Spielerhandbuch
Wie bei den meisten Erstlingswerken ist auch bei OSIRIS für den Autoren Thomas E. Müller ein Traum zur Wirklichkeit geworden¸ als der Band endlich gedruckt vor ihm lag. Gerade die letzten Monate der Entwicklung sind eine bewegte Geschichte¸ da nach dem NordCon 2002 noch einmal einige Weichen zur Produktion umgestellt wurden - Thomas traf dort auf ein kritisches Team aus Rezensenten und Autoren (u.a. Nephilim¸ Christian Günther und mir)¸ die seine Probeausdrucke und Vorhaben einer Realitätsprüfung unterzogen. Daraufhin wurde der Band komplett neu illustriert¸ noch einmal überarbeitet und schließlich komplett neu gelayoutet. Die Arbeit hat sich gelohnt!
Die zweite Weiche stellte sicherlich der gelungene Vortrag von Books on Demand (BOD)¸ die letzten Endes die Verantwortung für den ordentlichen Druck bekommen haben.
Der vorliegende Band OSIRIS Rollenspiel: Spielerhandbuch kommt in Form eines DIN-A5 Softcovers mit einer Stärke von 210 Seiten. Die etwas ungewöhnliche kleinere Form¸ erinnert an ein großes Taschenbuch bzw. Roman¸ und liegt beim Lesen auch entsprechend gut in der Hand. Etwas nachteilig ist die Form¸ wenn der Band beim Spielen aufgeschlagen abgelegt werden soll¸ wobei dann auch die kleinere aber stets lesbare Schrift sich bemerkbar macht.
Vorder- und Rückseite wurden von keinem geringeren als Larry Elmore verziert¸ der in seinem Kampfgetümmel eine bunte Melange von Helden aus den verschiedensten Genres abgebildet hat. Genau diese Mischung paßt sehr gut zu OSIRIS¸ denn bei diesem Rollenspiel handelt es sich - trotz des Ägyptisch anmutenden Namens - um ein Universal-Rollenspiel. Der Name bedeutet: Offener Standard im Rollenspiel - und die Frage bleibt offen¸ ob es die Kurzform nicht doch zuerst gab.
Universell
Seit Erfindung des ersten Rollenspiels beschäftigen sich auch immer wieder Autoren mit der "Eierlegenden Wollmilchsau" des Rollenspiel¸ dem Universal-Rollenspiel. Hier sind die Regeln völlig vom Hintergrund gelöst und so konzipiert¸ daß sich mit ihnen quasi alle möglichen Genre (z.B. Fantasy¸ SciFi¸ Horror¸ Endzeit¸ ...) spielen lassen.
Obwohl nur wenige Rollenspiele als "Universell" bekannt sind¸ findet man diesen Ansatz vor allem in den erfolgreichsten Rollenspielen wie Vampire: Die Maskerade (=Storyteller)¸ Dungeons&Dragons (=D20-System) usw. Diese Systeme werden aber nur zusammen mit einem Setting ausgeliefert und eigenen sich daher nur begrenzt als günstige Ergänzung einer eigenen Spielwelt. Die einzige erfolgreiche deutsche Ausnahme stellt noch GURPS dar¸ für das die Produktion von deutschen Produkten jedoch eingestellt wurde.
Alles in allem gibt es also durchaus einen Platz auf dem deutschen Markt¸ für ein neues Rollenspiel a la OSIRIS.
Nachdem man sich durch die Einführung und das drei Seiten lange Inhaltsverzeichnis einen Überblick verschafft hat¸ wird man Schritt für Schritt durch die Charaktererschaffung geleitet. Dabei stehen einem zwei gezeichnete Avatare zu Verfügung - die sportliche Artemis und der Bücherwurm Simon - die einen mit reichlich Hinweisen und Spielbeispielen versorgen. In meinen Augen eine sehr gut und teilweise sogar lustig umgesetzte Idee¸ die das Buch auch für absolute Rollenspiel-Einsteiger genießbar macht.
Das Spielerhandbuch enthält alle Grundregeln zur Erstellung eines OSIRIS Charakters¸ der aus 15 Charakterwerten und einer kleinen Auswahl aus immerhin 140 vorgestellten Fertigkeiten besteht. Damit sind bereits bei Spielbeginn sehr differenzierte Charaktere möglich und die Gefahr¸ daß hochstufige Helden zu Ebenbilder ihrer anderen Klassenvertreter werden¸ wird vermieden.
Die große Auswahl an Fertigkeiten kann natürlich¸ je nach Setting¸ auch eingeschränkt werden. So werden die diversen Kampf- und Metafähigkeiten (worunter Magie¸ Theologie¸ Psi-Kräfte usw. fallen) nur in ganz bestimmten Spielwelten eingesetzt werden¸ z.B. Fantasy oder Science Fiction¸ während man sie in anderen Genre¸ z.B. viktorianische Detektiv-Abenteuer¸ lieber wegläßt. Die im Band enthaltenen Tabellen lassen sich dazu ggf. leicht photokopieren und markieren.
OSIRIS zerlegt den Charakter in fünf Eigenschaften denen wiederum je drei Charakterwerte zugeordnet sind. Ein Beispiel wäre die Haupteigenschaft Fitness¸ zu der Kraftausdauer¸ Schnellkraft und Maximalkraft gehören oder die Haupteigenschaft Mentale Leistung zu der Intelligenz¸ Auffassungsgabe und Willenkraft gehören. Die einzelnen Eigenschaften und Werte sind genau erklärt und werden mit praktischen Beispielen verdeutlicht.
Der durchschnittliche Eigenschaftswert eines Startcharakters liegt etwa bei 120 Punkten¸ jedoch wurden zugunsten besonderer Geschöpfe jeweils eine Werteskala mit Erklärungen bis 360 Punkten angegeben. Bei der Erschaffung darf der Spieler 600 Punkte auf die fünf Eigenschaften verteilen¸ wobei man sich an bestimmte Grenzen der Spezies halten muß. Die jeweils zugewiesenen Zahlen¸ werden dann wiederum auf die darunter liegenden drei Charakterwerte verteilt¸ wodurch ein solcher Wert ziemlich wahrscheinlich zwischen 1 und 100 liegt.
Wer die äußeren Merkmale (Größe¸ Gewicht¸ Aussehen etc.) nicht frei festlegen möchte¸ kann die enthaltenen Zufallstabellen verwenden.
Danach ermittelt man anhand von Tabellen Dinge wie Kampfwerte¸ z.B. Bewegungsreichweite¸ Handlungspunkte und Initiative.
Durch Stärken und Schwächen¸ die per Zufall bestimmt werden können¸ kann man dem Charakter mehr Farbe verleihen.
Zum Schluß steht dann noch das Lernen der Fähigkeiten und Kenntnisse des Charakters an. Aus einer vom Spielleiter je nach Spielwelt zusammengestellten Fertigkeitsliste sucht man sich für seinen Charakter eine passende Auswahl aus.
Jede Fertigkeit besitzt einen Grundwert (wird von je zwei Charakterwerten abgeleitet)¸ der durch den Spieler mit insgesamt 100 Fertigkeitspunkten (für alle Fertigkeiten!) erhöht werden kann.
Bei Fertigkeitswerten von mehr als 75 steigt die Kaufratio von 1:1 auf bis zu 10:1 an¸ was eine Perfektion (100) sehr teuer macht.
Das System sieht bei Fertigkeitswerten größer 50 einen sogenannten Gegencheck vor¸ der das Steigern schwerer macht. Man muß mit einem W100 den aktuellen Wert der Fertigkeit überwürfeln um die Steigerung zu erhalten. Mißlingt der Wurf¸ scheitert die Steigerung und die eingesetzten Fertigkeitspunkte verfallen. Auf diesem Weg eine 100 zu bekommen ist sowohl kostentechnisch wie auch würfeltechnisch also quasi unmöglich¸ aber das ist vom Autor auch so beabsichtigt.
Es wird übrigens ausdrücklich darauf hingewiesen¸ daß man bei der Charaktererschaffung optional auf jeden Gegencheck verzichten kann. In meinen Augen eine sinnvolle Idee.
Obwohl es nicht zum Spiel notwendig ist¸ bietet OSIRIS ein Stufensystem (inkl. Titeln) an¸ mit dem sich Charaktere entsprechend ihrer Erfahrung vergleichen lassen.
Metafertigkeiten
Ein besonderes Thema sind natürlich die übernatürlichen Fertigkeiten. OSIRIS kennt hier Magie¸ Theologie¸ Schamanismus und PSI. Mit dieser Bandbreite lassen sich quasi alle bekannten Genre realisieren. Zu allen Bereichen gibt es eine Erklärung zum Ursprung und Machtbereich der dazugehörigen Metafertigkeiten.
Beispielhaft möchte ich eine Spielart der Metafertigkeiten herausgreifen. Magie speist sich z.B. aus Energiequellen die Äther oder Mana genannt werden und erlaubt elementare Beeinflussung¸ Erkenntnisformeln¸ Beschwörungen¸ Illusionen und Umformungen. Diese Macht wird mittels Willenskraft (zapft die Quelle an) und dem Ich-Charakterwert (psychische Stabilität¸ wird bei Fehlschlägen gesenkt) geformt. In einigen Fällen wird auch die Gesundheit des Charakters in Mitleidenschaft gezogen.
Das Kapitel Metafertigkeiten ist sehr ergiebig und die Regeln werden an vielen Stellen durch Beispiele erklärt¸ ohne jedoch damit auf eine Spielwelt/Genre zugeschnitten zu werden.
Der Kampf
Der Austausch von "Nettigkeiten" kann bei OSIRIS mit einem einfachen und einem komplexen Kampfsystem ausgetragen werden¸ wobei das komplexe System solche Feinheiten wie "gezielte Treffer" und andere Raffinessen mit einbezieht¸ die sich vor allem in SciFi oder Cyberpunk-Settings gut machen.
Ein Angriff erfolgt durch einen Check (W100 < Wert) der Waffenfertigkeit. Der Verteidiger führt ebenfalls einen Check auf seine zur Abwehr verwendete Waffenfertigkeit durch. Eine erfolgreiche Abwehr senkt den Angriffswert in Höhe des Würfelwurfes. Der einer Rüstung zugeordnete Wert wirkt ebenso. (Beispiel: Angriffswert(65) - Verteidigungswurf(27) - Rüstungswert(15) = Treffermaximum(23)
Das Treffermaximum muß der Angreifer mit seinem W100-Wurf unterbieten.
Anstelle der Verteidigung mit einer Waffe kann auch ein Schild verwendet werden¸ der über einen festen Verteidigungswert verfügt. Der abgefangene Schaden kann den Schild jedoch auch zerstören.
Als dritte Möglichkeit bietet sich das Ausweichen an¸ das auf den Charakterwerten Schnellkraft und Reflexe beruht oder die Flucht.
In allen Fällen wird der Wert der Verteidigung wie im obigen Beispiel verwendet.
Ist ein Angriff gelungen¸ wird der Schaden als Produkt aus Wert des Angriffswurfs und dem Schadenspotential der Waffe (Multplikator) ermittelt und nach Abzug der Schadensabsorption (je nach Rüstung) des Opfers als Verletzungspunkte angewendet.
Dies sein meine grobe Beschreibung des Kampfsystems¸ das im Ganzen - auch in der einfachen Version - noch wesentlich mehr Optionen bietet¸ dazu reichlich Beispiele und Ausführungen über Kampfmodifikatoren.
Im Anhang des Bandes findet man die wichtigsten Tabellen in kompakter Form¸ eine ausführliche und illustrierte(!) Liste aller Fähigkeiten¸ Kampf- und Metafähigkeiten. Natürlich gibt es auch ein gut kopierbares dreiseitiges Charakterblatt am Ende des Bandes.
Fazit:
In diesem "Zwerg" steckt in der Tat ein komplettes und durchaus komplexes Universal-Rollenspiel¸ daß einen Vergleich mit alten Bekannten nicht scheuen muß. Durch den kleineren Schriftsatz hat man alle Informationen untergebracht¸ die ansonsten wohl 200 DIN-A4 Seiten gefüllt hätten.
Der besondere "OSIRIS-Bonus" sind die sehr einsteigerfreundliche Ausrichtung des Bandes und die sehr gelungenen Illustrationen einzelner Textpassagen und des ganzen Fertigkeitenteils¸ so etwas hat es meines Wissens bislang nicht nicht gegeben. Auch der von Thomas beauftragte Zeichner Samar Klaus Ertsey hat eine hervorragende Arbeit geleistet.
Bei OSIRIS bekommt man eigentlich nie das Gefühl eines staubtrockenen Regelwerkes oder den Eindruck¸ daß hier Regeln beschrieben werden¸ die man in der Praxis nicht braucht.
Eine interessante Arbeit bleibt aber derzeit dem Leser überlassen¸ der später den Spielleiter stellt: die Vielfalt der im OSIRIS Rollenspiel: Spielerhandbuch enthaltenen Regeln auf die eigene Spielwelt abzubilden.
In naher Zukunft wird das zweite Buch Arlorns Bibliothek erscheinen¸ daß einem diese Anpassung abnimmt und eine Fantasy-Spielwelt vorstellt.
Eine Rezension von: Dogio http://www.drosi.de