Letzte Exodus
Eine der Neuheiten der Essener Spielemesse 2003 war das Erstlingswerk Der Letzte Exodus (DLE) von Disaster Machine Productions. Die Überraschung des ersten Blicks den das Messepublikum werfen durfte war auch gleich angenehm¸ denn DLE macht mit Hardcover¸ ordentlichem Layout und guten Illustrationen einen sehr guten Eindruck.
DLE ist die deutsche Übersetzung des englischen Rollenspiels "Last Exodus" von Synister Creative Systems.
Der Letzte Exodus spielt in einer "alternativen Gegenwart" und handelt von der entscheidenden Schlacht um Himmel und Erde. Ein zweiter¸ finsterer Gott¸ den die Menschen heute furchtvoll Satan¸ Ahriman und unter anderen Namen rufen¸ wurde einst von den Menschen selbst geschaffen und später mit Ihnen zusammen in ein Gefängnis verbannt. Dieses Gefängnis ist bei Der Letzte Exodus nichts anderes als unsere Erde... und den Zweiten Gott gibt es wirklich.
Bis zum Jahr 2000 verläuft die geschichtliche Entwicklung der Spielwelt ziemlich parallel zu unserer - dann allerdings beginnt das dritte Testament. Der finstere Gott setzt seinen Jahrtausende alten Plan in die Tat um: Gott zu stürzen und das Himmelreich zurück zu erobern.
Der Himmel hat schon früh mit Vorsorgemaßnahmen begonnen: schon vor 2000 Jahren schickte er z.B. den Begründer des Christentums¸ der seinen Weg für die Erlösung der Menschen bereitete. Andere recht erfolgreiche (Mohammed¸ Moses¸ Buddha) sind ebenfalls in die Geschichte eingegangen. Es ist aber jedem bekannt¸ daß nicht allzu viele Menschen den Wegen so richtig folgten... das Gleiche gilt zum Glück auch für die andere Seite¸ die noch weniger populär ist.
Nun ist die Zeit für einen entscheidenden Schritt gekommen. Anstelle nur eines Erlösers bringt Gott (und Satan) gleich Hunderte auf den Weg¸ die - jeder auf seine Weise - die Menschheit bekehren sollen.
Jeder Charakter übernimmt die Rolle eines solchen Gotteskindes¸ eines Messias oder Antichrist.
Die Aufgabe ist es Eden und die Erde gegen die Kinder des Anderen zu verteidigen und den fehlgeleiteten Gott endgültig zu besiegen (beide Seiten sind sich da einig). Dieses Ziel wird nur schwer oder gar nicht zu erreichen sein - ebensowenig wie ein einziger Messias/Antichrist überall sein und jeden retten können wird. Daher sollte man sich schon bei der Charaktererschaffung darüber Gedanken machen¸ welchem Schlag Leute man später bevorzugt seine Hilfe zukommen lassen will.
Zudem gibt es auch noch die jeweils "andere Seite"¸ die ebenfalls Menschen für ihre Sache gewinnen will.
Hintergrund
Der Band wird durch einen historischen Rückblick eingeleitet¸ der markante Punkte der religiösen Weltgeschichte aus der Sicht von DLE beschreibt. Die aktuelle Geschichte von DLE beginnt Sylvester 1999¸ als die ersten Seelen von 12 Sterblichen nach Eden gerufen werden¸ um zu erfahren¸ daß sie die 12 Apostel (je 6 "Engel" und 6 "Dämonen"¸ weiblich und männlich) sind. Zurück auf der Erde schlossen sich die sechs Engel zum Apostat (quasi "Erlösung durch Liebe und Hoffnung"¸ dem ersten Gott folgend) zusammen¸ während die sechs Dämonen sich als Sanhedrin (quasi "Erlösung durch Schmerz und Qualen"¸ dem zweite Gott folgend) vereinigten. Diese 12 Apostel kann man in DLE als neue Religionen oder im Rollenspieler-Slang "Klassen" bezeichnen¸ denen die Charaktere nacheifern können - immerhin wurden sie von einem zum Messias auserkoren.
Ein ganzes Kapitel beschäftigt sich mit der Vorstellung der Apostel. Jeder von Ihnen wird kurz in Stichworten vorgestellt und es gibt je zwei Illustrationen des Aussehens auf der Erde und in die spirituelle Form in Eden. Der interessantere Teil der Beschreibung ist aber das Interview¸ daß mit jedem Apostel geführt wird und über sein bisheriges und aktuelles Leben berichtet sowie einen Ausblick in "seine" Zukunft gibt.
Seelenreiche
Zwei weitere Kapitel beschäftigen sich mit den Seelenreichen¸ die sich quasi parallel über den ganzen Erdball erstrecken (also nichts mit Weltall und Erdkern...). Interessant ist¸ wie Himmel (Das gelobte Land) und Hölle (Die Gefallenen Reiche) sich die Länder und Kontinente aufgeteilt haben - und wie hier die Geschichte verlaufen ist: irgendwie ganz weit weg von unserer Realität und sehr nah an den irdischen Sagen und Legenden. Ingesamt ziemlich Phantastisch.
Hmm¸ weil es eh jeden interessiert: Deutschland (zumindest das untere Drittel) hat durch seine Rolle im zweiten Weltkrieg gleich ein eigenes warmes Plätzchen bekommen: Gehenna¸ eine Art Wüste mit KZs¸ in der Seelen aus "Geldgier" (gemeint ist Halo¸ die Währung der Seelenreiche) vernichtet werden. Na¸ klasse... nun ja¸ so richtig ungeschoren kommt aber kein Teil der Erde davon¸ also was soll's.
Was mich an diesen Beschreibungen stört¸ ist daß keine Karte eingebunden wurde¸ die den ungefähren Grenzverlauf der Reiche illustriert.
Charakter
Wie passe ich als Spieler in dieses Wirrwarr aus Göttern¸ Erde¸ Seelenreichen und Aposteln? Das man einen Messias spielen soll¸ wurde bereits gesagt - aber eine große Hemmschwelle bei DLE ist zu verstehen¸ was daran Spaß bereiten soll!
Den ersten Kontakt mit seiner neuen Aufgabe bekommt man durch die Apotheose¸ die als Prophezeiung (z.B. durch Visionen)¸ Martyrium (durch Sterben) oder durch Initiation (Einweisung in die Religion). In jedem Fall erkennt der Charakter¸ daß er ein Gotteskind ist - schon immer war - und ihm eine Aufgabe auferlegt wurde¸ die Menschheit (oder möglichst viel davon) für seinen Gott zu retten. Das Regelwerk beschreibt diese Aufgabe als Flugzeugabsturz¸ wo man als Messias einen Fallschirm hat¸ der eine gewisse Menge Leute tragen kann. Nettes Bild.
Als erwachtes Gotteskind kann man durch eigenen Willen nach Eden überwechseln - ohne dafür Sterben zu müssen. Außerdem kann man Wundertaten vollbringen und wirkt charismatisch auf Jünger¸ die sich nach und nach von alleine ansammeln¸ wie Fliegen um die... die Marmelade.
Jeder Spieler entscheidet sich für Messias/Antichrist (wenn der Spielleiter das nicht vorgibt)¸ wählt eine der sechs passenden Religionen¸ bestimmt seinen Seelentypus (Deitypus)¸ verteilt 16 Punkte auf die menschlichen Eigenschaften Seele¸ Geist¸ Körper und Kultur und weitere Punkte auf die Dei-Eigenschaften Geist¸ Körper und Kultur. Die Seeleneigenschaften entsprechen den menschlichen Eigenschaften plus X zu verteilende Punkte¸ entsprechend dem Seele-Wert der menschlichen Form.
Die Summe der anderen drei menschlichen Eigenschaften ergibt die zu verlernenden Fertigkeitspunkte der menschlichen Hülle und die drei Dei-Eigenschaften ergeben summiert die Lernpunkte für Dei-Fertigkeiten (z.B. Voodoo¸ Zauberei usw.).
Die X Punkte Seele von vorhin dürfen noch einmal in den sechs Wunder-Bereichen investiert werden (z.B. Segnungen¸ Stigmata oder Zerschmettern).
Dann dürfen noch Vorteile für die menschliche Hülle erworben werden¸ die mit Nachteilen für die Dei-Form bezahlt werden (und umgekehrt).
Den Abschluß bildet die Berechnung der Werte MAX (Körper)¸ MIT (Körper x 10) und MIN (Körper x20) für jeweils die menschliche Hülle und die Dei-Form. Diese drei Werte sind Lebenspunkte für Maximale¸ Mittlere oder Minimale Schadenswirkungen.
Fertig.
Nachdem die Charaktererschaffung in aller Kürze beschrieben wurde¸ führt der Band alle Schritte noch mal ausführlich aus¸ d.h. die einzelnen Wahlmöglichkeiten werden ausführlich vorgestellt.
Die Zugehörigkeit zu einem Apostel spiegelt die Einstellung zum Leben und ist so etwas wie die Clans bei Vampire:dM oder die Klassen bei D&D. Wesentlich leichter unterscheiden kann man die beiden Seiten auch an ihrer Dei-Gestalt die eher etwas himmlisches oder teuflisches an sich hat. Es gibt die Untergruppen: Elementare¸ Engel¸ Teufel¸ Faune (Tiergestalt)¸ Mythische (Feenwesen)¸ Fremdlinge (Aliens)¸ Künstliche (Roboter)¸ Leibhaftige (personifizierte Emotionen)¸ Karmischen (Supermensch)¸ Mächtige (Götterform) und Erleuchtete (keine Veränderung). Die Dei-Form hat Auswirkungen auf die verfügbaren Kräfte in den Seelenreichen - und das Charakterspiel.
Die Charaktererschaffung nimmt mit 113 Seiten den Großteil des Bandes ein.
Spielregeln
Erfreulich kurz sind die Spielregeln gehalten. Man braucht ein Pokerkarten-Deck (optimal eines pro Spieler) mit 54 Spielkarten (inkl. Joker¸ As zähl 1). Der Schwierigkeitsgrad einer Aktion wird vom Spielleiter zwischen 10 (leicht) und 30 (quasi unmöglich) festgelegt. Dann wird ein Basiswert aus passender Eigenschaft + Fertigkeit des Charakter errechnet.
Dazu wird der Wert einer gezogenen Karte addiert und nachgeschaut ob die Summe die Schwierigkeit erreicht oder übersteigt (Erfolg) oder nicht (Fehlschlag).
Jede Kartenfarbe entspricht einer Eigenschaft - hat man eine Übereinstimmung¸ ist die Aktion um 1 Punkt erleichtert.
Könige (gut) und Joker (schlecht) sind die kritischen Erfolge bzw. Fehlschläge in diesem System. Hier wird eine weitere Karte gezogen und deren Wert normal addiert¸ dann aber verdoppelt (gut) oder halbiert (schlecht) bevor mit der Schwierigkeit verglichen wird. Derart erzielte Erfolge mit einem König oder Fehlschläge mit einem Joker sind etwas Herausragendes.
König und Joker gleichen sich aus¸ der Effekt gleicher Karten ist kumulativ.
Interessantes System¸ keine Frage.
Eine Kampfrunde verläuft nach dem Schema: Initiative - Angriff - Verteidigung - Schaden.
Mit Geist und einer Karte wird die Reihenfolge ermittelt¸ dann erfolgt die Aktion Angriff auf die das Opfer mit einer Aktion Verteidigung antwortet. Der Schaden ist von der Waffe abhängig und wirkt (abzüglich der Eigenschaft Gesundheit) auf den MAX¸ MIT oder MIN-Wert.
Den Abschluß des Bandes machen einige Regel-Beispiele¸ das Thema Erfahrungsgewinn (Steigerungen nur durch imposanten Einsatz)¸ Anregungen für ein Liverollenspiel¸ Kampagnen und alternative Settings¸ Index/Glossar¸ Charakterblatt und allerlei phantastisches Gerät & Kreaturen (samt Spielwerten) aus den Seelenreichen.
Ein kleines Beispielabenteuer hätte den Band noch abgerundet¸ aber so sollte man sich von den vielen Spielbeispielen anregen lassen.
Fazit:
Der Letzte Exodus ist ein ziemlich ungewöhnliches Rollenspiel - und das in Hinblick auf die Spielwelt(en) und das System. Die Idee mit den Pokerkarten ist mir schon mal in Castle Falkenstein positiv aufgefallen und Spieler reagieren in der Regel recht positiv auf die Abwechslung. Außerdem sind die simplen Mechanismen dem Erzählspiel DLE dienlich.
Die Spielwelt erinnert mich auf den zweiten Blick an das wesentlich ironischere und überzeichnete In Nomine (Satanis) wo ebenfalls Heerscharen des Himmels und der Hölle aufeinandertreffen. Das ist aber meiner Ansicht nach hier auch die einzige Gemeinsamkeit¸ denn DLE legt viel Gewicht auf die vielfältige Natur der Seelenreiche und vor allem stehen hier mehr die Menschen im Vordergrund¸ die es zu retten gilt. Ich denke man kann DLE mit den jeweils richtigen Leuten und je nach Laune sehr phantastisch und episch oder sehr düster und ernsthaft spielen.
Eine Rezension von: Dogio http://www.drosi.de