Reiseführer der Neunten Welt
Rezension: Numenera Reiseführer der Neunten Welt - Von Tiefkühltruhe bis Vulkanwüste alles dabei
2018-10-21
Wer dachte, dass schon das Grundregelwerk von Numenera mit seinen unterschiedlichen Ländern ein breites Spektrum abdeckt, wird beim Reiseführer der Neunten Welt verwundert feststellen, dass die Autoren noch einen ganzen Haufen frischer Ideen oben drauf gelegt haben. Ob sich der Ausflug in die erweiterte Welt lohnt, lest ihr jetzt.
Numenera - Reiseführer der Neunten Welt
Seiten: 260
Preis: als Buch 49,95 Euro, eBook 24,99 Euro
Cover und Illus
Große Luftschiffe schweben vor dem Betrachter des Frontcovers und werden blauen Vögeln begleitet. Ihr Ziel ist ein großer Berg oder Turm, der an seiner Spitze eine Art Segel aufweist. Das ist ein Verweis auf eines der Länder, die im Buch ihren Platz haben. Ein Teil der Szenerie ist in Wolken gehüllt, was für mich etwas von ihrem Reiz nimmt. Hier wäre vielleicht eine seltsame Stadt oder Tiere als Blickfang besser gewesen. Zusammen mit der ruhigen Situation auf dem Bild spricht mich das Motiv rein.
Die Innenillustrationen sind wie von Numenera gewohnt vollfarbig. Der Stil variiert zwischen der Ausprägung im Grundregelwerk, etwas sterilen, computergenerierten oder verfremdeten Bildern und eher comicartigen Varianten. Das beißt sich etwas, zumal bis auf den comichaften Stil keiner schwerpunktmäßig nur einer Region zugeordnet wird. Dadurch gibt es nur beim Comicstil eine Verbindung zu einer Gegend und deren Bewohnern, die dafür unverwechselbar ist. Dafür gibt es viele Bilder.
Schade ist, dass zwar bei jeder Region am Anfang eine Übersichtskarte gezeigt wird, diese aber (im eBook) nicht zusätzlich als Anhang bereitliegen. Auch als hochauflösender Download stehen sie (auf Deutsch) leider nicht zur Verfügung. Da einzelne Regionen mit ihren Ländern gern auf 20 bis 30 Seiten beschrieben werden, leidet darunter etwas die Übersicht, da zur Orientierung immer zurückgeblättert werden muss.
Kleine Probleme führen zur Wertung von 3 von 5 Sternen.
Texte und Aufbau
Beim Lesen sind mir nur ein paar Rechtschreibfehler aufgefallen. Da ich das englische Original nicht kenne, kann ich nicht sagen, in wieweit die Übersetzung gelungen ist. Sprachlich geht das Buch auf jeden Fall in Ordnung. Ein einseitiges Inhaltsverzeichnis und zweiseitiger Index sind bei 262 Seiten etwas knapp bemessen. Dafür sind die Seitenzahlen im eBook verlinkt. Auch die Verweise in Spalten neben dem Text, die auch zu entsprechenden Stellen im Hauptbuch weisen, tragen wieder zur Übersicht bei.
Die Texte sind gut in Kapitel, Abschnitte und Absätze unterteilt. Hier und da hätte aber eine weitere Zwischenüberschrift der Lesbarkeit gut getan. Seitenreiter, die einzelne Kapitel an den Seitenrändern kennzeichnen, fehlen zumindest im eBook.
Trotz Schwächen sind 4 Sterne gerechtfertigt.
Die Welt: Erweiterungen alter Gebiete...
Zunächst werden neue, wundersame Orte in den bereits bekannten Ländern vorgestellt. Diese erheben nicht den Anspruch, alle Absonderlichkeiten dort abzubilden. So bleibt noch genug Platz, um eigene Ideen umzusetzen. Einer der neuen Orte sind die Ragenden Überreste in den Niederungen des Flusses Wyr in Malevich. Dort finden sich über gut 20 Kilometer die aus dem Wasser ragenden Überreste einer unbekannten Struktur. Neben großen Ringen, an denen sich Artefakte aufladen lassen, stechen dabei besonders die Schwarzen Glocken hervor. Dabei handelt es sich nicht um jenseitige Musikinstrumente. Vielmehr sind es Kugeln oder Halbkugeln, die schwer zu öffnen sind, dann aber immer ein kleines Geheimnis wie Cypher oder Numenera bereithalten - quasi das Überraschungsei der Neunten Welt.
Dabei kann es sein, dass an einem Tag eine begabte Entdeckerin im Innern einer Glocke wertvolle Teile entdeckt und mitnimmt, und ein paar Tage später weniger begabte Schatzsucher auf einmal ganz neue Sachen entdecken, die vorher nicht da waren und ihre Vorgängerin auch nicht hinterlassen hat. Einige Glocken werden so regelmäßig besucht, dass zu ihnen sogar Wege angelegt wurden. Die gibt es noch in einer unsichtbaren Variante, bei der die Innenseite nach außen gekehrt wurde.
Die Schlucht der Klingen liegt dagegen im Pytharonischen Imperium. Deren Boden wird von messerscharfen Grashalmen bedeckt. Sich durchzuschneiden ist mühsam. Zum Glück wurden in einem nahen Dorf energiebetriebene Stelzen erfunden, Mit denen machen die Einwohner in der Schlucht Jagd auf die dortigen Tiere namens Kolod. Auch eine zeitreisende Söldnertruppe gibt es dort. Mit denen können Entdecker in die Vergangenheit reisen und an der Erfindung der Stelzen teilhaben.
Auch in der Ferne finden sich neue Wunderlichkeiten. Xakarl ist eine Stadt, die von gut zehntausend insektenähnlichen Wesen bewohnt wird. Die Häuser ähneln großen Termitenhügeln. Die Bewohner tragen als Abzeichen andere, lebende Insekten (oder Teile davon). Unter der Stadt liegt noch eine ältere Ansiedlung voller Geheimnisse. Noch ungewöhnlicher kommt die Schwarze Stadt daher. Dort schweben die riesigen , sich nach unten verengenden Gebäude über dem Erdboden und sind miteinander verbunden. Die Bewohner sind ernst und studieren neben Geschichte noch Botanik, Zoologie und Biologie. Für sie wohnen im Boden und der Luft Dämonen. Daher betreten sie den Erdboden selten. Energiebetriebene Artefakte werden in der Stadt durch einen energiefressenden Schleim nutzlos.
Die neuen Ideen fügen sich nicht nur gut in die bisherige Welt ein, sondern bereichern diese auch um zahlreiche Möglichkeiten. Besonders die Schwarzen Glocken sind immer für einen Abstecher gut. Etwas schade ist, dass Augur-Kala nicht vorkommt, obwohl das Land im Grundregelwerk nicht komplett beschrieben wurde. Ansonsten gibt es bei den alten Regionen nichts zu meckern.
Die vielen spannenden Ideen erhalten von mir 4 Sterne.
...und neue Sensationen
Der Großteil des Buches beschreibt fünf neue Regionen, die auf dem riesigen Kontinent der Neunten Welt aber nur einen Bruchteil der Landmasse einnehmen.
Der gefrorene Süden schließt sich jenseits der Eismauer an die Heimfeste an. Die Region wird - wenig überraschend - in erster Linie von der großen Kälte geprägt. Die wird durch seltsame Maschinen verstärkt, damit Artefakte des Südens funktionieren. Denn die benutzen vielfach Kälte als Energie. Fortbewegungsmittel Nummer 1 an Land sind Schlitten, die von Kreuzungen aus Wölfen und Spinnen gezogen werden (den Eurieg). Ebenfalls als Mischwesen, diesmal aus Gorillas und Mammuts, könnten die Gezahnten Grorthas durchgehen.
Wundersame Örtlichkeiten sind unter anderem die Urulivanebene. Dort gibt es große, wandern Sphären, die seltsame Wirkungen auf nahe Wesen entfalten. So wachsen Kinder manchmal binnen weniger Wochen zu Erwachsenen heran, Glas fällt in sich zusammen oder Töne über dem mittleren C können nicht mehr gehört werden. Antre wiederum ist eine Stadt in einer riesigen Höhle, wo die Gebäude aussehen wie lange, gerade Türme, Die verfügen aber über keine Treppen, was ihre Nutzung für Nichtflieger erschwert.
Lostrei nördlich der Heimfeste ist dagegen schon klimatisch eine viel angenehmere Region. Entgegen der Gerüchte, dass die Bewohner dort eine Invasion vorbereiten, sind sie keinesfalls daran interessiert. Im Gegenteil, die Gaianer fühlen sich durch ihren Animismus sehr stark mit ihrer Umwelt verbunden. Viele von ihnen haben einen Tiergefährten. Und sie schätzen die persönliche Freiheit. Kontakt zu den Geistern stellen in der Gaianer-Religion die Amaed her. Diese roboterartigen Konstrukte der Vergangenheit werden neu programmiert und wiedererweckt, um ihre Aufgabe zu erfüllen.
Aerathis, die Hauptstadt Lostreis, wo sich die Stämme treffen und über Politik beraten, ist eine Stadt aus verzierten Türmen und Glaskuppeln, die die Landschaft in ihre Architektur einbeziehen. In vielen Innenräumen wachsen zum Beispiel Bäume. Im Varidraolgebirge am der Westküste liegt dagegen der Ort Faelor. Dessen Häuser sind auf den Rücken riesiger, biomechanischer Vögel errichtet. Die bewegen sich selten und dann nicht weit. Falls ein "Vogelhaus" sich doch mal weiter entfernen will, versuchen Schmeichler, das Tier mit Komplimenten, Ködern oder Gewalt zurück zum Schwarm zu locken. Sicher eine gute Idee für Gruppen, die ihr Haus immer dabei haben wollen.
Im westlichen Ozean liegen die Rayskel-Inseln. Diese exotische Inselgruppe gruppiert sich rund um einen scheinbaren Unterwasser-Wasserfall. Aktuell versucht ein Herrscher, die Inseln unter seine Kontrolle zu bringen. Dazu benutzt er eine Schlägertruppe, die auf fliegenden Fröschen unterwegs ist. Außerdem lebt auf den Inseln ein amphibisches Volk, dass die Fähigkeit hat, Wasser zu formen. Kleidung aus fließendem Wasser ist eine gefragte Ware. Zu den besonderen Orten zählt das Dorf Kinider, dass unterirdisch in langen, durchsichtigen Rohren errichtet wurde. Da die wurmartigen Sandsulche sich gern um die Röhren winden, dabei ihre durchsichtige Unterseite mit den Organen im Körperinnern zeigen und Fleischfresser sind, erfreuen sich die Röhren nicht unbedingt großer Beliebtheit als Wohnort.
Weniger liebenswert ist dagegen Vralk. Dieses Land nördlich der Uhr von Kala hat nicht nur ein raues, stellenweise wüstenhaftes Klima, sondern auch einen harten, egoistischen Menschenschlag hervor gebracht. Dort zählt pure Boshaftigkeit als Tugend, Barmherzigkeit gilt als Schwäche. Einzig das Wohlwollen der Oberen zählt, da es kein Geld gibt. Die Vralkaner bereiten sich auf eine Invasion der anderen Länder vor. Hier treffen Mad Max und die Azteken-Religion aufeinander. Denn nur Blut kann die Götter der Vralkaner beeindrucken.
Das Herz Vralks bildet die Wüste Ghastlov. Neben den "normalen" Stürmen voller Asche gibt es dort noch die Heulstürme. Diese gewaltigen Unwetter können ihren Opfern mit ihrem Heulen geradezu das Fleisch von den Knochen schälen. Höllbrunn im Feuerzinnen-Gebirge wird wiederum von einer lebendigen Hitze geprägt. Die ist durchaus zu Verhandlungen bereit.
Noch weit jenseits von Vralk finden sich hingegen die Länder Dämmerung. Diese Reiche werden mit der Heimfeste durch ein Portal verbunden. Wie der Name vermuten lässt, hat die Region einen gewissen Einschlag Richtung Ostasien. Der fällt allerdings nicht sehr groß aus. Die Bewohner sehen sich als Fortsetzung früherer Zivilisationen, nicht als neue Kultur. Nach dieser Logik sind die Numenera das Geburtsrecht der örtlichen Menschen. Unter denen gibt es die sogenannten Proxima, die in gewissen Punkten künstlich wirken. Ihre Unfähigkeit zur sozialen Interaktion erinnert an das Autismus-Spektrums-Syndrom.
Die Menschenreiche Corao - deren kilometerhohe Hauptstadt mit Segeln auch das Buchcover ziert -, Bruul und Zare werden von den Uraeyl heimgesucht. Diese vierbeinigen Kreaturen sehen Menschen nicht als intelligent an, mögen aber den Geschmack ihres Fleisches. Sie fangen die nicht nur, sondern halten auch Herden von ihnen. Anders als andere Unholde haben sie eine Kultur und sogar ein Königreich gebildet. Durch die immer stärker werdende Menschheit werden sie zunehmend an den Rand gedrängt.
Ebenfalls enthalten sind Beschreibungen vieler neuer Wesen, während andere kurz an den Seitenrändern abgefrühstückt werden. Auch passende Diskriptoren etc. für Charaktere aus den neuen Ländern haben es ins Buch geschafft.
Nach meiner rein subjektiven Meinung haben die neuen Regionen unterschiedliches Potenzial. Während der eiskalte Süden und das mörderische Vralk große Herausforderungen an die Spieler stellen, ist Rayskel halt die typisch exotische Insel-Gruppe im Ozean. Die Länder der Dämmerung rangieren für mich ebenfalls auf einer mittleren Spiel-Skala, da hier nur ein paar Änderungen gegenüber der Heimfeste bestehen. Lostrei gefällt mir dafür sehr gut. Das Land ist nicht nur das Gegenteil vom den, was die Leute der Heimfeste meinen. Sondern hält auch viele interessante Ideen zum Spielen bereit.
Insgesamt gebe ich den neuen Ländern 4 Sterne.
Fazit
Fans der Neunten Welt finden im Reiseführer viele neue Ziele, die sie besuchen können, ohne das eigene Ideen keinen Platz mehr fänden. Neben den neuen Orten in der Heimfeste und der Ferne wirken einige neue Länder aber eingeschränkt spielbar. Im Süden herrscht eisige Kälte, in Vralk dagegen unbarmherziges Klima und Menschen. Lostrei bietet sich hingegen sehr gut zum Spielen an, weil es durch den geplanten Kreuzzug leicht in eine Kampagne einzubinden ist.
Wer dagegen mit der Welt schon im Grundregelwerk nicht warm geworden ist, wird auch vom Reiseführer nicht umgestimmt.
Gute 15 Sterne von 20 sprechen für den neuen Ausflug in die Neunte Welt.
Fantasy-Kritik beim Sternenwanderer
Weitere Rezensionen und informative Artikel unterfantasykritik.wordpress.com/