Atem Gottes
Anthologien spalten die Nation der Verleger¸ Leserschaft und Rezensenten. Die einen bejubeln sie als Plattform für bekannte und eher unbekannte Autoren. Die anderen winken müde ab: "In dieser Zeit unverkäuflich"¸ klagen die Verleger. Ich bewege mich in der Mitte ‐ aber immer mehr in Richtung Anthologien. Vor Jahren habe ich das Kreuz geschlagen¸ wenn mir einer damit kam. Ich fühlte mich nur von Romanen in epischer Länge angesprochen. Nunmehr finde ich diese Kurzgeschichtensammlungen immer interessanter¸ soweit sie gute Novellen beinhalten. Da sind wir auch schon bei der Krux dessen¸ denn nicht jeder¸ der einen guten Roman verfassen kann¸ ist in der Lage¸ ebensogute Kurzgeschichten abzuliefern (und umgekehrt).
Ich gebe zu¸ ich bin mit besonderer Erwartungshaltung an diese Anthologie herangegangen. Erstens¸ weil ich den Herausgeber persönlich kenne und wei߸ wie ehrgeizig er seine Projekte verfolgt; zweitens¸ weil ich etliche der in Band 1 und 2 aufgenommenen Autoren kenne und schätze ‐ sie teilweise auch in meinen Anthologien oder Projekten vertreten sind ‐ und drittens¸ weil der Herausgeber in seinem Vorwort selbst eine sehr hohe Messlatte anlegt. Hat er dieses Nonplusultra erreicht? Das sollte jeder Leser selbst entscheiden!
Die Namen der Autoren in Band 1 der VISIONEN lesen sich erst einmal nicht schlecht. Eine Mischung von bekannt und auf dem Weg dahin¸ die gute Lesekost erwarten lässt. So weit ‐ so gut.
Kommt der nächste Schritt: Was erwarte ich von dieser neuen Anthologie-Reihe¸ die unter der Flagge VISIONEN segelt? Nun ist die klassische Bedeutung der Vision (visio) die Erscheinung¸ die übernatürliche Erscheinung als religiöse Erfahrung¸ und es ist mehr als bezeichnend¸ dass gerade die Kurzgeschichten¸ die sich darum ranken¸ zu den besten dieses Bandes gehören.
Allen voran die großartig erzählte Story von Karl Michael Armer¸ die neben "Die unbefleckte Empfängnis" von Rainer Erler mit Abstand die beste ist. Ich gebe zu¸ ich habe von Armer noch nie etwas gelesen¸ weil ich in der Zeit seiner ersten Schaffensphase (achtziger Jahre)¸ eher Non-Fiction las. Aber "Die Asche des Paradieses" ist das Kleinod dieser Anthologie! Definitiv! Stilistisch¸ visionär und philosophisch. Eine Geschichte¸ die man nicht nur einmal liest. Das steht fest. Sie ist polit-kritisch¸ temporeich und weiß vom ersten bis zum letzten Satz zu überzeugen¸ hinterlässt einen tiefen Eindruck und macht nachdenklich. Leserherz¸ was willst du mehr?
Nicht umsonst wurde sie mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis 2005 als beste Kurzgeschichte ausgezeichnet. Ich stehe ‐ wie viele ‐ solchen Preisen sehr kritisch gegenüber¸ aber: Wenn je ein Preis verdient vergeben wurde¸ dann dieser! Alleine wegen der Karl-Michael-Armer-Story bin ich dankbar für diese Anthologie.
Doch soll das die ein oder andere ebenso vortreffliche Story nicht schmälern. Wie z. B. die von Rainer Erler. In flüssigem Stil bietet dieser die "Unbefleckte Empfängnis" einmal anders an. Dabei so menschlich lebendig geschildert¸ dass man mit dem Paar lebt¸ liebt ‐ und staunt. Was so alles zwischen Himmel und Erde möglich scheint!
Den humorigen Part dieses Bandes übernimmt Uwe Hermann in "Die unwiderlegbare Wahrheit". So abgedreht kann die Jagd auf den Weihnachtsmann also sein! Köstlich!
"Relicon" von Michael Marrak bietet den gewohnt flotten Stil des Autors¸ brachte mich streckenweise zum Schmunzeln und glänzt durch die teilweise unwirklichen Fragmente. Leider fällt die Schlusssequenz vorhersehbar aus¸ was aber bei mir dennoch keinen schalen Nachgeschmack hinterlassen hat.
Andreas Gruber¸ ein großartiger Autor des phantastischen Genres¸ konnte mich mit "Parkers letzter Auftrag" nicht vollends überzeugen. Erstmalig¸ was diesen Autor angeht. Wenn ich dagegen an seine düsteren Novellen in "Der fünfte Erzengel" (auch bei Shayol ‐ in Kooperation mit Medusenblut ‐ erschienen) denke¸ wirkt seine Story in diesem Band eher weniger unter die (Leser)Haut gehend. Damit ich nicht missverstanden werde: Sie ist nicht schlecht¸ aber bei dieser Anthologie erwartet man nach der Ankündigung halt nur literarische Sahnehäubchen.
Kommen wir zu Malte S. Sembtens "Jagdausflug". Sembten weiß zu unterhalten¸ das bezeugen Veröffentlichungen in anderen Anthologien. Auch seine Story ist routiniert erzählt¸ aber leider etwas vorhersehbar und mit einem eher dünneren Plot versehen. Bedauerlicherweise. Wenn man ‐ wie ich ‐ Sembtens-Texte kennt¸ weiß man¸ dass er es besser kann.
Jan Gardemanns "Case Modding" ist von der Struktur her ausgefallen. Die Dialoge sind frisch und unterhaltsam. Diese Story bildet einen modernen Kontrast zu den eher klassischen ‐ wirkt aber nicht völlig ausgereift.
Alle anderen Geschichten sind handwerklich gut erzählt¸ in einer literarischen Bandbreite¸ wie sie in allen Anthologien vorzufinden ist¸ daher gehe ich nicht näher darauf ein. Der geneigte Leser überzeuge sich selbst!
Und nun komme ich unvermeidbar zur Kehrseite der Medaille. Größtes Manko dieser Sammlung ist die miserable Story von Myra Çakan. Es ist ja bekannt¸ dass Cyperpunk ein weites Feld ist. Leider besonders¸ was das Niveau angeht. Myra Çakan hat¸ was das angeht¸ in die Vollen gegriffen und ganze Arbeit geleistet. Schlechter geht es fast nicht mehr. Leider hat gerade in dieser Story auch das Lektorat nicht genug eingegriffen; so hätte man zumindest stilistisch noch etwas "herausreißen" können. Denn auch Schnodder-Cyberpunk unterliegt einem gewissen Qualitätsanspruch ‐ den erwarte ich besonders in einer solchen Anthologie.
Warum es sich Herausgeber und Verlag angetan haben¸ diese bereits veröffentlichte "Geschichte" erneut zu verlegen¸ bleibt mir schleierhaft. Besonders im Falle von Helmuth W. Mommers¸ den ich als sehr kritischen Beobachter und Bewerter dieses Genres kennen gelernt habe. Diese Story hätte man zum Wohle der Anthologie einsparen müssen¸ den Platz lieber dafür nutzen sollen/können¸ die anderen Geschichten exklusiv illustrieren zu lassen¸ was die Anthologie auch optisch abgerundet hätte. Hier wäre (textlich) weniger mehr gewesen.
Das Cover findet hingegen wieder meine volle Zustimmung¸ es spricht von der Farbgebung und dem eher ungewöhnlichen Motiv an und hebt sich von der breiten Masse ab. Ein großes Kompliment an den Herausgeber. Zumal der Künstler Julio Viera nicht einfach "irgendwer" ist. Papier und Druck sind sehr gut¸ das Lektorat besser als bei vielen anderen Kleinverlagen¸ aber leider durch Stilblüten wie "Sein herrischer Tonfall ließ seinen Mundschutz beschlagen" noch über der Kulanzgrenze. Das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch¸ muss aber dennoch Erwähnung finden.
Alles in allem kann ich diese Anthologie wärmstens empfehlen. Sie macht Appetit darauf¸ von dem ein oder anderen Autor¸ auch in diesem Genre¸ mehr zu lesen¸ und sie macht neugierig auf Band 2¸ der bereits vorliegt. Wer die Reihe vollständig sein Eigen nennen will¸ sollte rasch zugreifen!
Eine Rezension von: Alisha Bionda