Flandern 1302 - Die Macht der Zünfte
Jedes Spiel¸ das auf den Essener Spieletagen vorgestellt wird¸ erobert sich unter den Besuchern naturgemäß einen Ruf¸ der sich auf verschlungenen und meist nicht nachvollziehbaren Wegen verbreitet. Trotz der an sich sehr beliebten Thematik der Zünfte drangen jedoch über Flandern 1302 eher verhaltene Töne an mein Ohr: "Schon wieder ein Anlegespiel" und "Eher langweilig" hörte man nicht nur einmal.
So ging ich nicht mit den höchsten Erwartungen an dieses Spiel¸ auch wenn ich gestehen muss¸ dass mich neben dem Thema auch die außergewöhnliche Spielausstattung reizte. Zwar ist es auf den ersten Blick offensichtlich¸ dass es sich tatsächlich um ein Anlegespiel handelt¸ doch immerhin gibt es einen festen Spielplan¸ und die Anlegeteile selbst sind nicht nur schön aufgemacht¸ sondern haben auch ganz unterschiedliche Formen¸ so dass sie nur in bestimmten Konstellationen aneinander passen. Darüber hinaus ist von vornherein definiert¸ dass aus ihnen insgesamt nur sechs recht klar umrissene Städte zusammengefügt werden. Und darum geht es schließlich auch: In eben diesen Städten ringen die 2 bis 4 Spieler nebst einem neutralen (fiktiven) Spieler um die Vorherrschaft der von ihnen übernommenen Zunft. Jeder Spieler verfügt in einer der sechs Städte über eine vorgegebene Hoheit¸ die ihm hier einen anfänglichen Vorteil bringt. Eine der übrigen zwei Städte wird zunächst vom neutralen Spieler¸ die andere von der Kirche beherrscht.
In jeder Runde des Spiels übernimmt einer der Kontrahenten die Rolle des Startspielers¸ der am normalen Spielgeschehen nicht teilnimmt¸ sondern lediglich eine sogenannte goldene Karte zieht¸ die stets am Ende der Runde aufgedeckt wird. Die dadurch ausgelöste Aktion kann der Startspieler zumeist für seine eigenen Zwecke ausnutzen¸ seine eigentlichen Pläne werden dadurch aber des öfteren unterbrochen oder gar durchkreuzt.
Alle anderen Spieler können aus ihren fest vorgegebenen und für jeden gleichen Aktionskarten jeweils nur eine auswählen und versuchen¸ die Spielreihenfolge in dieser Runde durch Hinzufügen einer oder mehrerer Prioritätskarten zu beeinflussen. Die Aktionskarten lösen zumeist Bauaktivitäten in bestimmten Städten aus¸ wobei unterschieden wird zwischen der Fertigstellung eines Stadtviertels innerhalb einer festgelegten Stadt¸ wozu ein entsprechendes Stadtteil angelegt werden darf¸ und der Einrichtung einer Baustelle in einer beliebigen Stadt. Hierfür wird ebenfalls ein Stadtviertel platziert¸ es wird jedoch mit einem zusätzlichen Stein als Baustelle und damit als unfertig gekennzeichnet. Auf diese Weise wird ein Bauplatz bereits in Anspruch genommen¸ die Fertigstellung muss jedoch in einer späteren Runde durch eine weitere Aktion vollzogen werden.
Erwartungsgemäß unterliegen die Bauaktivitäten weiteren Regeln¸ die den Wettstreit zwischen den Zünften verstärken. So ist es beispielsweise nicht erlaubt¸ zwei benachbarte Stadtviertel für sich zu beanspruchen oder Stadtteile schon dort zu platzieren¸ wo sie keinen Anschluss an die restliche Stadt hätten. Darüber hinaus muss beziehungsweise kann man nicht immer eigene Stadtviertel errichten¸ sondern darf auch solche des neutralen Spielers oder der Kirche ins Feld bringen. Während letztere der Allgemeinheit gehören und somit den Wert einer jeden Stadt vergrößern¸ ist die neutrale Zunft ein fiktiver Gegenspieler¸ der zwar wohl nie in der Lage sein wird¸ das Spiel maßgeblich für sich zu entscheiden¸ aber doch dafür genutzt werden kann¸ die Pläne anderer zu vereiteln oder die eigenen zu unterstützen.
Eine weitere Aktion¸ die durch Ausspielen einer Karte ausgelöst werden kann¸ ist die des Aufnehmens. Da nämlich alle ausgelegten Karten stets offen liegen bleiben und jede Aktion nur einmal als Karte vorhanden ist¸ wird es früher oder später erforderlich¸ die Kartenhand wieder zu füllen. Zur Freude der Mitspieler verliert man dadurch selbstverständlich eine wichtige Bauphase¸ und es bleibt einem nur der Trost¸ dass irgendwann auch die anderen in die gleiche Verlegenheit kommen werden.
Ist in einer Stadt kein Bauplatz mehr vorhanden¸ so wird diese am Ende der aktuellen Runde abgerechnet¸ wobei ein durchdachtes und einfach zu handhabendes Punkteverfahren eine ausgewogene Wertung der jeweiligen Machtverhältnisse gewährleistet. Wer seinen Marker auf der zentral auf dem Spielplan angeordneten Punkteleiste nach Abrechnung der sechsten Stadt und der verbliebenen Handkarten am weitesten vorn stehen hat¸ gewinnt schließlich das Spiel.
Flandern 1302 entpuppt sich nach genauerem Hinsehen als ein nicht mit Carcassonne oder anderen Auslegespielen vergleichbares¸ komplexes und anspruchsvolles Spiel. Aufgrund der leider nicht sehr gelungenen Regel¸ deren Struktur ein schnelles Begreifen unnötig behindert und Fehlinterpretationen geradezu provoziert¸ wird man von dem Spiel nicht sofort in den Bann gezogen¸ doch sind diese Anfangsschwierigkeiten überwunden¸ entwickelt sich rasch ein vielschichtiges und spannendes Taktikspiel. Flandern 1302 ist weder ein Spiel¸ das man als Lückenfüller oder gar zum Abschluss des Abends angehen sollte¸ noch eines für Freunde des Glücksspiels. Vielmehr spricht es den mitdenkende Taktikspieler an¸ der die Interaktion mit den Mitspielern sucht¸ den wohl dosierten Glücksfaktor annimmt und sich an einem außergewöhnlichen Spiel mit vielen Optionen erfreut. All jenen sei Flandern 1302 nachdrücklich zum Kauf empfohlen¸ denn es ist ein rundum ansprechendes und gut durchdachtes Spiel.
Eine Rezension von: Ulf Zander