Als wir träumten
Ich kenne einen Kinderreim. Ich summe ihn vor mich hin¸ wenn alles anfängt¸ in meinem Kopf verrückt zu spielen. Ich glaube¸ wir haben ihn gesungen¸ wenn wir auf Kreidevierecken herumsprangen¸ aber vielleicht habe ich ihn mir selbst ausgedacht oder nur geträumt. Manchmal bewege ich die Lippen und spreche ihn stumm¸ manchmal fange ich einfach an zu summen und merke es nicht mal¸ weil die Erinnerungen in meinem Kopf tanzen¸ nein¸ nicht irgendwelche¸ die an die Zeit nach der großén Wende¸ die Jahre¸ in denen wir - Kontakt aufnahmen? Kontakt zu den bunten Autos und zu Holsten Pilsener und Jägermeister.
Fünf Jungs in Leipzigs wildem Osten¸ erst ist es DDR¸ dann kommt die Wende. Aber die fünf interessiert Politik nicht¸ viel eher als Redefreiheit wünschen sie sich¸ dass Chemie Leipzig in die Bundesliga kommt. Doch dieser Traum zerplatzt wie so viele andere in diesem Viertel mit verfallenden Häusern¸ Trinkern und heruntergekommenen Straßen. Schon zu DDR Zeiten war hier soziales Abseits und daran ändert auch die neue Freiheit nichts.
Sie wachsen auf in einem Milieu¸ in dem Männer rauchen¸ trinken und große Sprüche machen und¸ natürlich orientieren sie sich daran. Da ist Rico¸ ein Boxtalent¸ der beinahe Leipzigs Champion wird¸ aber als er zum ersten Mal einen Kampf vergeigt¸ hängt er die Boxhandschuhe an den Nagel. Da ist Walter¸ der die große neue Freiheit nutzt¸ um Autos zu knacken und Paul¸ den sie den Pornokönig nennen und alle zusammen sind sie Meister darin¸ in den zahlreichen neuen Läden Alk zu klauen.
Danie¸ eigentlich Daniel¸ der Ich-Erzähler schildert¸ wie die fünf erwachsen werden. Das heißt eigentlich werden sie eben nicht erwachsen¸ wir ahnen schnell¸ dass es nicht gut gehen wird und dass einer sein Halstuch der jungen Pioniere verbrennt¸ ist zwar das erste Mal¸ dass sie mit dem Gesetz in Konflikt kommen¸ aber beileibe nicht das letzte Mal.
Eine vorhersehbare Talfahrt und haben wir das nicht schon so oft gelesen? Kennen wir dieses Milieu nicht längst? Doch Clemens Meyer lässt uns einen ganz neuen Blick darauf werfen. Er hat keine Angst vor alten Klischees¸ er markiert weder den Macho¸ heroisiert die fünf nicht¸ macht auch nicht auf Sozialromantik oder Anklage und schon gar nicht suhlt er sich in "arm¸ aber ehrlich"-Vorstellungen¸ wie es Monsieur Ibrahim und all die anderen süßlichen Kitschproduzenten vormachen¸ in den Huren ein goldenes Herz und alle alle lieb haben.
Hier hat niemand jemand lieb. Hier will jeder kämpfen und träumt vom großen Glück¸ hat aber keine Vorstellungen¸ wie er es erreichen könnte. Für "Folge deinen Träumen"-Gesülze ist dies das falsche Buch.
Dafür ist es gut. Sagte ich schon¸ dass Clemens Meyer keine Angst vor Klischees hat? Er erzählt seine Geschichte¸ bricht sie in zahlreiche Szenen auf¸ lässt sie nicht chronologisch marschieren und trotzdem ist da ein roter Faden¸ eine Geschichte¸ eine Komposition¸ so gut¸ dass man sie gar nicht spürt. Der Autor hat auch keine Angst vor Personen¸ lässt die fünf und alle die anderen¸ Glatzen wie Zecken¸ Kneiper wie Lehrer vor uns erstehen und tanzt über dem verminten Gelände voller Klischees auf einem Drahtseil mit seinen Worten¸ dass dem Leser die Luft wegbleibt. Nicht nur einmal denkt man¸ jetzt¸ jetzt wird er abstürzen¸ direkt im Klischee landen¸ aber nein¸ es war nur ein Trick¸ er wollte uns in Spannung halten¸ in Wirklichkeit stolpert er nie¸ zu gut beherrscht er seine Tanzschritte.
Und seine Szenen! Egal¸ ob dramatischer Todesfall oder einfach nur Saufgelage und Rumhängen¸ er beschreibt die Szenen so gekonnt¸ kann die Stimmung einfangen¸ verliert sich nicht in verspielten Details¸ die literarisch sein wollen¸ dafür sitzen aber seine Bilder wie seine Worte nicht ungefähr¸ sondern genau.
Manch einer mag die Vorankündigung des Buches wie ich skeptisch betrachtet haben¸ aber die Skepsis verfliegt schnell. Hier ist ein Buch über die Wende¸ das endlich mal nicht der große Wenderoman sein will und den Leser mit geschwollenen Worten zudröhnt¸ offensichtlich formuliert¸ um damit Eindruck zu schinden. Meyer schindet keinen Eindruck¸ er braucht es nicht¸ weil er einfach seinen Figuren und deren Geschichte folgt. Und wir Leser folgen ihm hinein ins verfallende Leipzig der untergegangenen DDR-Chemie.
Dafür wird man nie gelangweilt. Erstaunlich wie es ein Erstling schafft¸ über fünfhundert Seiten seine Leser so zu fesseln¸ dass selbst altgediente Thrillerautoren vor Neid erblassen. Ein wenig Stephen King (Stand by me)¸ ein wenig Bukowski¸ in den absurden Szenen auch ein wenig John Irving¸ vor allem aber Clemens Meyer¸ der mit kaum glaublicher Leichtigkeit einen schweren Stoff erzählt. Einen Roman von dieser Dichte habe ich dieses Jahr nicht gelesen.
Fazit:
Lesen¸ lesen¸ lesen!
Eine Rezension von: Hans Peter Röntgen http://www.textkraft.de