Codex: Urbanis
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Das universelle Rollenspiel-Fanzine Greifenklaue wurde bereits 1997 von Mitgliedern der Pfadfindergruppe Mantikore als gedrucktes A4-Heft ins Leben gerufen und eroberte ab 2005 auch das Internet. Neben dem gedruckten Fanzine betrieb Ingo aka "Greifenklaue" vor allem einen Blog, einen Podcast und ein eigenes Forum. Zur großen Bestürzung der Rollenspiel-Szene verstarb Ingo Schulze am Freitag den 26.11.2021. |
Als Hardcover präsentiert Feder & Schwert den Codex Urbanis, der trotz seiner 168 Seiten ungewöhnlich dünn wirkt. Inhaltlich ist es ein Quellenbuch zu Städten allgemein in der Engelwelt, wirft einen Blick auf ausgewählte Ketzerstädte und stellt die drei Organisationen Urbanis-Liga, Neue Hanse und Nordbund vor. Entgegen den bisherigen Quellenbänden ein ziemlicher Themenmix.
"Leben in den Städten" zeichnet ein Bild vom Leben und Überleben in der Stadt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Kirchen-, freien und Ketzerstädten. Die Städte unterliegen den verschiedensten Herrschaftsformen. So sind es in Split die besten Wissenschaftler der Universität, die sich durch Prüfungen ‐ auch kirchlich geprägt ‐ beweisen müssen. Anderenorts wie in Stanbul reagieren die Kinder und Jugendlichen und in Östersund sind nur Frauen berechtigt Bürgermeisterin zu werden. Das Manna der Kirche tritt als Zahlungsmittel immer mehr zurück, denn es wird mehr und mehr gehortet und aufgrund des hohen Wertes ist es längst nicht mehr das Zahlungsmittel des einfachen Mannes. Seltene Feuerechsen, verwesendes Papier, Reis oder eigenes Papiergeld sind die Beispiele, die der Codex vorstellt. Aber auch Zünfte, das Arbeitsleben, Kleidung, Körperpflege, Bildung, Gastronomie, Stände, Transport und Kommunikation finden hier in einigen Beispielen Platz.
Unzählige Einzelfälle aus unzähligen Städten zu den verschiedensten Themen füllen das Kapitel, so dass es insgesamt sehr zerhackstückelt und wenig konsistent wirkt. Zwar sind einige nette Ideen dabei, die vielleicht helfen, eine Stadt für die Engelwelt auszuarbeiten, vieles ist aber auch Stückwerk ohne Nutzen.
Das Kapitel "Urbanis-Liga, Neue Hanse und Nordbund" stellt die drei Organisation vor. Die Urbanis-Liga gilt als mächtiges Städtebündnis und wohl gefährlichster Gegner der Kirche. Jede der größeren Mitgliedsstädte bekommt eine Kurzvorstellung, auch der Intime-Codex-Urbanis sowie die Geschichte der Liga werden dann ausführlich präsentiert. Schließlich geht es um die aktuellen Themen, die die Liga beschäftigen: Luxburg soll in die Liga integriert werden, obwohl es noch seine Kirchenabgabe zahlt. Ein Augenmerk liegt auf der Eroberung Britanniens, den dadurch gebundenen Machtmitteln und den angewandten Taktiken. Die Kontakte zum Nordbund und die Sicht auf den Rest der Welt sind weitere Themen. Die Neue Hanse ist ein Wirtschaftsbund, der im Kern aus drei Städten besteht, mittlerweile aber Kontore in allen wichtigen und unwichtigen Handelszentren Europas besitzt. Da sie ausschließlich auf wirtschaftlichen Einfluß, nicht auf politische Macht setzt, wird die Hanse mit ihren riesigen stählernen Holgs ebenso in kirchlichen Gebieten akzeptiert wie in den Gebieten und Städten, welche die Kirche "Ketzer" nennt. Die Ausführungen zum Nordbund sind dann auf drei Seiten zusammengefasst. Zur Zeit der Ragueliten lies sich im Norden gut leben, vorausgesetzt man wollte seine Ruhe haben. Die Ragueliten kümmerten sich nur wenig um die Probleme und Sorgen ihrer Schutzbefohlenen. Unter den Ramieliten hingegen ist alles überreguliert und schnell fanden sich Widerstandsgruppen zusammen. Während der Südbund in Oslo geschlagen wurde, hält der Nordbund sein Gebiet in Guerilla-Manier.
Im gegensatz zum knapp abgehandelten Nordbund liegt der Fokus auf der Urbanis-Liga. Zwar wird sie gut beschrieben, aber es fallen nur wenig Spielinformationen oder gar Plothooks ab, die man sofort umsetzen möchte.
Das dritte Kapitel stellt "Musterstädte der Liga" vor. Essen, ebenso wie Nürnberg überbevölkert, lebt wie einst von der Stahlproduktion, und hat keine Hemmungen, Kohle und anderes aus Met-Nancy zu verkaufen. Die Doppelstadt selbst, die als nächstes vorgestellt wird, ist an den Kult der Maschine gefallen und vielleicht die fremdartigste Siedlung in dem Band. Die ganze Stadt ist mit einem Stacheldrahtnetz verhängt, aus dem nur Aussichtstürme lugen, während die Mauern zu Schrottwällen mit dicken Kanonen erweitert wurden und der Kult im Inneren ein eisernes Regiment führt. Moskau ist die Trutzburg am Brandland, der Rückzugsort für die Arbeiter auf den Erdölfeldern und der dritte Standort für Schwerindustrie. Nach dem Verrat der Kirche um das Brandlandgefährt "Exodus" sind die Bande zu den Angeliten geschwächt und das Bündnis mit der Liga stärker gewachsen. Wien präsentiert sich als geheime Hauptstadt der Liga unter Lena. Das eigentliche Wien liegt dabei eingegraben unter der alten Stadt. Die Reichen wohnen oben in den Kellern, die Armen im Dutzend unten in den Kanälen. Budapest ist mittlerweile Wiens Schild gen Osten und zugleich sein Tor zum Binnenmeer.
Aus meiner Sicht das beste Kapitel und zugleich das Kapitel mit dem meisten anwendbaren Spielinformationen. Die Städte werden im Detail lebendig, auch wenn es einige Merkwürdigkeiten gibt. Wiens Ärmste hausen in den dreckigen, stinkigen, teils traumsaatverseuchten Kanälen, während die Vorstädte als leer beschrieben werden. Klar ist das Gebiet auch nicht ungefährlich, aber dass nicht wenigstens ein paar dieses Schicksal vorziehen? Zu jeder Stadt gibt es zwei Intime-Berichte, die auch grafisch so aufgemacht sind: einer von Frau Theoderus für die Kirchensicht und eine vom Hanse-Mercator Stormbranders. Ein Schwachpunkt des Kapitels ist allerdings, dass mit Cordoba und Real zwei der wichtigsten, mächtigsten und schillerndsten Städte der Liga fehlen.
Gut gelungen sind auch die "Urbanen Legenden", die reichlich Traumsaatkreaturen vorstellen, während "Dramatis personae" NSC bereithält. Erstere werden intime vorgestellt, daher als Bericht eines Schreibers, der für die Stadt Zurik die Besprechungen des ersten Konvents wider dem Schrecken der Traumsaat in Stanbul protokolliert. Bei den NSC ist es eine bunte Mischung aus großen Herrschern und kleinen Fischen, wobei hier die d20-Werte gleich daneben stehen. Einige haben nette Plothooks, andere können als Begegnungs-NSC oder schnelle Opposition dienen. Im Appendix findet man schließlich die d20-Werte für Städterklassen (Gelehrter, Würdenträger, Tierbändiger), Prestigeklassen (Scharfschütze, Leibwächter) sowie die zuvor beschriebene Traumsaat. Den Abschluss bildet ein zweiseitiger Charakterbogen für Städter.
Vom Layout her ist das Werk engeltypisch gelungen, das Außenlayout in Gold, innen reichlich stimmungsvolle schwarz-weiße Tusche- oder bei den Traumsaatkreaturen Konturzeichnungen. Die Kapitel sind mit "Introiti" getrennt; überwiegend stimmungsvolle, zweiseitige Kurzgeschichten, die in die Kapitel einführen.
Fazit: Der Codex Urbanis kann nicht an die Qualität von Mater Ecclesia oder De bello britannico anschließen, dazu wirkt es zu sehr gestückelt und erzählt zwar viel, aber nur einiges Spielrelevantes. Trotzdem bietet es viele wertvolle Informationen über die Urbanis-Liga und wer in einer der vier Städte spielen will oder die Liga eine wichtige Rolle in seiner Kampagne zufallen lässt, kommt um diesen Band nicht drum herum.
Eine Rezension von: Ingo 'Greifenklaue' Schulze https://greifenklaue.wordpress.com/