Besuch von Drüben
"Der Horcher" ("The Listener"¸ 1907)¸ S. 7-43: Glücklich schätzt sich der arme Schriftsteller¸ als er in einem alten Haus ungewöhnlich billig eine Wohnung beziehen kann. Allerdings muss er rasch die Feststellung machen¸ dass der tragisch aus dem Leben geschiedene Vormieter sein Domizil noch nicht verlassen hat ...
"Die Spuk-Insel" ("A Haunted Island"¸ 1899)¸ S. 44-64: Ausgerechnet auf eine Insel in einem kanadischen See zieht sich ein Student zurück¸ um fern aller Ablenkung zu lernen. Dort ist"s tatsächlich ruhig¸ aber auch recht unheimlich¸ als ihm geisterhafte Indianer aufzulauern beginnen ...
"Besuch von Drüben" ("Keeping His Promise"¸ 1906)¸ S. 65-82: Marriott und Field waren als Knaben die besten Freunde¸ haben sich jedoch aus den Augen verloren. Jahre später trifft Marriott den alten Gefährten wieder. Von dessen elendem Aussehen abgelenkt¸ erinnert er sich erst spät des alten Schwurs¸ den er und Field sich einst leisteten: Wer zuerst stirbt¸ kommt den Überlebenden besuchen ...
"Gestohlenes Leben" ("With Intent to Steal"¸ 1906)¸ S. 83-110: Der große Abenteurer Shorthouse erfährt von einer Scheune¸ in der es umgeht; das Phantom eines bösen Magiers zwingt jene¸ die ihm dort zu trotzen wagen¸ sich zu erhängen. Für den neugierigen Geisterjäger und seinen Gefährten beginnt eine Nacht¸ an die sie noch lange denken werden - falls sie denn überleben ...
"Kein Zimmer mehr frei" ("The Occupant of the Room"¸ 1909)¸ S. 111-121: Minturn ist froh¸ in dem überfüllten Schweizer Hotel noch ein Zimmer zu bekommen. Die Vormieterin ist vor ein paar Tagen auf einer Bergwanderung verloren gegangen¸ doch in der Nacht zeigt sich¸ dass sie dem müden Reisenden näher ist als diesem lieb sein kann ...
"Ein gewisser Smith" ("Smith: An Episode in a Lodginghouse"¸ 1906)¸ S. 122-141: Es kann aufregend sein¸ ein Haus zu bewohnen¸ in dem ein Hexenmeister seine magischen Künste betreibt; das gilt ganz besonders dann¸ wenn dieser mächtigere Geister heraufbeschwört¸ als er unter Kontrolle zu halten vermag ...
"Seltsame Abenteuer eines Privatsekretärs in New York" ("The Strange Adventures of a Private Secretary in New York"¸ 1906)¸ S. 142-181: Der wackere Shorthouse (s. o.) soll für seinen reichen¸ aber etwas zwielichtigen Brotherrn einen Erpresser austricksen. Dieser lebt in einem überaus einsam gelegenen Haus und lauert bereits darauf¸ seinem Gast den Aufenthalt unvergesslich zu gestalten ...
"Griff nach der Seele" ("A Psychical Invasion"¸ 1908)¸ S. 182-246: Ein übereifriger Schriftsteller versucht¸ seinen geistigen Horizont mit Hilfe von Drogen zu erweitern. Das gelingt ihm besser als erwartet; tatsächlich öffnet er die Pforte zu einer Dimension böser Geister¸ von denen ihm einer nun im Nacken sitzt. Dr. John Silence¸ der berühmte Psychologe und Fachmann für das Okkulte¸ nimmt sich des Falles an¸ doch obwohl er sehr von den eigenen Fähigkeiten überzeugt ist¸ weiß ihm sein Gegner Paroli zu bieten ...
Eine Sammlung acht klassischer Gruselgeschichten¸ die zum Besten gehören¸ was das Genre zu bieten hat. Hier spukt es noch richtig¸ weil für den Verfasser nie der Wunsch¸ sich bei der Kritik - die handgreiflich auftretende Gespenster nicht sonderlich schätzt - lieb Kind zu machen¸ im Vordergrund steht. Statt dessen will Algernon Blackwood (1869-1951) sein Publikum unterhalten¸ ohne es gleichzeitig als Schar dummer Tröpfe abzuqualifizieren¸ denen es nur einen möglichst großen Schreck einzujagen gilt.
Blackwoods Erzählungen sind spannend und unterhaltsam¸ denn ihr Verfasser war kein versponnener¸ weltabgeschieden hausender¸ sondern ein neugieriger¸ weit gereister Mann¸ der fest mit beiden Beinen im Leben stand. In gewisser Weise spiegelt "Besuch von Drüben" Blackwoods Biografie wider. Unglücklichen Familienverhältnissen entfliehend¸ reiste der junge Algernon nach Kanada ("Die Spuk-Insel"¸ seine erste und schon meisterhafte Geistergeschichte überhaupt!) und ging später in die Vereinigten Staaten ("Seltsame Abenteuer eines Privatsekretärs in New York")¸ wo er sich u. a. als Farmer¸ Hotelier¸ Journalist und Schauspieler versuchte. 1899 kehrte er nach England zurück¸ unternahm aber auch später ausgedehnte Europareisen ("Kein Zimmer mehr frei"). Die daraus resultierenden Erfahrungen flossen unmittelbar in sein Werk ein: Jedem Leser wird sogleich klar¸ dass Blackwoods kanadische Wildnis oder seine Alpendörfer keine Hirngespinste sind.
Diese Ortskenntnisse werden ergänzt durch ein immenses Wissen des Okkulten und Übersinnlichen¸ für das sich Blackwood schon seit seiner Kindheit brennend interessierte. Im Jahre 1900 trat er dem "Hermetic Order of the Golden Dawn" bei¸ was seine mystischen Kenntnisse enorm erweiterte; "Ein gewisser Smith" zeigt einen Magier bei der Arbeit¸ die dem Verfasser zumindest theoretisch vertraut war.
Hinzu tritt schließlich die Faszination über die neue¸ noch höchst umstrittene Wissenschaft der Psychologie. Blackwood glaubt an eine Welt des Okkulten¸ die bevölkert wird von bösen oder besser: der menschlichen Moral nicht unterworfenen¸ fremdartigen Geistwesen auf der einen und den klassischen Gespenstern auf der anderen Seite - den Manifestationen im Leben wie im Tode kraftvoller¸ von starken Emotionen getriebener Seelen oder auch nur den Gefühlen selbst¸ die sich durchaus selbstständig machen und blindwütige ("Gestohlenes Leben") oder ziellose ("Kein Zimmer mehr frei")¸ aber nicht wirklich intelligente Phantome formen können.
Alle diese Wesen leben normalerweise in ihrer eigenen Sphäre. Dort können sie zufällig gestört oder angelockt ("Griff nach der Seele")¸ aber auch gezielt gerufen werden ("Besuch von Drüben"¸ "Ein gewisser Smith"). Das theoretische Fundament¸ wie es hier skizziert wurde¸ lässt Blackwood in "Griff nach der Seele" stellvertretend Dr. John Silence¸ den Physican Extraordinary - eine Mischung aus Sigmund Freud oder C. G. Jung und Sherlock Holmes - erläutern. Blackwoods Konzept ist auch deshalb zu interessant¸ weil es schon deutlich die Grenzen der klassischen viktorianischen Schauerliteratur sprengt¸ die das Gespenstsein primär als Strafe für diverse Verfehlungen wertete¸ derer sich der Geist im Leben strafbar gemacht hatte.
Der frühe Blackwood ist noch nicht gänzlich frei von dieser Haltung: Der unglückliche Blount in "Der Horcher" hat sich seinem schrecklichen¸ ohne jedes eigene Verschulden erlittenen Schicksal durch Selbstmord entzogen. Weil er so Gott¸ der aus unerfindlichen Gründen ein natürliches¸ aber qualvolles Ende für ihn vorgesehen hatte¸ ins Handwerk pfuschte¸ muss er seine nun doppelt elende Existenz im Tode fortsetzen: eine wahrlich alttestamentarische Weltsicht¸ die im Kontext freilich nicht zwangsläufig befürwortet¸ sondern von Blackwood¸ dem Okkultisten¸ der wahrlich kein Bilderbuch-Christ war¸ auch angeprangert wird.
Ein wenig aus dem Rahmen fällt die Story "Seltsame Abenteuer eines Privatsekretärs in New York". Hier lässt Blackwood das Grauen nicht schleichend auftreten¸ sondern entwirft - dem amerikanischen Schauplatz wohl angemessen - eine aktionsbetonte¸ teilweise witzig überzogene Grusel-Groteske im Stile Edgar Allan Poes. Zur Abwechslung wird nichts erklärt¸ sondern einfach nur geschildert. Dem Leser bleibt es dieses Mal absolut selbst überlassen¸ sich einen Reim auf die Erlebnisse des unerschrockenen Jim Shorthouse zu machen.
Leider wird bei dieser Gelegenheit einer der weniger angenehmen Wesenszüge Blackwoods offenbar: Die Figur des Juden Marx trägt unverkennbar antisemitische Züge. Wahrscheinlich hat der Verfasser eher unabsichtlich der latenten¸ alltäglichen Judenfeindlichkeit der britischen Gesellschaft ein Denkmal gesetzt¸ so wie wenige Jahre später Hollywood Amerikas Indianer in aller vermeintlichen Unschuld als blutrünstige Wilde und Bilderbuch-Bösewichte zu missbrauchen begann. Unerfreulich bleiben die für die Geschichte völlig unnötigen und daher noch deutlicher ins Auge stechenden Unterstellungen aber allemal. Umso wichtiger ist es¸ dass wir auch diesen Blackwood kennen lernen können¸ d. h. uns keine "bereinigte" Fassung der "Seltsamen Abenteuer" zugemutet oder diese Geschichte gar gänzlich unterschlagen wird - beides von deutschen Verlagen öfter praktiziert¸ als dem absichtlich für dumm verkauften Michel in der Regel bewusst wird.
Nichtsdestotrotz verdient Algernon Blackwood seinen Status als Großmeister der unheimlichen Literatur; er hat ihn sich redlich erarbeitet. Als er hoch betagt (und viel betrauert) 1951 starb¸ hinterließ er etwa 200 Kurzgeschichten und zwölf Romane¸ dazu Schau- und Hörspiele¸ Gedichte¸ Liedtexte u. a. In Deutschland ist davon nur ein Bruchteil erschienen¸ was die immerhin sechs Auswahlbände mit Gruselgeschichten und -novellen¸ die der Frankfurter Suhrkamp-Verlag veröffentlicht hat¸ dem wahren Fan nur um enger ans Herz wachsen lassen. "Besuch von Drüben" prunkt zudem mit der für das Haus Suhrkamp typischen sorgfältigen Übersetzung¸ deren liebenswerte und so durchaus gewollte Altmodischkeit den nostalgischen Zauber dieser Geschichten aus der guten alten¸ großen Zeit der englischen Gespenstergeschichte unterstreicht!
Eine Rezension von: Michael Drewniok http://www.buchwurm.info/