42
Aus der Zeit gestoßen
Um 12 Uhr 47 Minuten und 42 Sekunden steht die Zeit still. Allerdings nur für eine kleine Gruppe im CERN Forschungzentrum bei Genf¸ bei dem riesigen Teilchenbeschleuniger¸ der erforschen soll¸ was die Materie im Innersten zusammenhält. Während alle anderen¸ alles andere im Zeitstrom weiterschwimmt¸ leben die "Chronifizierten" fortab außerhalb der Zeit. Andere Menschen sind starr mitten in den Bewegungen eingefroren¸ nichts regt sich mehr und selbst das Wasser in Leitungen und Flüssen bewegt sich nicht.
Zunächst hält der Schock die kleine Gruppe gefangen und beieinander¸ zu fremd ist das¸ was geschieht¸ die Folgen auch in kleinen Dingen fatal: Toilettenspülungen versagen den Dienst¸ Türen öffnen sich nur mehr durch Tricks und selbst die einfachsten gewohnten Alltäglichkeiten nehmen bizarre Formen an.
Tom Lehr führt seine "Was wäre¸ wenn ...?" Frage konsequent zu Ende. Was passiert¸ wenn plötzlich Menschen außer der Zeit existieren¸ hat er auch und gerade an Einzelheiten beantwortet¸ mit denen er seine Leser stets aufs neue überrascht. Endlich einmal wieder ein Buch¸ das es wagt¸ sich auf neue Pfade zu wagen¸ hinaus zu segeln¸ ohne das sichere Wissen¸ wo es ankommen wird¸ ein Buch¸ das den Leser immer wieder überrascht.
Der Autor ist außerdem sprachverliebt. Obwohl "verliebt" ist wohl das falsche Wort¸ denn er pflegt eher eine S/M Beziehung zu seiner Sprache¸ experimentiert mit ihr¸ quält¸ verdreht sie und was immer man mit ihr anstellen kann¸ dieser Autor probiert es aus. Das ist nicht jedermanns Sache. Vor allem im Mittelteil führt das zu einer Sprache¸ die verquer¸ unverständlich¸ verschachtelt mit Nebensätzen jongliert und teilweise Konstrukte verwendet¸ die den Leser in eine Wortwelt entführt¸ die an realsozialistische Plattenbauten denken lässt¸ Betonkonstrukte ohne jede Gefälligkeit¸ Bahnhofshallenambiente. Man kann darüber streiten¸ ob das über die ganze Länge eines Buches nötig ist¸ vor allem¸ wenn er¸ seiner Sprache willen¸ auch die abseitigste Kleinigkeit niederschreibt¸ nur weil sie Gelegenheit zu einem weiteren Nebensatz¸ einer weiteren Unterkonstruktion bietet.
Ein Pageturner ist das wahrlich nicht¸ aber Pageturner¸ Ex-und-Hopp Bücher¸ Big Mac Literatur haben wir die letzten Jahre genügend ertragen müssen. Lehrs Buch kann man nur langsam lesen. Und mancher wird es gar nicht lesen können¸ gar nicht lesen wollen¸ weil ihm Lehrs Sprachexperimentierfeld auf Dauer abschreckt¸ an eine Baustelle erinnert - und wer besucht schon gern Baustellen? An diesem Buch scheiden sich ganz eindeutig die Geister¸ die einen lieben es¸ die anderen wenden sich mit Grausen davon ab.
Doch das Hauptmanko des Buches sind die Personen. Hier tut Lehr¸ was er sonst so eifrig vermeidet: Er verwendet gängige Schemata. Der Ich-Erzähler zerquält sich in Nabelschau¸ wie es seit Jahrzehnten als literarische Pflicht gilt¸ fast scheint er aus der Literatur der Sechziger/Siebziger Jahre entlaufen. Nur leider: Sein Nabel ist nicht sonderlich sehenswert¸ seine inneren Monologe legen eher nichts frei und auch seine Mitfiguren beschreibt er so beliebig¸ dass sie nie eigene Gesichter bekommen. Wenn man die Namen dieser Figuren nehmen und mischen würde und an den Stellen¸ an denen Charaktere vorkommen¸ nach Belieben irgendeinen einsetzen würde¸ es würde fast nirgends auffallen. Denn nicht nur haben alle die Zeit verloren und damit eine Dimension des Lebens¸ allen fehlen überhaupt die Dimensionen. Sie sind nicht eindimensional¸ sondern nulldimensional¸ flach wie Scheckkarten¸ austauschbar wie Hamburger. Was sie tun¸ scheint beliebig¸ sie tun es nicht aus eigenem Antrieb¸ sondern weil Lehr es ihnen befahl: kein Deus ex Machina¸ sondern ein ganzer Olymp springt hier aus der Schachtel. Und was sie sagen - aber sie sagen sowieso wenig bis gar nichts - scheint zufällig. Da sie keine Gefühle haben¸ werden diese überall behauptet. Nur leider glaube ich ihnen die sowenig¸ wie ich meinem Laptop glauben würde¸ wenn er plötzlich seine tiefe Liebe zum Staubsauger behaupten würde.
So ist dieser Roman einerseits ein gewagtes Experiment¸ für das man den Autor loben muss¸ und andererseits ein zerquältes Buch geworden.
Fazit:
Ein Roman weitab von gängigen Pfaden¸ für sprachverliebte eine Fundgrube¸ für die¸ denen Charakter wichtig sind¸ eher nicht geeignet.
Über den Autor:
Thomas Lehr wurde 1957 in Speyer geboren¸ studierte Biochemie in Berlin und arbeitete lange als Programmierer. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Für seine Bücher erhielt er zahlreiche Literaturpreise¸ zuletzt wurde er mit 42 auf die Auswahlliste des Deutschen Buchpreises 2005 in Frankfurt gesetzt.
Eine Rezension von: Hans Peter Röntgen http://www.textkraft.de