Los Muertos
Los Muertos - Ein Rollenspiel mit Skeletten
Für alle Fans des fröhlich-morbiden Festtags "Dia de los Muertos" (Tag der Toten) oder den schaurig-schönen Filmen von Tim Burton wie "Corpse Bride" gibt es mit Los Muertos ein Rollenspiel, das voll in diese Bresche schlägt.
Die Helden dieses Spiels sind allesamt frisch Verstorbene die sich in einem aztekisch inspirierten Jeseits wiederfinden, das im Buch entweder als Unterreich oder Totenreich bezeichnet wird. Dem aztekischen Vorbild folgend besteht das Totenreich aus in einer Reihe angeordneten Ebenen, die sich thematisch deutlich unterscheiden. Die neun Ebenen sind miteinander durch Portale verbunden und lassen sich von Reisenden der Reihe nach besuchen.
Denn alle Verstorbenen starten in der gleichen ersten Ebene, den Pfortenländern, die weitestgehend einem idealisiertem Abbild der realen Welt nachempfunden ist. Hier begegnen die Helden auch Xolotl, einem wohlwollenden Gott des Totenreichs, der Ihnen persönlich eine kurze Einleitung in die Gepflogenheiten der Unterwelt gibt. Die beiden wichtigsten Informationen in Kürze: Ein Verstorbener kann maximal 4 Jahre in den Ebenen verbringen und wird dann verblassen. Und am Ende der Reise durch die Ebenen befindet sich Mictlan - eine Ebene die Xolotl als sehr lohnenswertes Ziel anpreist. Allerdings geht der Gott nicht weiter ins Detail und überlässt es den Verstorbenen sich "ihr Mictlan" selbst auszumalen, um einen Anreiz für die Reise zu haben.
Es zieht im Gebälk...
Ein weiterer Umstand dürfte den Verstorbenen gleich nach ihrer Ankunft im Totenreich auffallen: Verstorbene bestehen nur noch aus ihren Knochen. Obwohl sich die Skelettknochen physikalisch korrekt verhalten und sogar brechen können, verhält sich das Skelett durch eine Mischung aus Gewohnheiten und Erwartungshaltung der verstorbenen Seele weitestgehend als wäre noch ein fleischlicher Körper vorhanden, der alles zusammenhält. Das ist aber nicht der Fall und so landet ein aufgetragener Lippenstift zum Beispiel nicht auf unsichtbaren Lippen, sondern verziert den Schädelknochen. Verzehrte Speisen und Getränke fallen durchs Gerippe bevor sie sich etwas später auflösen. Ein Pfeil kann ungehindert durch die Rippenknochen durchfliegen. Usw.
Durch den Umstand, dass Besitztümer die der Verstorbene zum Todeszeitpunkt bei sich hatte (und nur diese) mit ins Totenreich wechseln (wie Kleidung... oder auch das Schwert das einen durchbohrt hat), erscheint jeder Verstorbene wie ein Zerrbild seiner menschlichen Hülle.
Ansonsten hat die Auferstehung als Skelett aber durchaus ihre Vorteile, denn die Knochen sind alle geheilt - unabhängig vom Alter oder sonstigen Zustand (oder Fehlen) bei Eintritt des Todes. Da es auch nicht mehr auf Organe oder Nerven ankommt, spielen ehemals vorhandene Behinderungen (Blindheit, Taubheit, ...) ebenfalls fast keine Rolle mehr. "Fast" weil Verstorbene Gewohnheitstiere sind. Wer bislang mit Krücken ging, wird vielleicht auch als Verstorbener Zeit brauchen um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Auch nett: sollte ein Knochen mal brechen, heilt so was wieder über Nacht. Allein der Verlust von Knochen verursacht länger andauernde Behinderungen.
Überhaupt sind Gewohnheiten aus der Zeit vor dem Tod etwas, was bei "Los Muertos" viel Flair ins Spiel bringt. Vielleicht um den Schock zu überwinden verstorben zu sein, klammern sich viele Seelen an Verhaltensweisen, die vor dem Tod eine Rolle gespielt haben. Auch wenn der Geschmackssinn flöten gegangen ist und Nahrungsaufnahme eigentlich optional, werden einstmals begeisterte Trinker, Esser, Raucher, ... auch im Totenreich ihren Süchten nachgehen wollen.
Alle sind gleich ... und manche gleicher
Manche Seelen sind besonders - und genießen dadurch Vorteile. Die eine Gruppe sind die Angelitos - vor der Pubertät verstorbene Kinder, die nun mit Engelsflügeln ausgestattet sind und damit sogar eine kurze Zeit fliegen können.
Zur zweiten Gruppe gehören Seelen die einen (in den Augen der Götter) besonders ehrenhaften Tod gestorben sind: die Grandeza. Grandeza sind im Nachleben mit einer besonderen Kraft der Sonne ausgestattet. Einmal abgesehen, dass im Totenreich alles übernatürlich ist, sind diese Kräfte bzw. Pfade noch einmal etwas Besonderes - man könnte sie auch als Superkräfte bezeichnen.
- Regenten können andere kontrollieren
- Späher haben geschärfte Sinne und besondere Beweglichkeit
- Hüter können alles reparieren (auch Knochen) und schützen
- Seher können Geheimnisse aufdecken oder Dinge verschleiern
- Krieger sind gerüstet und kampfstark
Diese Vorteile werden jedoch in der Charaktererschaffung wieder etwas ausgeglichen.
Charaktererschaffung
Bei Los Muertos handelt es sich um ein regelleichtes Erzählspiel. Ein Charakter besteht nur aus sechs Attributen, die einen Wert zwischen 1 (naja) und 4 (super) haben können: Soziales, Körper, Kämpfen, Sinne, Wille und Geistiges. Die Namen der Werte sind hierbei selbsterklärend.
Bei der Charaktererschaffung verteilt man die Startwerte 3 (zweimal), 2 (zweimal) und 1 (zweimal) und darf darüber hinaus 3 Spezialisierungen aussuchen. Spezialisierungen beschreiben spezielle Situationen, in denen der Verstorbene so handeln darf, als sei der Wert des Attributs um einen Punkt erhöht. Beispiele sind "Gedächtnis", "Pistolero", "Böser Blick".
Ach ja, Angelitos und Grandeza haben im Austausch für ihre Besonderheit eine 3 weniger und eine 2 mehr - und sie bekommen nur 2 Spezialisierungen.
Zusätzlich festzulegen sind Name, Todesumstände, Gepäck und ggf. besondere Hinweise... und schon kann es losgehen.
Bei einer derart leichtgewichtigen Charaktererschaffung kann man schon nach kurzer Zeit ins Abenteuer einsteigen, womit sich das Spiel gut für One-Shots wie auch Spielrunden auf Conventions eignet.
Die Regeln
Passend zur Charaktererschaffung sind auch die Regeln leichtgewichtig. Man braucht ein Kartendeck (Skatspiel) und darf bei Proben pro Punkt des passenden Attributs (und ggf. Spezialisierungen) eine Spielkarte ziehen. Der Spielleiter legt für eine Probe eine Schwierigkeit zwischen 1 (herausfordernd) und 4 (nahezu aussichtslos) fest. Jede gezogene rote Karte (Herz und Karo) ist ein Erfolg. Ein rotes Ass zählt als zwei Erfolge. Hat man Erfolge entsprechend der Probenschwierigkeit gelingt die Probe.
Hat man keine roten Karten gezogen und darüber hinaus noch ein schwarzes Ass, dann passiert etwas Schlimmes (Patzer).
Konkurrieren zwei Spieler miteinander werden ebenfalls Karten entsprechend den vom Spielleiter festgelegten Attributen (und ggf. Spezialisierungen) gezogen und die Erfolge verglichen, um den Sieger zu ermitteln.
Es ist übrigens verpönt andere Verstorbene körperlich anzugreifen oder gar umzubringen - immerhin haben alle Verstorbenen bereits ihre persönliche Erfahrung mit dem Tod gemacht. Spieler die das missachten, dürfen vom "Schicksal" (dem Spielleiter) allerlei Steine in den Weg gelegt bekommen, um das Ableben ihrer Spielfigur zu beschleunigen.
Apropos Schicksal. Entsprechend dem Wille-Attribut kann man bei Proben pro Punkt und Spielrunde einmalig eine Bonus-Spielkarte nachziehen um dem Glück ein wenig nachzuhelfen.
Wenn mal eine Probe schief geht, können je nach Situation Knochen brechen oder sich die Situation anderweitig verschlechtern. Bei einem Patzer wird dieses Prinzip noch einmal ordentlich verstärkt.
Da die Verstorbenen ja nun einmal ... gestorben sind, bedeuten vereinzelte Knochenbrüche nur ein kurzfristiges Übel. Zwar behindert der Bruch den Verstorbenen, aber bereits nach einer Nachtruhe ist ein einzelner Bruch wieder geheilt. Schlimmer ist der Verlust eines Knochens, denn dieser heilt nicht nach und stellt fortan eine dauerhafte Behinderung dar, die nur durch einen Hüter-Grandeza (selten) oder Knochenbrunnen (noch seltener) behoben werden kann. Mehr als drei Brüche dürfen es auch nicht sein - ein weiterer Schaden am Skelett lässt die Seele vergehen.
Die Möglichkeit zur Steigerung eines Charakters durch Erfahrung wird übrigens weitestgehend in die Hände des Spielleiters gelegt. Der Rat der Autoren ist, Steigerungen möglichst an besondere Situationen im Spiel zu koppeln. Wenn das Kampagnen-Spielgruppen zu sehr handgewedelt ist, kann man sich auch für die Einführung von Seelenpunkten (also Erfahrungspunkten) entscheiden.
Insgesamt recht übersichtlich.
Damit passt alles was die Spieler bei Spielbeginn wissen dürfen auf die ersten 30 Seiten des Buches.
Die Neun Ebenen und ihre Bewohner
Die nächsten 100 Seiten im Detail zu beschreiben würde jedem Leser den Spielspaß rauben. Hier finden sich die Beschreibungen der neun Ebenen, wobei es zu jeder Ebene eine abstrakte Einführung gibt und dann ganz konkrete Beispielszenarien beschrieben werden.
Jedes Szenario sollte einen One-Shot gut ausfüllen - und alle zusammen sollten eine schöne Kampagne ergeben.
Ich denke mal hier gibt es zwei Typen von Spielern - die einen die den aztekischen Jenseitsglauben studiert haben und sich oft wie zuhause fühlen werden und die Anderen - wie mich - die in eine fremdartig Bizarre, faszinierende Welt eintauchen dürfen in der allerlei Gefahren und vertrackte Situationen - aber auch wundersame Dinge - auf die Spieler warten.
Vielleicht noch ein Wort zu den Bewohnern. Neben anderen Verstorbenen, die sich wie die Spielerfiguren entweder auf der Reise nach Mictlan befinden oder auf dem Weg niedergelassen haben, gibt es noch andere Kreaturen.
- Tiere - eigentlich ist das selbsterklärend... außer das Tiere in der Totenwelt immer einen normalen Körper haben auf dem jedoch ein Tierschädel (oder passendes Pendant) sitzt.
- Pasados sind ehemals Verstorbene deren Zeit abgelaufen ist, die aber von einer bestimmten Gewohnheit (z.B. Musizieren oder Straße fegen) nicht ablassen können und - sofern ungestört - mit einem skurril verwachsenen seelenlosen Körper dieser Tätigkeit für alle Zeit nachgehen werden.
- Götter sind schon etwas Besonderes - im Guten wie im Schlechten - und einmal abgesehen von Xolotls freundlicher Begrüßung bei Spielbeginn nicht etwas, mit dem man die Begegnung unbedingt suchen sollte
- Dämonen ist die Bezeichnung für alle anderen Kreaturen in der Totenwelt - und die meisten Dämonen sind den Verstorbenen nicht freundlich gesinnt und sollten gemieden werden.
Technisches
Mit fast 140 voll-farbigen Seiten macht das DIN-A5 große Hardcover (auch als Softcover oder PDF erhältlich) eine gute Figur. Die Illustrationen sind aus einem Guss und der Text - trotz Pergamenthintergrund - durchgehend gut lesbar.
Was besonders hervorzuheben ist, ist der Stil der Illustrationen, die den morbide verspielten Charme des Spiels gut vermitteln - und inhaltlich gut platziert sind, d.h. den aktuellen Text gut unterstützen.
Auch nett, wenn nicht unbedingt notwendig, ist die klare Trennung in den Spieler-geeigneten Anfang und den Spielleiter-Teil.
Fazit
Los Muertos ist ein kleines aber feines Rollenspiel.
Durch den minimalen Regelkern ist der Einstieg auch an Rollenspiel-Neulinge schnell vermittelt. Durch den übersichtlichen Charakteraufbau sind vorgefertigte Charaktere schnell erklärt, bzw. verblichene Charaktere schnell ersetzt.
Auch für den Spielleiter gestaltet sich der Einstieg angenehm. Einmal abgesehen von den schnell überflogenen Beschreibungen der Spezialisierungen und Grandeza-Pfade die man "drauf haben" sollte, um sie nicht jedes mal nachschlagen zu müssen, sind auch die Szenarien schnell überflogen und spielfertig vorbereitet.
Es kann auf keinen Fall schaden, wenn man ein Fan des morbiden Los Muertos Hintergrunds ist, um die Beschreibung der Szenen mit Leben zu füllen. Was der vorliegende Band mit seinen Illustrationen tut, muss der Spielleiter mit Worten (oder Handouts?) hin bekommen. Da können die im Buch angegebenen Quellen sicherlich eine gute Hilfe sein, um sich in Stimmung zu bringen.
Es kommt natürlich auf die Spielgruppe an, ob man Los Muertos wirklich als Kampagne spielen möchte. Für mich ist es ein ideales One-Shot-System, das mit wenig Vorlauf auskommt.
Und ob es jeder Spieler bzw. jede Spielerin überhaupt mitspielen will, sollte man ebenfalls im Vorfeld klären, denn ein Spiel in dem sich alles um das Sterben bzw. Gestorbene dreht ist vermutlich nicht für jeden geeignet.
Eine Rezension von: Dogio http://www.drosi.de