ in dessen Identität er schlüpft um weitere Aufträge anzunehmen¸ die ihn gleichfalls in den Klerus wie zu den Teufelsanbetern führen. Er gerät in den deutsch-französischen Krieg 1870 – 1871¸ ist in Anschläge verwickelt und anderes mehr. Gleichzeitig stiehlt er geweihte Hostien¸ um sie gewinnbringend weiterzuverkaufen. Zudem lernt er den österreichischen Juden Dr. Fröide kennen¸ der psychiatrische Studien treibt. Da ist er auch gleich gut aufgehoben¸ denn Simon Simonini entwickelt sich langsam zu einer schizoiden und neurotischen Person. Ab 1897¸ er leidet inzwischen an Gedächtnis-verlust¸ schreibt er nicht nur sein Leben auf¸ sondern verfasst Bücher und Gedanken¸ die sich um Verschwörungen und Verschwörungen innerhalb von Verschwörungen widmet. Zuerst widmet sich er in seiner Arbeit jedoch den Jesuiten¸ die er mit seiner Schrift bloß stellen will. Er ändert jedoch seine Meinung und wettert gegen die Juden. 1903 erscheinen in Russland schließlich die in vierundzwanzig Abschnitte gehaltenen Protokolle der Weisen von Zion¸ tatsächlich von Matwej Golowinski im Auftrag der russischen Geheimpolizei Ochrana verfasst. Sie sind eine Hetzschrift gegen das Judentum. Dieser Schrift nach trafen sich einst jüdische Repräsentanten um den Grundstein zu legen¸ eine zukünftige Weltherrschaft anzustreben. Die russischen Autoren jener Schrift verstießen bereits dort gegen das Copyright und das Urheberrecht und entnahmen Samoninis Material die Szenen auf einem nächtlichen Prager Friedhof. So wird Simonini praktisch Mitverschwörer. 18 Jahre später stellte sich das Dokument jedoch als Fälschung heraus.
Mit dem Roman Der Friedhof in Prag von Umberto Eco haben wir (haben wir?) eine Mischung aus Schauerroman¸ Verschwörungstheorie¸ Thriller und historischen Geschichtsbuch. Der unsympathische Widerling und zugleich Haupt-darsteller¸ Simon Simonini ist in seiner Boshaftigkeit und seiner Menschenverachtung eine der abstoßendsten Hauptfiguren eines Romans¸ die ich kenne und so etwas wie das schlechte Gewissen des Autors und zugleich des Lesers. Der Roman ist eigentlich ein Rückblick¸ denn Simonini als Tagbuchschreiber ab 1897¸ wie es ihm ein gewisser Dr. Freud riet¸ leidet ja unter Gedächtnisverlust. Und so wird sein Leben Stück für Stück zusammengesetzt. Simon Simonini ist aber nicht allein mit seinem Tagebuch zugange. Da sind gleich zwei weitere Personen¸ die die Tagebucheinträge kommentieren. Wer genau liest¸ stellt fest¸ dass Simonini eine multiple Persönlichkeit ist. Einmal er selbst¸ dann der Abbé Dalla Piccola¸ der Simoninis Einträge ergänzt und kommentiert und schließlich der Erzähler¸ der überall seine Kommentare hinterlässt. Dennoch gelingt es recht gut¸ die Drei in einem Autoren zu unterscheiden¸ da es dem Verlag gut gelang anhand von unterschiedlichen Schriften den Unterschied deutlich zu machen. Wie bereits im Das Foucaultsche Pendel spielt Umberto Eco mit verschiedenen Erzählebenen. Erste Ebene: Simonini¸ zweite Ebene: Piccola¸ dritte Ebene: Der Erzähler. So ist die erste Erzählebene dem Tagebuchschreiber vorbehalten. Er schreibt¸ so wie er die Dinge und vor allem sich selbst sieht. Die zweite Ebene ist der Abbé¸ der meint mehr zu wissen¸ es nicht unbedingt muss und so kommentiert¸ wie die Dinge seiner Meinung nach liegen. Die dritte Ebene ist so etwas wie ein Übervater¸ der versucht alles richtig zu stellen. Der Erzähler kommentiert¸ füllt Lücken¸ klärt auf und verwirrt zugleich durch seine Arbeit. Aus diesem Grund wird aus Der Friedhof in Prag ein vielschichtiges¸ bis in die kleinsten Einzelheiten recherchiertes Geschichtsbuch in Romanform. Der titelgebende Friedhof in Prag¸ der sich als Leitmotiv durch den ganzen Roman zieht¸ existiert tatsächlich. Die letzte Ruhestätte der Juden¸ in der Josefstadt gelegen ist von seiner Lage und seinem Zustand¸ der beste Handlungsort für jeder Art von Verschwörungstheorien. Umberto Eco erweist sich wieder einmal mehr als Meister der Erzählkunst. Andererseits ist dieses intellektuelle Werk aber auch kein Roman im herkömmlichen Sinn. Daher wird es verschiedentlich als ein literarischer Fehler angesehen werden mit dem berühmten Satz: „Thema verfehlt¸ 6¸ setzen.“ Was wollte Umberto Eco mit seinem Roman erreichen? Ist es als Mischung von Fakt und Fiktion zu sehen¸ und somit eher der Science Fiction zuzurechnen¸ wobei die Wissenschaft in Geschichte geändert werden müsste also eine History Fiction? Im Roman befinden sich in der Handlung Wahrheit und Täuschung gleichberechtigt nebeneinander. Ist Umbertos Werk eines von beiden¸ wenn ja welches oder doch beides gleichzeitig? Ganz klar ist¸ um die Wahrheit zu erkennen und die Täuschung auszuschließen¸ muss man sich zwangsläufig mit der tatsächlichen Geschichte der Welt auseinandersetzen. Wer dazu nicht bereit ist¸ wird das Buch als langweilig empfinden.
Umberto Ecos Werk zeugt von einem belesen Menschen¸ der witzig schreiben kann¸ aber ebenso kritisch bis zynisch am Selbstwert des Lesers kratzt.
Eine Rezension von: Erik 'vom Bücherbrief' Schreiber https://www.facebook.com/erik.schreiber.355