Medizin im Mittelalter (Teil 1)
1999-11
Heiler & Co. oder kein wandelnder Heiltrank:
Medizin im Mittelalter (Teil 1)
| "Ich komme mir vor wie ein wandelnder Heiltrank!" Diese Klage einer D&D-Klerikerin war der Startschuß, einmal genauer über die Figur des Heilers/der Heilerin nachzudenken. Doch erst die nähere Beschäftigung mit der mittelalterlichen Medizin, speziell des 11.-13. Jahrhunderts, machte mir deutlich, was man nicht nur alles aus einem "normalen" Heiler machen kann, sondern wie vor allem auch Charaktere um einen interessanten Aspekt bereichern werden können, die bisher gar keine Ahnung von dieser Möglichkeit hatten. Ich denke hier vor allem an Animisten/Schamanen und Priester/ Kleriker, aber auch an Magier/Hexen und andere, ähnliche Charakterklassen. Die medizinische Landschaft des Mittelalters läßt sich grob in zwei Teile gliedern. Da ist zum einen die aus der Antike stammende "wissenschaftliche" Medizin, vor allem an den Klöstern als Aufbewahrungsorte der antiken Fachliteratur und seit dem 12. Jahrhundert zunehmend an den Universitäten beheimatet. Sie ist die Domäne der "gelehrten" Ärzte, übrigens vielfach Kleriker. Über ihre Grundlagen und Entwicklung schreibe ich in diesem Artikel. Die andere Richtung besteht in einer auf empirischem und kräuterkundlichem Wissen basierenden, mit magischen und religiösen Vorstellungen verquickten Heilkunde, die vornehmlich auf dem Land, z. B. von sogenannten "weisen Frauen", aber auch Mönchen ausgeübt wurde. Andere Heilkundige wie Barbiere, Bader, Starstecher und Steinschneider sind eher dazwischen anzusiedeln. |
Die "wissenschaftliche" Medizin basierte auf den drei großen Autoritäten der Antike:
Über Hippokrates, oft als "Vater der Medizin" bezeichnet, ist nur sehr wenig bekannt. Er wurde um 460 v. Chr. auf der Insel Kos geboren und stammte aus einer Ärztefamilie. Hippokrates wurde Wanderarzt und starb etwa in den Jahren 380-370 v. Chr. In seiner Zeit vollzog sich der Schritt von einer "learning-by-doing"-Medizin zu einer schreibenden Wissenschaft.
Das wichtigste Zeugnis dafür ist das sogenannte Corpus Hippocraticum, eine Sammlung von Schriften verschiedenster Art. Heute geht man von mehreren Autoren aus, die diese Texte in der Zeit von etwa 400 v. bis 100 n. Chr. verfassten. Über Hippokrates' persönlichen Anteil weiß man nichts Sicheres. Auch der berühmte hippokratische Eid stammt wahrscheinlich nicht von ihm. Dennoch sollte man diesen jetzt nicht einfach zu den Akten legen. Die Forderung nach bestimmten ethischen Eigenschaften des Arztes war nicht nur heute, sondern auch damals schon aktuell. Bereits in den Schriften des Corpus wird vom Arzt Uneigennützigkeit, Rücksichtnahme und die stete Unterordnung der eigenen Interessen unter die des Kranken gefordert. Dazu kam die für damalige Verhältnisse ungewöhnliche strikte Ablehnung übernatürlicher, magischer Einflüsse und Behandlungsmethoden. Krankheit galt als ein aus natürlichen Ursachen entstandener und rational erklärbarer Prozeß, dem der Arzt mit natürlichen Mitteln begegnen konnte. In der Krankheit äußert sich der Kampf der natürlichen Heilkräfte des Körpers gegen die krankmachende Schädigung. Die Therapie basiert auf der Annahme, daß die Natur, physis, selbst über eine starke Heilkraft verfügt und zur Selbstheilung tendiert. Die Hauptaufgabe des Arztes besteht in ihrer Unterstützung. Im Corpus Hippocraticum wurde auch bereits die wichtigste medizinische Theorie, die Säftelehre, dargelegt, auf die ich später noch eingehen werde.
Doch was wäre der Arzt ohne Arzneimittel. Für mehr als 1500 Jahre war das zwischen 60 und 78 n. Chr. geschriebene Werk De materia medica die maßgebende Richtschnur in der Pharmazie, der Pflanzen- und Drogenkunde. Dieses von Pedanius Dioskurides, dem bedeutendsten Pharmakologen der Antike, verfaßte Werk behandelte umfassend Arznei-, Nahrungs- und Genußmittel, Getränke, Salben, Mineralien sowie Zaubermittel und Amulette.
Den Ruhm, den Höhepunkt der antiken Medizin zu verkörpern, kann Claudius Galenus (ca. 130-201 oder 210 n. Chr.; meist Galen genannt), Arzt kleinasiatischer Herkunft in Rom, für sich in Anspruch nehmen. Auf seinem Werk basierte die spätantike, byzantinische und arabische Medizin. Über syrische und arabische Übersetzungen gelangten seine Texte seit dem 11. Jahrhundert wieder in das Abendland zurück, wo er bis ins 18. Jahrhundert zu den medizinischen Klassikern zählte. Sein Gesamtwerk unbekannten Umfangs, von dem 131 Bücher überliefert sind, basiert größtenteils auf dem Corpus Hippocraticum, bezog aber auch andere Kenntnisse mit ein. Durch geschickte Zusammenstellung des vorhandenen Wissens, das Galen teilweise durch eigene Erkenntnisse ergänzte, faßte er die antike Medizin zusammen, wobei er sich mit fast allen ihren Gebieten beschäftigte.
Damit nun eure Heiler, die ja hoffentlich die Heilkunst gründlich studiert haben, ihren Patienten in Zukunft ihre Beschwerden genauer erklären können und warum sie nun dieses oder jenes Mittel einnehmen müssen, weil gerade kein Heiltrank zur Verfügung steht oder der Heiler keine Lust hat, seine kostbare magischen Kraft für diverse Wehwehchen zu verschwenden, möchte ich jetzt genauer auf Galens Säfte- und Qualitätenlehre eingehen. Dieser bereits im Corpus Hippocraticum formulierten Theorie gab er die Form, auf der die Medizin bis in die Neuzeit hinein basierte.
Der Organimus setzt sich aus festen und flüssigen Bestandteilen zusammen. Letztere bestehen aus den vier Säften Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Ihnen sind jeweils ein Hauptorgan (Herz, Gehirn, Leber, Milz) und zwei Qualitäten zugeordnet: Blut ist warm und feucht, Schleim kalt und feucht, gelbe Galle warm und trocken und schwarze Galle kalt und trocken. Die Qualitäten sind die eigentlich wirkenden Kräfte, während die Säfte mehr als Vermittler dienen. Die Wirkungen der Qualitäten und Säfte sind aber nicht allein auf den Körper beschränkt. So korrespondieren die vier Qualitätenpaare (warm-feucht, warm-trocken, kalt-feucht, kalt-trocken) mit den vier Elementen Luft (warm-feucht), Feuer (warm-trocken), Wasser (kalt-feucht) und Erde (kalt-trocken), ebenso die Säfte, die außerdem noch mit den Tages- und Jahreszeiten, den Lebensaltern und den Himmelsrichtungen verbunden sind. Da von Natur aus in jedem Menschen ein Saft im Übergewicht vorhanden ist, bestimmt dieser dessen Temperament.
Der Mensch ist gesund, wenn sich die Qualitäten und Säfte in einer ausgewogenen Mischung befinden. Ändert sich die Funktion der einzelnen Körperbestandteile durch eine Wandlung ihrer Beschaffenheit, wird man krank. Überwiegt eine Qualität, erkrankt das "Gewebe". Galen versteht darunter z. B. Knochen, Sehnen, Muskeln und Nerven. Auch die Organe können erkranken, indem sie z. B. ihre Lage oder Größe verändern. Eine weitere Kategorie bilden die Krankheiten der Säfte, meist eine gestörte Mischung durch das deutliche Übergewicht eines Saftes. Bei Gelbsucht z. B. wird der Körper durch das Überfließen von zuviel gelber Galle ins Gewebe gelb verfärbt.
Die Ursachen für Erkrankungen liegen oft in äußeren Einflüssen wie fehlerhafter Ernährung, abruptem Temperaturwechsel, den Jahreszeiten, schlechtem Wasser oder Schädigungen durch Beruf und Lebensweise (Achtung Dungeonkrabbler und Wildnisfreaks!). Alle diese Faktoren wirken unterschiedlich auf die Menschen ein, die jeweils individuell und mit verschiedenen Krankheiten reagieren. Obwohl z. B. die Störung des Säftehaushaltes und damit die Krankheit stets den ganzen Menschen erfaßt, manifestiert sie sich meist in einzelnen Körperteilen. Zudem modifizieren Konstitution, Alter und Geschlecht die Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten und deren Verlauf.
Eigentlich müßten nach dieser Theorie unsere Charaktere bei ihrem aufreibenden Leben ständig krank sein. Aber wie durch ein Wunder passiert meist nicht allzuviel in dieser Richtung. Das liegt aber wohl eher daran, daß Krankheiten im Rollenspiel oft ein recht stiefmütterlich behandeltes Thema darstellen. Für den Fall, das auch eure Spielleiter diesen Artikel lesen: Achtet in Zukunft auf einen hohen Konstitutionswert!
Doch dann - trotz aller Mahnungen des Heilers ist es passiert. Nach der kräftezehrenden Monsterjagd, deren Erfolg mit einer ebenfalls anstrengenden Kneipentour gefeiert wurde, wacht der Barbar am nächsten Morgen schweißnaß auf. Sein Fieber steigt rasch und rote Flecken machen sich auf dem ganzen Körper breit. Statt gleich die Magie aus der Schublade zu holen und dann zum Tagesgeschehen überzugehen, könnte ein Heiler auch einmal wie ein spätantiker oder mittelalterlicher Arzt vorgehen. Dann wird er den Patienten zuerst sorgfältig beobachten und ihn über seine Beschwerden befragen. Zudem wird er Körperhaltung, Temperatur, Atmung, Beschaffenheit der Haut, Gerüche, Geräusche und anderes mehr untersuchen. Wichtige Hilfsmittel für die Diagnose sind die Harnschau, mit der Farbe, Konsistenz und Sedimente des Urins geprüft wurden, und die Messung des Pulses und seiner Abweichungen in Qualität und Rhythmus.
Bevor unser Heiler mit der Therapie beginnt, sollte er sich das oberste Gesetz ärztlichen Handelns erinnern: die Unterstützung der Physis. Dieses Prinzip hatte Galen von Hippokrates übernommen. Die Physis sorgt normalerweise selbst für den reibungslosen Ablauf der drei Krankheitsphasen: Nach der Veränderung der "Schärfe" der Säfte, z. B. am Urin erkennbar, werden diese gekocht, was sich u. a. durch Fieber äußert. Anschließend werden die verdorbenen Säfte als Schweiß, Urin, Schleim usw. ausgeschieden. Reicht die Kraft der Physis nicht aus, muß sie vom Arzt unterstützt werden, um wieder eine ausgeglichene Mischung der Qualitäten und Säfte herzustellen. Dabei sollte der Arzt stets zuerst mit milden Mitteln beginnen und erst nach deren Versagen stärkere anwenden. Evakuierende Maßnahmen wie Schröpfen, Aderlaß, Brech- und Abführmittel und die Förderung der Harnentleerung und des Schwitzens standen an erster Stelle. Der hoffentlich gut ausgebildete Heiler in unserem kleinen Beispiel erkennt, daß sich sein Kamerad in der zweiten Krankheitsphase befindet. Es gilt nun als erstes die verdorbenen Säfte zu entfernen. Ein Aderlaß, eine warme Decke und ein abführender Tee könnten die richtige Therapie sein.
Nach Galens Lehre konnten diese Maßnahmen durch Medikamente ergänzt werden, bei denen die Qualitäten im Vordergrund standen, durch die sie wirkten. Ihre Auswahl erfolgte nach dem Grundsatz contraria contrariis, d. h., daß das Gegenteilige als heilsam galt. Unserem Barbaren, der anscheinend zuviele warme und trockene Stoffe in sich hat, wird ein geschulter Heiler deshalb kalte und feuchte Mittel verabreichen. Ein Gerstenschrottrank z. B. macht feucht, löscht den Durst und kühlt ab. Zusätzlich würde er ihm eine Diät verschreiben, deren Nahrungsmittel ebenfalls die zur Krankheit passenden Qualitäten aufweisen. Die Chirurgie stand am Schluß der therapeutischen Bemühungen, sie galt als letztes Mittel und beschränkte sich weitgehend auf die Behandlung äußerer Wunden, Knochenbrüche und Verrenkungen.
Doch ein Heiler, der wirklich um das Wohl seiner Gefährten besorgt ist, wird sich nicht nur um die Kranken, sondern ebensosehr auch um die Gesunden bemühen. Denn das eigentliche Ziel der antiken und später mittelalterlichen Heilkunde war es, durch eine geregelte Lebensweise das Auftreten einer krankmachenden Störung generell zu verhindern.
Dies war die Aufgabe der Diätetik, welche sich im weitesten Sinne auf eine maßvolle Lebensführung bezog. Sie versuchte, unter Berücksichtigung der individuellen Konstitution alle auf das Befinden des Menschen einwirkenden äußeren Gegebenheiten ins Gleichgewicht zu bringen. Der Mensch sollte sich um ein ausgewogenes Gleichmaß z. B. von Wachen und Schlafen, Essen und Trinken, Sexualität und Enthaltsamkeit, Arbeit und Muße bemühen, die, beeinflußt durch die Art der Lebensführung, je nach vernünftigen oder unvernünftigen Gebrauch zur Erhaltung der Gesundheit oder zur Entstehung von Krankheiten beitragen. Wenn also demnächst euer Heiler euren Lebensstil kritisiert, liebe Helden und Heldinnen, denkt daran: Er will nur, daß ihr gesund bleibt.
Damit bin ich am Ende mit meinem kleinen Überblick über die galenische Medizin, wie sie mehr als 1500 Jahre lang das Gesicht der Ärztekunst entscheidend prägte. Was sich seit Galen in der Medizingeschichte getan hat, will ich euch jetzt kurz darstellen.
Nach Galens Tod hatte das römische Reich keine bedeutende Persönlichkeit mehr auf dem Gebiet der Medizin aufzuweisen. Nach dessen Untergang ging sie in Abendland und Orient getrennte Wege, die aber (glücklicherweise) später wieder zusammenführten.
Im oströmischen Reich von Byzanz wurde das frühere Wissen, vornehmlich das Galens, in den ersten Jahrhunderten vor allem gesammelt, neu geordnet und in großen Kompendien zusammengefaßt. Zudem wurden magische Vorstellungen hinzugefügt. Erst seit etwa dem 7. Jahrhundert kamen neue Erkenntnisse hinzu.
Dieses Jahrhundert war aber vor allem in anderer Hinsicht von Bedeutung, weil in diese Zeit der Beginn der islamischen Expansion fällt, die zu einer nachhaltigen Veränderung der byzantinischen Grenzen führte. Dabei fielen den Arabern auch medizinische Schriften in die Hände, z. B. bei der Eroberung Alexandrias 642, einem immer noch bedeutenden Zentrum der Wissenschaft.
Doch dies war nur eine Art, wie sich der Übergang der antiken Textüberlieferung vom griechischen in den arabischen Sprach- und Kulturraum vollzog.
Eine erheblich größere Rolle spielten die syrischen und persischen Übersetzungszentren der christlichen Sekte der Nestorianer und islamische Einrichtungen in Damaskus, Kairo, Antiochia, Basra und Bagdad. Dort wurden die griechischen Texte in die syrische, aramäische, persische und arabische Sprache übersetzt. Auch die Juden fungierten als wichtige Vermittler des griechischen Wissens.
Bei diesem Eifer ist es nicht verwunderlich, daß die Araber bereits um die Mitte des 9. Jahrhunderts im Besitz der antiken Wissenschaften waren. Fast das gesamte Werk des Aristoteles, Galen, Dioskurides, größere Teile des Corpus Hippocraticum und andere Schriften waren vorhanden. Von den antiken Werken wurden aber nicht nur Übersetzungen, Zusammenstellungen und systematische Übersichten angefertigt, sondern sie wurden auch erweitert und ergänzt. Durch diese selbständige Weiterarbeit mit den Erkenntnissen der Antike erlebten die arabischen Naturwissenschaften wie auch die Medizin seit dem 9. Jahrhundert eine Blüte.
Dazu gehörte auch eine Reihe bedeutender Ärzte, deren Schriften grundlegend für die weitere Entwicklung der abendländischen Medizin waren. Der wichtigste und einflußreichste war Avicenna, auch Ibn Sina genannt (+ 1037). Sein Hauptwerk, der Canon medicinae wurde wegen seiner geschlossenen und einheitlichen Darstellung der Medizin, die er in Theorie und Praxis behandelte, das (fett) grundlegende Werk des Mittelalters.
Im Abendland hatte inzwischen die Entwicklung der Medizin keinen so günstigen Verlauf genommen. Zumindest für ihre wissenschaftliche Seite war es nach Roms Untergang weitgehend Nacht geworden. Lediglich an den Klöstern bewahrte man die antiken Schriften auf. Aber diese Texte gaben das alte Wissen nur verdünnt weiter, handelte es sich bei ihnen doch meistens um Zusammenstellungen, Ausschnitte und Zusammenfassungen der ursprünglichen Texte. Das die frühmittelalterlichen Klöster überhaupt etwas von diesem Wissen retten konnten, ist vor allem zwei Männern zu verdanken. Als erster sammelte Cassiodor (+ um 583) in einem vom ihm gegründeten Kloster antike Schriften. In Spanien wirkte Isidor von Sevilla (570-636), der in seinem Hauptwerk, die Etymologiae oder Origines in 20 Büchern das damalige Wissen zusammenfaßte und so zum wichtigsten Vermittler des antiken Bildungsgutes an das Mittelalter wurde. In den folgenden Jahrhunderten bearbeiteten immer wieder Mönche und Nonnen die antiken Schriften, so daß vor allem in den kirchlichen Kreisen die medizinischen Kenntnisse der Antike zu einem gewissen Teil bewahrt wurden. Überhaupt waren Kleriker zu dieser Zeit weitgehend die einzigen, die in unserem Sinne als Ärzte tätig waren, weshalb die Zeit vom 5.-11. Jahrhundert auch als Zeitalter der Mönchsmedizin bezeichnet wird.
Schuld daran war auch das Latein. Alles, was irgendwie als wichtig galt, wurde in dieser Sprache abgefaßt, und auch das Erlernen von Schreiben und Lesen war daran geknüpft. Und diese drei Künste waren fast ausschließlich den Angehörigen der Kirche vorbehalten. Selbst die Könige des Frühmittelalters waren meistens Analphabeten. Da ist es kaum verwunderlich, daß die ersten zaghaften Anfänge einer deutschsprachigen Medizinliteratur erst ins 9. Jahrhundert fallen. Es handelt sich um Rezepte, kurze Anleitungen zur Herstellung eines Medikaments oder zur Durchführung einer heilenden Prozedur. Daneben sind noch Zaubersegen verschiedener Art überliefert.
Im 11. Jahrhundert beginnen die ersten Strahlen der arabischen Wissenschaften das Abendland zu erhellen. Man erkannte langsam, über welchen Vorsprung diese verfügten und eine rege Übersetzertätigkeit begann sich zu entfalten, die in den beiden folgenden Jahrhunderten ihren Höhepunkt erreichte. Süditalien und Spanien spielten die wichtigsten Vermittlerrollen. Dabei taten sich besonders die spanischen Übersetzer hervor, die vor allem in Toledo arbeiteten. Am Hofe des dortigen Erzbischofs war ein ganzes Übersetzerkollektiv tätig, dem wir u. a. auch die Übersetzung der Werke Avicennas verdanken. Auch Juden machten sich bei der Übertragung vieler arabischer Texte verdient. Auf diese Weise gelangte zum einen das medizinische Wissen der Antike, das ja auch die Grundlage der arabischen Wissenschaften bildete, wieder in weitaus vollständigerer Form in den Westen, zum anderen kamen natürlich auch die neuen Erkenntnisse der Araber hinzu. Dank des großes Eifers der Übersetzer war die grundlegende theoretische Fundierung der Medizin bereits
Ende des 12. Jahrhunderts abgeschlossen. Man verfügte zudem über einen klassischen Kanon an Lehrbüchern, der den medizinischen Lehrplan für die nächsten Jahrhunderte bestimmen sollte.
Doch Übersetzen allein genügt nicht. Das neue Wissen muß auch erlernt und in praktische Arbeit umgesetzt werden. Das geschah vor allem an den entstehenden Universitäten. Die älteste Einrichtung dieser Art war Salerno in der Nähe von Neapel. Bereits Ende des 10. Jahrhunderts bestand dort eine eigene medizinische Schule. Sie erwarb sich rasch einen glänzenden Ruf und wurde zu einem Treffpunkt für eine Vielzahl von Gelehrten aus dem gesamten Mittelmeerraum. Die beiden folgenden Jahrhunderte waren die eigentliche Blütezeit Salernos. Die Schule errang einen solchen Ruhm, daß die Zeit der Mönchsmedizin, die sich nun langsam ihrem Ende zuneigte, auch als "vorsalernitanisch" bezeichnet wird. Egal, ob Arzt oder Literatur - was aus Salerno kam, war gleichbedeutend mit Qualität. Salernitanische Schriften wurden in ganz Europa verbreitet und in viele Volkssprachen übersetzt, und ein dort ausgebildeter Arzt konnte sorgenlos in eine rosige Zukunft schauen. Das lag auch daran, daß die Patienten sicher sein konnten, keinem Quacksalber in die Hände zu fallen. Denn Salerno war der erste Ort Europas, wo die ärztliche Ausbildung geregelt wurde. Verschiedene Verordnungen definierten z. B. die Aufgaben des Arztes, klärten die Honorarfestsetzung, trennten erstmals scharf zwischen Arzt und Apotheker und machten Vorschriften für die Herstellung und Lagerung medizinischer Präparate. Da klingt es nicht verwunderlich, daß diese Stadt auch die erste in Europa war, die ein öffentliches Gesundheitswesen aufweisen konnte.
Doch nichts währt ewig, und so begann schon im 13. Jahrhundert der Niedergang Salernos. Schärfster Konkurrent war die Universität von Montpellier, neben Salerno wichtigstes medizinische Zentrum des Hochmittelalters. Beinahe jeder, der Rang und Namen in der Medizin hatte, lehrte dort zumindest zeitweise und zog Studenten aus ganz Europa an. Der wohl bekannteste von ihnen war Arnald von Villanova (+ 1311). Er war Anhänger des Galenismus, richtete aber die strenge theoretische Grundlage stets auf die Praxis aus. Das war in seiner Zeit nicht selbstverständlich, wo das geschriebene Wort, besonders wenn es von einer Autorität wie Galen stammte, oft wichtiger schien als eigene Erkenntnisse.
Neben Montpellier dominierten im 13. Jahrhundert noch die Universitäten von Bologna, Paris und Padua.
Bologna hat zwei Besonderheiten aufzuweisen. Zum einen wurde dort besonders früh, schon im 13. Jahrhundert, der anatomische Unterricht an Leichen durchgeführt. Solche Demonstrationen waren sehr umstritten, weil vor allem die Kirche schwerste Bedenken erhob. Doch der Wissensdurst, einmal entfacht, ließ sich nicht bremsen, und besonders in Padua machte man sich um die Verbesserung der Sektionsmethoden verdient. Zum zweiten wirkten in Bologna zwei besondere Chirurgen, Ugo dei Borgognoni (+ 1252-58) und sein Sohn Tederico (+ 1298). Sie stellten mit Hilfe des arabischen Wissens die europäische Chirurgie auf eine völlig neue Grundlage. Besonders bedeutsam war ihre Ablehnung der allgemeinen Praxis der "heilsamen Eiterung". Nach landläufiger Meinung mußte eine Wunde eitern, um richtig heilen zu können, was manchmal sogar auf künstlichem Wege herbeigeführt wurde. Ugo und sein Sohn propagierten statt dessen die eiterlose Wundheilung durch Weinverbände. Leider konnte sich diese Ansicht lange Zeit nicht durchsetzen.
Auch in der volkssprachlichen Literatur tat sich etwas. Immer mehr deutsche Texte entstanden, häufig Übersetzungen aus dem Lateinischen. Das änderte sich im 13. Jahrhundert. Nicht nur, daß die volkssprachlichen Literatur quantitativ und wie qualitativ enorm zulegte. Es wurden nun immer mehr selbständige Beiträge verfaßt, die aber auch weiterhin stark beeinflußt wurden. z. B. von arabischen und salernitanischen Schriften. Auch die wachsende Zahl übersetzter lateinischer Werke bereicherte das landessprachliche Schrifttum sehr. Diese Texte waren für die große Zahl derjenigen wichtig, die außerhalb der Universität heilkundlich tätig waren und meistens kein Latein konnten (siehe nächste WG).
Doch was waren das denn für Texte, die der Arzt zur Hand nahm, um sich weiterzubilden? Nach welchen Büchern sollten eure Heiler in einer Bibliothek Ausschau halten? Das will ich nun nachholen.
Die Frühphase der medizinischen Literatur (außer den antiken Überlieferungen) wurde von den Rezepten und Rezeptaren, zu Gruppen zusammengefaßte Rezepte, bestimmt. Das änderte sich im Lauf der Zeit, besonders im 13. Jahrhundert. Damals erschienen neue Gattungen wie der Traktat, so daß die Literatur dieser Zeit eine Vielzahl an Sorten und Themen umfaßte. Trakate befaßten sich mit vielerlei Themen: Sie behandelten therapeutische Methoden wie den Aderlaß oder bestimmte diagnostische Verfahren, z. B. die Harnschau oder beschrieben Heilwirkung, Gewinnung und Anwendung bestimmter Arzneimittel, z. B. als Misteltraktat. Daneben gab es noch Herbarien, Bestiarien und Lapidarien (Bücher über Pflanzen, Tiere, Steine), aus denen man auch Heilmittel gewinnen konnte bzw. zu können glaubte. Arzneibücher vereinten im Gegensatz diesen Spezialwerken verschiedene Fachgebiete und wurden aus einer immer reichhaltigeren Menge an Versatzstücken unterschiedlicher Herkunft zusammengestellt. Die Diätetik gewann, angeregt durch die neue antike Überlieferung wieder an Bedeutung. Auf ihr basierte die Regimensanitatis -Literatur (etwa "Lenkung, Verwaltung der Gesundheit"). Die Regimina enthielten Gesundheitsregeln, die nach dem Konzept der Säfte- und Qualitätenlehre Körperpflege, Essen usw. behandelten. Sie richteten sich an Gesunde und sollten der Vorbeugung dienen. Alle Textsorten durchliefen die gleiche Entwicklung: Zuerst nur in Latein verfaßt, wurden sie vornehmlich seit dem 12./13. Jahrhundert in wachsendem Maße verdeutscht oder sogar sofort deutsch geschrieben.
Die Anlage medizinischer Texte folgte bestimmten Regeln. Zwei Gliederungssschemata, beide aus der Antike übernommen, erfreuten sich relativ gleichgroßer Beliebtheit. Zum einen ging man gern topographisch "von Kopf bis Fuß" vor. Nach diesem galenischen Schema sprach man die Krankheiten von Kopf bis Fuß durch. Allgemeine Krankheiten, Fieberarten und Erkrankungen der Haut, die als eigenständiges Organ angesehen wurde, wurden in gesonderten Kapiteln dargestellt. Das kategoriale Prinzip dagegen ordnete hierarchisierend nach dem Art- bzw. Gattungsbegriff, z. B. nach Wunden, Geschwüre und Knochenbrüche. Der Arzneischatz wurde aufgeteilt in Pflaster, Salben, Pulver, Öle, Wundtränke und Wässer (kein Druckfehler).
Nach all diesen harten Fakten über die Entwicklung der mittelalterlichen Medizin komme ich in der nächsten Folge zur Praxis und werde euch mehr über Ärzte und andere Heilkundige und ihre Behandlungsmethoden erzählen.
Heiler & Co. oder kein wandelnder Heiltrank:
Medizin im Mittelalter (Teil 2)
Im ersten Teil habe ich mich vor allem mit den Grundlagen und der Entwicklung der wissenschaftlichen mittelalterlichen Medizin befaßt. Diesmal geht es zum einen darum, wer überhaupt medizinisch tätig war und zum anderen um die medizinische Praxis. Ich beginne mit den "studierten" Ärzten als Repräsentanten der wissenschaftlichen Medizin, die physica, und ende mit den "weisen Frauen" als Vertreterinnen der empirisch-magischen Kräutermedizin. Mehr darüber und die medizinischen "Heilmittel" der Kirche werde ich im letzten Teil dieser Serie berichten.
Arzt war im Mittelalter nicht gleich Arzt. Auf der einen Seite stand der doctor medicinae ("Doktor der Medizin") oder physicus, der, an den Universitäten ausgebildet, der Krankheit mit diätetischen und pharmazeutischen Mitteln zu Leibe rückte. Heute würde man ihn als Internisten (Arzt für innere Medizin) bezeichnen. Auf der anderen Seite stand die Gruppe der nicht-akademischen Heilkundigen, die in gesellschaftlicher wie fachlicher Hinsicht aufgeteilt war. An der Spitze standen der Chirurg (medicus oder Wundarzt (mittelhochdeutsch (mhd.) wundarzet)) und die Hebamme. Beide verfügten oft über großes Fachwissen, das ihnen u. a. durch die Übersetzungen der lateinischen Fachbücher der Universitäten zugänglich war. Nach ihnen rangierten die Barbiere und Bader, Zahnbrecher, Steinschneider und Starstecher. Obwohl sich unter ihnen, gerade in den unteren Rängen, sicherlich so mancher Scharlatan tummelte, hatten sie alle einige Gemeinsamkeiten.
Sie übten ihre heilerische Tätigkeit praktisch aus, im Gegensatz zu den vornehmlich mit der Theorie befaßten Ärzten der Universitäten. Gerade deshalb sahen letztere mit Verachtung auf den Chirurgen und noch mehr die anderen Heilkundigen herab. Dazu kam eine gehörige Portion Neid, machten doch gerade die Chirurgen den Universitätsärzten schärfste Konkurrenz. Kein Wunder, denn diese bildeten nur eine kleine Minderheit, auch wenn sie materiell und statusmäßig die Spitzenpositionen einnahmen. Zudem praktizierten sie, wenn überhaupt, vor allem in gesicherter und angesehener Stellung an den Höfen, seit dem Spätmittelalter auch in reichen Bürgerhäusern oder als Stadtärzte. Schon deshalb und wegen der hohen Honorare bekam der Großteil der Bevölkerung einen solchen Arzt bestenfalls von weitem zu Gesicht. Für ihre medizinische Versorgung waren die Wundärzte, Bader, Barbiere usw. zuständig.
An dieser kleinen Einführung könnt ihr schon sehen, wie verschieden man die Figur eines Heilers gestalten kann. Für einen Heiler kämen meiner Ansicht nach der Hintergrund eines studierten Arztes, eines Chirurgen oder Barbiers in Betracht. Wer nun bei ersterem abwinkt, weil ein solcher Theoretiker bei den Verletzungen der Helden zumindest am Anfang nicht mit den anderen beiden konkurrieren kann, sollte bedenken, daß dieser Arzt etwas bieten kann, mit dem die anderen nicht aufwarten können: Bildung.
Und zwar eine sehr umfangreiche über alle bekannten Wissensgebiete. Bevor nämlich jemand überhaupt ein Studium der Medizin aufnehmen konnte, mußte er mindestens zwei Jahre lang die Artistenfakultät besuchen. Das hatte nichts mit Zirkus zu tun, sondern mit den artes liberales, den sieben freien Künsten: Grammatik (Sprach- und Literaturunterricht), Dialektik (Wahrheitsfindung durch Rede und Gegenrede), Rhetorik (Redekunst), Arithmetik (Mathematik), Geometrie, Musik und Astronomie. Dieses Grundstudium war die Vorraussetzung für das Fachstudium an einer der drei höheren Fakultäten Medizin, Jura und Theologie.
Die mittelalterliche Medizin orientierte sich an Autoritäten und deren Texte. Das waren vor allem Galen und berühmte arabische Ärzte, z. B. Avicenna. Ein solcher Text wurde in der Vorlesung, der vorherrschenden Unterrichtsform, vorgelesen und diskutiert. Er wurde genau analysiert und schließlich mit anderen verglichen. Widersprüche versuchte man miteinander zu harmonisieren. Man kann daher sagen, daß die Erkenntnisse der Universitätsmedizin vor allem durch das Studium und die Erklärung von Texten gewonnen wurden. Unterrichtsstoff waren im wesentlichen die galenische Medizin, die Säfte- und Qualitätenlehre und medizinische Astrologie. Trotzdem blieb nicht alles graue Theorie. Auch an den Universitäten gehörte Praxis zur Ausbildung dazu, z. B. eine gewisse Zeit ärztliche Praxis oder die Assistenz bei Krankenbesuchen der Professoren. An Leichen wurden anatomische Demonstrationen durchgeführt, wobei es aber vornehmlich um die unmittelbare Anschauung der inneren Organe ging. Und wie lange dauerte nun das Studium? Das war verschieden. In Montpellier waren es fünf bis sechs Jahre, dazu kam noch ein Praktikum. Die Bologneser Universität legte ein dreijähriges Studium der Philosophie und Astrologie sowie vier Jahre für das Studium der theoretischen Medizin und Praktika fest. Am Ende mußte man den Besuch der Vorlesungen über die vorgeschriebenen Lehrbücher nachweisen und eine mündliche Prüfung bestehen. Den Gipfel der Karriere stellte die medizinische Professur dar.
Über die Ausbildung der anderen Heilkundigen kann ich leider genauso wenig berichten, wie darüber bekannt ist: nämlich fast nichts. Dazu kommt, daß man auch sonst immer weniger über sie weiß, je geringer ihre soziale Wertschätzung und damit für die wenigen Literaten das Bedürfnis war, über sie zu berichten. Dennoch will ich jetzt versuchen, sie etwas aus dem Dunkel der Geschichte herauszuholen.
Doch vorher will ich noch kurz auf die Rolle der Geistlichen in der Medizin eingehen. Über ihre Arbeit und ihr Selbstverständnis werde ich im letzten Teil genauer berichten. In der ersten Folge hatte ich schon gesagt, daß in den ersten Jahrhunderten die Klöster so ziemlich die einzigen Aufbewahrungsorte der antiken Literatur waren. In dieser Zeit der "Mönchsmedizin" praktizierten dort die "Mönchsärzte", die gleichzeitig Internisten, Chirurgen und Apotheker waren. Neben die anfangs rein caritativen Motive trat schnell das Interesse an der Wissenschaft. Kein Wunder, daß an den Universitäten die medizinischen Lehrer zuerst vorwiegend Geistliche waren, zumal sie anfangs auch als einzige die Wissenschaftssprache Latein beherrschten. Allerdings hegte die Kirche gegen diese Verbindung von Kleriker und Arzt immer stärkere Bedenken und unterwarf diese Geistlichen einigen Beschränkungen. So wurde z. B. seit 1132 Klerikern die ärztliche Berufsausübung gegen Honorar untersagt. Doch nicht nur solche Maßnahmen sorgten dafür, daß die Klerikerärzte zunehmend in den Hintergrund gedrängt wurden. Die Mönchsmedizin verlor seit dem 13. Jahrhundert an Bedeutung. Die Klöster büßten ihr Monopol der Krankenpflege ein, weil seitdem die Städte zunehmend Anteil an der Gesundheitspflege nahmen, z. B. durch die Einrichtung von Siechenhäuser, Hospitälern und der Berufung von Stadtärzten in den öffentlichen Dienst.
Dazu kam, daß an den Universitäten der Stand der weltlichen Ärzte immer festere Formen annahm. Dieser neue, auf der Grundlage der griechischarabischen Medizin ausgebildete Ärztetyp, war in Italien bestimmend. In Frankreich dagegen blieben die Ärzte stärker klerikal gebunden. Da sich die Universitäten der Länder jenseits der Alpen vor allem an Paris orientierten, verloren die Klerikerärzte niemals ganz an Einfluß.
Jetzt aber raus aus dem akademischen Elfenbeinturm. Zuerst zur Chirurgie. Unter der auch Wundarzneikunst genannten Chirurgie verstand man im Mittelalter den ganzen Komplex operativer Fächer. Darum wurde dieser Bereich der Medizin oft als "Behandeln mit der Hand" bezeichnet (mhd. hantwirkunge oder wuntarzenîe).
Den entscheidenden Auftrieb erhielt die Chirurgie durch das arabische Wissen, was zur Ausbildung einer umfangreichen Fachliteratur und zur Verbreitung neuer Behandlungsmethoden führte. Seit dem frühen 13. Jahrhundert stellte Bologna die Blüte der Chirurgie dar. Trotz des Vorstoßes in die Hochschulebene blieben akademisch gebildete Chirurgen die Ausnahme. In der Regel hatten sie eine handwerkliche Ausbildung, d. h. eine Lehre, absolviert, was mit dazu beitrug, daß an den Universitäten die Chirurgie nicht anerkannt, ja geradezu verpönt und als "Handwerk" abgewertet wurde. Nur in Italien wurden Chirurgen an den Universitäten ausgebildet. Trotzdem nahm, neben Italien, Frankreich den ersten Platz in diesem Fach ein. Doch gerade dort vertiefte sich auch der Graben zwischen Chirurgie und Universitätsmedizin weiter. Denn wegen der vielen Klerikerärzte hatte das 1215 ausgesprochene Verbot für Geistliche, Chirurgie zu betreiben, gerade in Frankreich großen Einfluß. Schon fast 100 Jahre vorher waren Mönchen chirurgische Eingriffe mit der Begründung untersagt worden, daß Geistliche kein Blut vergießen dürften. Das hielt aber streitbare Kirchenfürsten nicht davon ab, selbst in die Schlacht zu ziehen, allerdings mit dem Streitkolben, der als unblutige Waffe galt.
Doch die Chirurgen ließen sich nicht entmutigen. Sie formierten sich zu Institutionen, die auch Prüfungen abnahmen und ein der Universitätsmedizin vergleichbares Ausbildungssystem besaßen. Aber sie blieben Ausnahmen, denn das Bild des Chirurgen wurde nördlich der Alpen weitgehend von den niederen Wundärzten, Barbieren und Badern bestimmt. Aus ihren Reihen rekrutierten sich auch oft die Stadtwundärzte. Da sie alle in der Regel des Lateins nicht mächtig waren, wird die Notwendigkeit der vielen landesprachlichen Übersetzungen deutlich. So konnten sie sich dennoch die akademische Fachliteratur aneignen und verfügten oft über einen hohen Bildungsstand. Ihr Wissen war allerdings stärker realitätsbezogen als das der physici.
Auch der Barbier betätigte sich als Chirurg, weshalb diese beiden Gruppen kaum zu unterscheiden sind. Das belegt schon die fast gleichbedeutende Verwendung der mittelhochdeutschen Begriffe scherer und wundarzet. Der Kriegschirurg wurde feltscher genannt und das Skalpell als scharsach ("Schermesser") bezeichnet. Allerdings war der Barbier auch noch gleichzeitig als Friseur, Zahnarzt und Apotheker tätig. Der Beruf stand Männern und Frauen offen. Es gab sowohl stadtsässige als auch wandernde Barbiere, welche die Landbevölkerung versorgten. Dazu kamen Barbiere mit festen Verträgen in militärischen oder städtischen Diensten und die Leibbarbiere der Fürsten. Ihre Stellung in der Gesellschaft war zwiespältig: Teilweise wurden sie als Quacksalber verachtet und in die Nähe der Bader und Bordellbesitzer gerückt, teils konnten sie es zu Ansehen und beträchtlichem Wohlstand bringen.
Zwar waren die Barbiere vornehmlich für Aderlaß und Haareschneiden zuständig, übernahmen aber auch die sogenannte "Kleine Chirurgie", d. h., sie kümmerten sich um Knochenbrüche, Verrenkungen, frische Wunden, Zahnschmerzen und allgemeine innere Erkrankungen. Das bezog auch die Bauchchirurgie mit ein, die sich nicht in Steinschnitten und Bruchoperationen erschöpfte. Dazu kannte sich der Barbier noch besonders mit Medikamenten aus, die zur Behandlung der oben genannten Verletzungen verwendet wurden.
Die Tätigkeiten der Bader und Barbiere waren einander recht ähnlich. Deshalb versuchten letztere erfolgreich, die Bader auf ihre Badestuben zu beschränken. Dabei kam ihnen der meist schlechte Ruf der Bader zu Hilfe, die häufig als unehrlich galten. Das lag wohl auch daran, daß viele Badestuben anscheinend als Bordelle dienten. Bader, sowohl Männer als auch Frauen, waren vor allem in den Städten und Heilbädern zu finden. In ihren Badestuben boten sie Schwitz- und Wannenbäder an, außerdem Haareschneiden, Bartscheren und Wundbehandlung. Sie entzogen z. B. Blut durch Aderlaß, Schröpfen und das Setzen von Blutegeln. Verstopfungen wurden mit Einläufen, Haut- und Gelenkkrankheiten mit Schwitzbädern behandelt. Der Bader hielt auch Medikamente gegen viele andere Erkrankungen bereit, die entweder im Dunstbad als Dampf oder als Zusatz im Wannenbad verabreicht wurden.
Zu guter Letzt noch ein paar Worte zu den anderen Heilkundigen.Was ein Zahnbrecher war, brauche ich wohl nicht erklären. Die Steinschneider waren für die Behandlung von Nieren-, Harn-und Blasensteinen zuständig. Sie wurden hinzugezogen, wenn die Behandlung mit Heilkräutern erfolglos geblieben war. Die Hilfe der Starstecher wurde beim "Grauen Star" in Anspruch genommen.
Mit einer bereits aus der Antike stammenden Technik durchstachen sie die Hornhaut und löffelten die trübe Linse aus.
Über Frauen im Rollenspiel wurde ja schon viel diskutiert. Zweifellos ziehen auch viele Heilerinnen durch all die fernen Welten, die unsere Helden unsicher zu machen pflegen. Weil in der mittelalterlichen Heilkunde für Frauen einige Besonderheiten galten, möchte ich jetzt speziell auf sie eingehen.
Im Alltag nahmen Frauen mit großer Selbstverständlichkeit medizinische Aufgaben wahr. Ihre Tätigkeiten reichten von Handreichungen über Pflege und Geburtshilfe bis hin zum selbstständigen ärztlichen Handeln. Gerade die Krankenpflege wurde traditionell von Frauen ausgeübt und auch in der Dichtung sehr oft beschrieben. Sie kümmerten sich auch um die Arzneimittel, die sie häufig zu Hause herstellten. Allerdings scheint es keine offiziellen Apothekerinnen gegeben zu haben.
Wenn eure Heldinnen einigermaßen normal aufgewachsen sind, kann man deshalb gewisse medizinische Kenntnisse zumindest über die Behandlung kleiner Verletzungen, Kopf- und Bauchschmerzen, Erkältungen u. ä. voraussetzen.
In den Heilberufen waren auch viele Frauen tätig. Sie konnten nicht nur Barbierinnen oder Baderinnen, sondern auch Ärztinnen werden. Viele von ihnen zogen wie ihre männlichen Kollegen von Stadt zu Stadt. Sie waren dort deshalb nichts Ungewöhnliches, wurden oft geachtet und auch von den städtischen Behörden in Anspruch genommen.
Sie verfügten aber nur selten über eine akademische Ausbildung, da Frauen an den Universitäten nicht zugelassen waren. In Italien scheint das anders gewesen zu sein, z. B. in Salerno. Dort sind mehrere adelige Italienerinnen bezeugt, die auch lehrten, z. B. Sichelgaita, die Tochter des Herzogs von Salerno und die Chirurgin Franziska de Romana. Die große Zahl der medizinisch tätigen Frauen gehörte zum nichtakademischen Heilpersonal. Viele scheinen sich als Chirurginnen betätigt zu haben, z. B. in Paris. Dazu kam die Gynäkologie (Frauenheilkunde), die lange Zeit allein den Frauen vorbehalten war.
Doch der wachsende Druck von Vorurteilen, die z. B. die Rolle und Funktion der Frau auf ihre Gebärfähigkeit reduzierten, und die zunehmende Beschäftigung der männlichen Ärzte mit der Gynäkologie leiteten den Niedergang der Ärztinnen ein und unterstützten die Ausschlußbestrebungen, bei denen auch Konkurrenzgründe eine nicht unerhebliche Rolle spielten. Da den Frauen das Studium als gesellschaftlich anerkannte Qualifikation fehlte, wurden sie in den Städten bis zum Ende des 15. Jahrhunderts völlig aus dem Heilberuf verdrängt. Allerdings waren auf dem Land weiterhin heilkundige Frauen aktiv, ebenso die Hebammen.
Diese waren hauptsächlich für die Geburtshilfe zuständig. Erfahrene Hebammen genossen oft hohes Ansehen und verfügten über gynäkologisches Fachwissen. In diesem Bereich nahmen sie auch chirurgische Eingriffe vor, z. B. die Öffnung von Abszessen (Eitergeschwüren). Anscheinend haben sie auch in anderen Krankheitsfällen geholfen. Man weiß allerdings nicht, wie diese Frauen zu ihrem Wissen kamen, vielleicht durch eine Art Lehre bei einer erfahrenen Hebamme. Mit der Entwicklung der Städte im Hochmittelalter nahm das Hebammenwesen großen Aufschwung. Einige waren dort sogar fest angestellt.
Die Hebamme wurde oft auch als "weise Frau" bezeichnet. Eine Parallele zu dieser bestand einmal in ihrer zwiespältigen Bewertung, zum anderen darin, daß sie auch zu Empfängnisverhütung und Abtreibung hinzugezogen wurde. Außerdem kannte sie allerlei magische Praktiken, die sie anscheinend oft bei ihrer Arbeit anwandte, z. B. Amulette bei der Geburt. Gerade diese Handlungen waren für die Kirche Anlaß, die Hebammen zu verteufeln: Sie wurden der Anwendung von Zaubermitteln gegen Fruchtbarkeit und für Impotenz angeklagt und manche Hebamme endete auf dem Scheiterhaufen.
Von diesem Schicksal waren vor allem in der frühen Neuzeit die "weisen Frauen" ganz besonders bedroht. Sie waren seit Jahrhunderten oft der einzige Arzt des Volkes, besonders auf dem Land, wo etwa 90% der Bevölkerung lebte. Auch in den Städten waren vor der Etablierung einer geregelten medizinischen Versorgung vermutlich die Hebamme und die "weise" und "gute" Hexe ein und dieselbe Person.
Die "weisen Frauen" waren anscheinend für alle Bereiche der Heilkunde zuständig. Sie praktizierten die sogenannte "Volksmedizin", deren Wissen auf Erfahrung und der Kenntnis von Kräutern beruhte. Ergänzend wandten sie Magie an, vornehmlich zu wohltätigen Zwecken und zum Brechen von Zaubersprüchen (mehr im 3. Teil). Aufgrund dieser Verbindung von Heilkunst und Zauberei wurde sie trotz des Vertrauens, das man ihr entgegenbrachte, gegensätzlich beurteilt. Sie wurde oft als Kräuterweib, Vettel oder Quacksalberin beschimpft und war besonders gefährdet, in den Verdacht der Hexerei zu geraten. Erfolge wurden weniger ihrer Kräuterkenntnis als der Magie zugeschrieben, ebenso wurden Mißerfolge auf den Einfluß böser Zauber zurückgeführt. Da sie in den Augen der Menschen offensichtlich mit den Naturkräften in Verbindung stand, wurde sie ebensosehr geachtet wie gefürchtet.
Nach dieser Vorstellung der verschiedenen ärztlichen Berufe könnt ihr sehen, welch ein Potential sich hinter der Bezeichnung "Heiler" verbergen kann und welch interessante Variationen bei der Ausgestaltung eines solchen Charakters möglich sind.
Auf jeden Fall sollte man das auch bei der Verteilung der Werte berücksichtigen.
Ist der Heiler ein echter chirurgus, ist das besonders nach Kämpfen ein großer Vorteil. Sein Metier ist vor allem die Chirurgie und zwar in ihrem gesamten Spektrum. Heilerinnen könnten zusätzlich noch eine Hebammenausbildung haben. Ist der Heiler oder die Heilerin von niedriger Herkunft, könnte er oder sie lediglich Barbier oder gar nur Bader sein. Dann wären zwar ihre Kenntnisse in der "Kleinen Chirurgie" gut, aber bei größeren Verletzungen hätten sie ihre Schwierigkeiten, wobei allerdings der Barbier dem Bader immer noch überlegen wäre. Nicht nur die Suche nach mehr Wissen, sondern vielleicht ein (angehängter?) schlechter Ruf oder die aufgebrachten Verwandten nach einer Fehldiagnose wären bei ihnen Gründe, in die Welt hinauszuziehen. Niedriggeborene Heilerinnen könnten auch "weise Frauen" sein. Sie hätten, neben allgemeinen Kenntnissen über Krankheiten und einfacheren Verletzungen, besonderes Wissen in der Anwendung von Kräutern aufzuweisen, außerdem bei magischen Praktiken für medizinische Zwecke. Dieser Hintergrund würde sich besonders für Hexen, Animistinnen, Schamaninnen usw. eignen. Vielleicht mußten gerade letztere aus ihrer Heimat fliehen, weil Mißernten o. ä. plötzlich ihnen zugeschrieben wurden. Priester und Priesterinnen als Entsprechung der Mönchsärzte hätten ähnliche Kenntnisse, allerdings wäre ihre Magie aufihren Glauben bezogen. Zudem hätten sie, obwohl vorwiegend Praktiker, auch gewisse Kenntnisse in der theoretischen Medizin. Ansonsten würde ich die Berufe des Baders, Steinschneiders usw. nur als Zusatzberufe für verschiedene Charakterklassen verwenden, wie es z. B. bei "Ruf des Warlock" gemacht wird.
Doch der Heiler könnte auch ein vornehmlich theoretisch ausgebildeter Arzt sein, zwar mit einem Universitätsabschluß und vielleicht sogar Professor, aber wenig praktischer Erfahrung. Vielleicht ist er sogar Kleriker und kann seinen Kameraden dann zusätzlich die Tröstungen und Heilmittel des Glaubens spenden. Abgesehen von seinem hohem Bildungsstand auch auf anderen Gebieten wäre er bei Krankheiten und Giften eine große Hilfe, könnte aber nach dem Besuch eines Dungeons rasch überfordert sein. Ist er ein im Gegensatz zu seinen Kollegen aufgeschlossener Mann (bei Simulierung mittelalterlicher Verhältnisse nur ausnahmsweise eine Frau), könnte auch hier die Suche nach Wissen, vielleicht nach einer angeblich verschollenen Schrift, der Grund für das neue Leben als Abenteurer sein. Und an Lektionen in praktischer Medizin wird da zweifellos kein Mangel sein.
Doch was taten diese Leute, wenn sie mit einem Kranken konfrontiert wurden? Dazu nun mehr.
Jarrel fühlte sich schon seit ein paar Tagen nicht wohl. Alzarius, Kleriker und Professor für Medizin, hatte ihn deshalb mit Sorge beobachtet. Doch als sich der Dieb eines Morgens schmerzverzerrt auf dem Lager krümmt, holt er seine Arzttasche und untersucht ihn gründlich. Dabei hält er sich an die Techniken, die ihm aus alten Schriften überliefert sind. Er befragt ihn nach seinen Beschwerden, horcht und tastet ihn ab. Doch viel wichtiger sind für ihn Puls und Urin. Nachdem er Jarrels Puls gefühlt hat, holt er sein urinal heraus. Dieses eigentümlich geformte Glas wurde für das wichtigste Diagnoseverfahren des Mittelalters, die Harnschau, verwendet. Es wurde geradezu zum Symbol der ärztlichen Tätigkeit. Bei der Harnschau wurden vornehmlich Farbe, Konsistenz und Sedimente des Harns untersucht. Darüber gab es eine umfangreiche Fachliteratur und auch Alzarius liest noch einmal in seinem Harntraktat nach. Er diagnostiziert eine Vergiftung der Säfte.
| Auch der mittelalterliche Arzt hielt sich an eine bestimmte Reihenfolge von Maßnahmen, die bereits Hippokrates vorgegeben hatte. Die Unterstützung der Physis, der Selbstheilungskräfte, ist oberstes Gebot. Zuerst gilt es, den Körper von schlechten Säften zu befreien. Ein Aderlaß ist hier genau das Richtige. Dieser war während des Mittelalters ein besonders geschätztes Heilverfahren. Man hielt ihn bei vielen Krankheiten für notwendig, aber auch als vorbeugende Maßnahme. Er sollte zur Kühlung des überhitzten Blutes und zur Reinigung von den verdorbenen Säften dienen, indem das überschüssige Blut und damit auch schädliche Säfteanteile abgeführt wurden. Durchgeführt wurde er meistens mit einem Messer oder einem speziellen Aderlaßeisen namens flebotomus, mhd. flieme oder vliedeme. Meist wurde eine Vene eingeritzt und eine bestimmte Blutmenge abgelassen. Beim Aderlaß mußten verschiedene Dinge beachtet werden, z. B. die Körperstellen, von denen je nach Krankheit Blut entnommen werden sollte. Zu Lehr- und Lernzwecken wurden deshalb in medizinischen Schriften Illustrationen mit markierten Punkten angefertigt, der sogenannte Venen- oder Aderlaßmann. |
Alzarius kommt nach intensiven Berechnungen zu dem Schluß, daß er Jarrel einen Fingerhut voll Blut aus der rechten Armbeuge abnehmen muß. Außerdem verordnet er ihm eine Diät aus leichten Speisen. Doch beides versagt: dem Dieb geht es am nächsten Tag schlechter und nach der traditionellen Reihenfolge kommen nun die Medikamente an die Reihe.
Die im Mittelalter verwendeten Heilmittel stammten häufig aus der griechisch-römischen Heilkunde, die von den Arabern systematisch erweitert worden war. Das Standardwerk war die Materia medica des Dioskurides. Die Klostermedizin überlieferte die antiken Heilmittel, zu denen bald das neue Wissen aus Salerno und dem Morgenland trat. Auch die volksmedizinischen Kenntnisse waren von großer Bedeutung.
Die Hauptquelle für Heilmittel war das Pflanzenreich, die aber auch tierischer oder mineralischer Art sein konnten. Besonders Edelsteinen wurden oft Heilkräfte zugeschrieben, über die Spezialwerke (Lapidarien) verfaßt wurden. Edelsteine wurden entweder aufgelegt oder zu Pulver zermahlen und mit Wasser oder Milch eingenommen. Auch Alzarius zermahlt zum Entsetzen der Gruppe schließlich sogar den großen Saphir und flößt Jarrel das Gebräu ein.
Man unterschied die Arzneimittel in simplicia, einfache Mittel, z. B. eine einzelne Pflanze, und composita, zusammengesetzte, aus Mischungen verschiedener Pflanzen-, Tier- oder Mineralienextrakten hergestellte Mittel. Der Arzt sollte zuerst die einfachen und milden, und dann, wenn diese versagten, die stärkeren Mittel anwenden. Ihre Wirkung beruhte auf dem von Galen aufgestellten Prinzip contraria contraiis, d. h., daß das Gegensätzliche heilen soll.
Arzneimittel gab es in vielen Varianten: Pillen, Pulver, Tränke, Räucherungen, Bäder, Einläufe, Pflaster, Salben, Öle, Wundwässer und -balsame, feuchte und trockene Umschläge, Zäpfchen und Gurgelmittel. Waren sie frisch, wurden die Heilmittel zerkleinert und direkt als Brei in einem Umschlag aufgelegt oder gekocht, extrahiert usw. in flüssige oder weiche Vehikel aufgenommen. In getrocknetem Zustand wurden sie zerkleinert, pulverisiert und entweder so angewendet oder zu gepreßten Formen verarbeitet und zusammen mit Vehikeln weiter zu Medikamenten geformt. Pillen z. B. bestanden meistens aus pulversisierten Arzneimitteln, die mit Honig zu Erbsengröße geformt wurden. Honig wurde häufig als Vehikel verwendet, außerdem als Konservierungsmittel und zur Verbesserung des Geschmacks. Die Salben spielten die Hauptrolle bei der äußeren Behandlung. Sie wurden aus Pflanzen hergestellt und basierten auf einer Vielzahl von pflanzlichen Ölen und tierischen Fetten. Aus ihnen wurden Pflaster, wenn sie mit Harzen vermischt wurden, um ihnen eine klebrige Beschaffenheit zu verleihen. Die flüssigen Heilmittel bestanden aus pflanzlichen Extrakten, vermischt mit Wasser, Wein, Essig oder Honig. Ihr seht, daß ständige Einerlei der Heiltränke muß nicht sein!
Unser Alzarius aber ist mit seinem Latein am Ende. Dabei hat er alles versucht! Zuerst die einfachen, dann die stärkeren Medikamente. Die ganze Gegend hat die Gruppe nach seltenen Kräutern abgegrast. Das Lager gleicht einem Labor. Sogar den kostbaren Theriak hat Alzarius herausgerückt. Theriak wurde als Mittel gegen jede Art von Vergiftung hochgeschätzt. Über seine Bestandteile weiß man nichts genaues, aber es gehörten anscheinend verschiedene Pflanzen wie Opium, Bilsenkraut und Alraune dazu, außerdem Schlangenfleisch. Aber alles war erfolgslos und dem Dieb geht es mittlererweile sehr schlecht. Dem Kleriker bleibt nur noch das Gebet. Aber medizinisch gibt es noch eine Möglichkeit: Schneiden. Alzarius springt über seinen Schatten und bittet Dorena um Hilfe. Sie war bei einem Chirurgen in die Lehre gegangen, bevor sie sich dem Kriegshandwerk zuwandte. Schon oft hat sie die Wunden der Kameraden versorgt, auch wenn ihr Alzarius' hochnäsiges Getue manchmal auf die Nerven geht. | |
| Die Versorgung äußerer Wunden war die Hauptbeschäftigung des Chirurgen. Außerdem behandelte er Aszesse, Tumore, Hämorrhoiden, Verbrennungen und Krampfadern. Er führte Starstiche, Blasenstein- und Bruchoperationen und Darmnähte durch, renkte Gelenke ein, versorgte Knochenbrüche und zog Zähne. Dazu trat die Durchführung von Amputationen und die Herstellung von Prothesen. Auch der Chirurg verwendete Medikamente. Unter diesen nahm das Pflaster den ersten Platz ein. Daneben standen dem Arzt noch Salben, Puder, Öle, Wundtränke und Umschläge zur Verfügung. Man kannte bereits eine Vielzahl chirurgischer Instrumente, z. B. Sägen verschiedener Größe ür Amputationen, Messer, die vor allem zum Schneiden von Gallen- und Blasensteinen dienten, Haken zum Halten der Wundränder, Zangen, Scheren und Bohrer. |
Dorena hat die nötigen Instrumente zusammengesucht und ein Pflaster vorbereitet. Die schmerzende Stelle am Bauch hat sie rasch gefunden. Dort ist wohl ein Geschwür, das sie entfernen muß. Doch zuerst will sie Jarrel betäuben. Sie könnte das auf die übliche Art mit Alkohol tun. Doch erst vor kurzem hat sie in einem übersetzten Text von der Universität von einer besseren Methode gelesen und sich schon die nötigen Zutaten besorgt. Sie zerstößt Opium, Bilsenkraut und Alraunewurzeln zu gleichen Teilen, mischt das Pulver mit Wasser und weicht ein Tuch darin ein, daß sie dem Dieb auf Stirn und Nase legt. Eine andere Möglichkeit wäre, das Pulver zu verbrennen und den Patienten die Dämpfe einatmen zu lassen. Tatsächlich schläft der nach einer Weile ein.
Eine Wunde wurde zuerst untersucht und gereinigt, anschließend verbunden oder genäht. Im Fleisch steckengebliebene Waffenspitzen wurden mit der Hand, einer Zange oder einem anderen Instrument entfernt. Um die Blutung zu stillen, tamponierte man mit blutstillender Watte oder band die Gefäße ab. In schweren Fällen wurde die Wunde genäht oder die Kauterisation angewandt, das Ausbrennen mit dem Glüheisen. Diese Behandlungsmethode war bereits für die antiken Chirurgen unentbehrlich und der Ausdruck "Schneiden und Brennen" charakterisierte bis in die Neuzeit die chirurgische Tätigkeit. Entsprechende Illustrationen, sogenannte Kauterienbilder, veranschaulichten dem Chirurg die verschiedenen Brennstellen. Die häufigste Abbildung in den chirurgischen Lehrbüchern war der "Wundenmann", an dem viele Arten von Verletzungen dargestellt und oft mit diagnostischen und therapeutischen Hinweisen versehen waren.
Ungenähte Wunden wurden mit einem Pflaster aus verschiedenen Harzen und Pflanzen bedeckt, genähte mit dem allgemein verbreiteten pulvis ruber, einem blutstillenden Puder, bestäubt und mit einem Wegerichblatt bedeckt. Am Ende wurde ein Verband aus Leinen-, Woll- oder Baumwolltüchern aufgelegt. Alle Arten von Verbänden wurden so angelegt, daß sie das Abfließen von Wundsekreten ermöglichten. Das galt besonders für den Eiter, über dessen Rolle die Ärzte geteilter Meinung waren. Lange Zeit galt die Eiterung als notwendig für die Reinigung der Wunde, außerdem sollte sie die Entfernung von Splittern begünstigen. Manchmal wurden Wunden sogar absichtlich zur Eiterung gebracht. Gegen diese Ansicht wandte sich z. B. Ugo dei Borgognoni aus Bologna. Alkoholverbände waren zwar in Gebrauch und auch medizinische Texte empfahlen das Auswaschen der Wunde mit Essig oder Wein. Dennoch konnten sich diese Behandlungsmethoden nicht gegen den Grundsatz der "heilsamen Eiterung" durchsetzen.
Dorena hat die eitrige Geschwulst entfernt. Das vorsorglich ins Feuer gelegte Glüheisen hat sie nicht gebraucht, dafür die Wunde genäht, mit pulvis ruber bestreut und sorgfältig verbunden. Vorher hat sie diese noch mit Wein ausgewaschen, was ihr eine heftige Diskussion mit Alzarius eingebracht hat. Sie hat sich durchsetzen können, überläßt dafür aber dem Kleriker die weitere Behandlung. Eifrig entwirft der gleich eine Gemüsediät und macht sich danach an die Herstellung eines Wundtrankes, der die Heilung von innen her begünstigen soll. Am nächsten Tag stellt er bei der Harnschau fest, daß die giftigen Säfte Jarrels Körper verlassen. Er wird bald wieder gesund sein.
Doch bevor Alzarius Jarrel den Trank verabreicht, bringt er seine astrologischen Berechnungen auf den neuesten Stand, gilt es doch, jede medizinische Maßnahme mit dem Stand der Sterne abzustimmen.
Die Astrologie blickt auf eine mehrtausendjährige Geschichte zurück. Sie begann sich zuerst im Euphrat-Tigris-Gebiet und in Ägypten zu einer festen Lehre zu entwickeln. Von dort gelangte sie in den griechischen und später römischen Kulturkreis. Seit ca. 650 v. Chr. waren die Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn bekannt. Sonne und Mond wurden ebenfalls als Planeten bezeichnet. Zu den sieben Planeten traten die 12 Sternzeichen, die zusammen den Tierkreis bildeten. Die Planeten und Tierkreiszeichen umkreisten nach ganz bestimmten ewigen Regeln und Gesetzen die Erde.
Die Christen lehnten die Astrologie ab. Der Glaube an ein vorbestimmtes Schicksal kam für sie dem Zweifel an der Allmacht Gottes gleich. Im islamischen Kulturkreis wurde sie dagegen gepflegt und gelangte durch die Araber wieder in die christliche Welt.
Im Mittelalter waren die Astronomie, mit deren Hilfe man Kalender berechnete und Navigationsgeräte konstruierte, und die Astrologie, die zur Berechnung des Horoskops und für die Wahrsagekunst diente, eng miteinander verbunden, da man glaubte, daß die Bewegungen der Gestirne mehr als die rein mechanischen Erscheinungen offenbarten.
In der Medizin wurde die Astrologie durch Erfahrungswerte unterstützt. Die Ärzte, die schon aus beruflichen Gründen gute Naturbeobachter und kenner sein mußten, erkannten, daß die Natur kosmischen Zeitgebern folgte. So treten Geburten und Todesfälle vermehrt in den frühen Morgenstunden auf und Puls und Körpertemperatur sind von der Tageszeit anhängig.
Eine wesentliche Stütze für den Glauben an die Bedeutung der Sterne für Gesundheit und Krankheit war die Makro-MikrokosmosLehre, die bereits von den Griechen entwickelt worden war. Der Mensch wurde als Glied und Teil des Kosmos begriffen. Der Makrokosmos bildete die ihn umgebende, wohlgeordnete Welt. Zwischen ihm und dem Menschen bestanden enge Beziehungen, die sich in den festen Zuordnungen zwischen Säften, Qualitäten und der Astrologie äußerten. Dem Mars war beispielsweise das Organ Galle, die gelbe Galle als Saft und die Qualität trocken und heiß zugeordnet. Deshalb wirkten die Gestirne auf Gesundheit und Krankheit des Menschen ein und aus ihrer Konstellation konnte der Arzt Rückschlüsse auf die Krankheitsursachen, sein therapeutisches Vorgehen und die Heilungsaussichten ziehen. Die Art und Weise, in der die Planeten und Sterne mehr oder weniger stark auf die irdischen Dinge einwirkten, hing u. a. von ihrer Position am Himmel ab. Sie war besonders stark "im Aszendenten", wenn sie gerade über dem östlichen Horizont aufgegangen waren und im Zenit.
Astrologische Kenntnisse waren daher für den Arzt wichtig, um ihn zu befähigen, die Stellung der Sterne bei der Interpretation von Krankheitssymptomen berücksichtigen und den richtigen Moment für die Verabreichung eines Heilmittels erkennen zu können. Die Astrologie wurde daher an den medizinischen Fakultäten gepflegt und systematisch weiterentwickelt. Doch nicht nur der akademische Arzt, auch der Chirurg benötigte das entsprechende Wissen. Er sollte u. a. über die Einwirkung der Tierkreiszeichen auf verschiedene Glieder und Körperregionen orientiert sein, da Operation und Aderlaß als gefährlich galten, wenn das "falsche" Zeichen im Zenit stand.
Damit bin ich für diesmal am Ende angekommen. Ich hoffe, genug Stoff für die Entwicklung vieler interessanter Charaktere geliefert zu haben. Wie schon angedeutet, werde ich mich mit der christlichen und magischen Heilkunde und ihren "überirdischen" Aspekten im nächsten Teil auseinandersetzen.
Heiler & Co. oder kein wandelnder Heiltrank:
Medizin im Mittelalter (Teil 3)
Bisher habe ich mich vor allem mit der rationalen Seite dieses Komplexes befaßt: die historische Entwicklung, der wissenschaftliche Kenntnisstand und die ärztliche Tätigkeit. In diesem letzten Teil beschäftige ich mich nun mit Aspekten, die für die damaligen Menschen genauso real waren, für uns heute aber eher unter den Begriff des Glaubens/Aberglaubens fallen. Ich spreche vom spezifisch christlichen und magischen Umgang mit dem Phänomen Krankheit. Obwohl beide Formen unsichtbare, dem Menschen übergeordnete Kräfte sowohl für die Entstehung der Krankheit verantwortlich machten, als auch für die Heilung derselben nutzbar zu machen suchten, galten beide als grundverschieden. Trotzdem lassen sich die drei Bereiche "Realität", Glaube und Magie oft kaum oder gar nicht trennen.
Es existierten verschiedene Traditionen und Denkansätze nebeneinander, anscheinend sogar in ein und demselben Menschen. Zugegebenermaßen bewege ich mich hier auf schwierigem Gelände. Trotzdem hoffe ich, etwas Ordnung in das Chaos bringen und euch die damaligen Verhältnisse ein wenig nahebringen zu können.
Die Krankheit: das unbekannte Wesen?
Im Mittelalter gab es im Grunde drei verschiedene Erklärungsansätze für Krankheiten. Ein weltlicher Arzt ging von einem gestörten Gleichgewicht der Säfte aus. In eine ganz andere Richtung wies die magische Erklärung. Sie sah die Ursache in übelwollenden, unsichtbaren Mächten, die mit ihren überlegenden Kräften den Menschen überwältigen, in ihn eindringen und krank machen. Auch die Kirche war von der Existenz solcher Kräfte überzeugt und personifizierte sie als Dämonen, die Gehilfen des Satans. Doch davon später mehr.
Der Glaube: Krankheit = Strafe + Hoffnung
Wie bewertete die Kirche Krankheit und ging mit ihr um? Welche speziellen Heilmittel bot der Glaube? Für Geistliche ohne medizinische Kenntnisse war dies die einzige Möglichkeit, einem Kranken zu begegnen. Anders die Geistlichen, die sich ärztlich betätigten. Sie vereinigten in sich im Grunde genommen zwei Arten, mit einem Patienten und seiner Krankheit umzugehen. Welcher von beiden der Vorzug gegeben wurde, war vielleicht individuell verschieden. Die Forschung jedenfalls kann diese Frage nicht beantworten. Für uns Rollenspieler ist das auch nicht wichtig. Am besten entscheidet jeder Heiler, der auch Kleriker ist, selbst, ob er zuerst die Seele oder den Körper seines Patienten retten möchte.
Vielleicht erinnert ihr euch noch an Alzarius, den Kleriker und Medizinprofessor, der den Dieb Jarrel behandelt hat. Er hat dem ärztlichen Handeln den Vorzug gegeben. Doch was hätte er getan, wenn er sich vorrangig auf seinen Status als Kleriker besonnen oder sogar keine Ahnung von Medizin gehabt hätte?
Da ist zum Beispiel Bruder Parvus, ein Mönch, Mitglied einer Abenteurergruppe. Zwar legen die meisten seiner Kameraden eine höchst bedauerliche atheistische Einstellung an den Tag oder sind gar Heiden, doch als Ruglar, Barde, Frauenheld und Allroundtalent, erkrankt, schlägt seine Stunde. Die Heilerin Arlena, von Haus aus Barbierin, bemüht sich nach Kräften. Für Parvus steht wegen der entstellenden roten Flecken die Krankheitsursache längst fest: Gott. Um die Existenz von Krankheiten und Leiden besser verstehen und ertragen zu können, versuchte die Kirche sie als sinnvolle Ereignisse im Plan Gottes zu erklären: unter anderem für die Besserung des Sünders und der Verkündigung des göttlichen Ruhmes bei den Wunderheilungen. Leiden und Krankheiten erschienen so als untrennbar mit der menschlichen Existenz verbunden.
Krankheit und körperliche Mißbildung galten auch als ein Zeichen von Sünde. Das doppelgesichtige Bild der Krankheit läßt sich gut am Beispiel der Lepra veranschaulichen. Einerseits bemühte sich die Schulmedizin um eine plausible Erklärung, andererseits wurde sie als Folge der Sünde und äußeres Zeichen für einen unchristlichen Lebenswandel gewertet.
Also versucht Bruder Parvus Ruglar klarzumachen, daß es einen bestimmten Grund hat, warum sein Gott ihn mit gerade dieser Krankheit geschlagen hat. Sein Lebenswandel ließe in moralischer Hinsicht sehr zu wünschen übrig und da gebe es noch eine Vorschrift, die in etwa besagt, daß man nicht die Frauen anderer Männer begehren soll. Aber gleichzeitig gibt er ihm zu verstehen, daß noch Hoffnung bestehe. Die Situation eines Kranken, sogar eines Todkranken, war vom christlichen Standpunkt her nicht aussichtslos. Als Mittel zur Sühne ermöglichte ihm die Krankheit die kritische Umkehr. Auf diese Weise eröffneten sich dem leidenden Menschen im Kranksein neue Wege zur geistigen Läuterung.
Trotzdem war im Mittelalter die Behandlung der Kranken widersprüchlich. Sie wurden einerseits als Ausgestoßene betrachtet, wie z. B. die Leprakranken. Andererseits war für den Christen jeder Kranke der personifizierte Anruf Gottes zum barmherzigen Handeln. Deshalb bedeutete Krankendienst Gottesdienst. Die christliche Caritas fühlte sich den besonders Bedürftigen am meisten verpflichtet, den Armen, Elenden, Kranken und Hilflosen. Ihnen mit dienender Pflege fürsorglich zur Seite zu stehen, war bereits für die ersten Christen eine wichtige Aufgabe. Der Christus medicus verkörperte Vorbild und Verpflichtung zugleich. Immer wieder wurde Christus als großer Arzt geschildert. Er galt zugleich als "heilende Kraft" und "das heilsamste Mittel". Auch das Handeln des christlichen Arztes, der allen Kranken helfen sollte, wurde in diesem Zusammenhang als Gottesdienst aufgefaßt. Sein Erfolg unterlag aber völlig dem göttlichen Ratschluß. Christliche Heilung: Glaube allein genügt (nicht immer) Doch unser Bruder Parvus ist kein Arzt. Ihm bleibt nur, Ruglar auf sein gefährdetes Seelenheil aufmerksam zu machen. Denn dem geht es gar nicht gut. Unruhig wälzt er sich auf seinem Lager hin und her. Arlenas Maßnahmen scheinen kaum zu helfen. Parvus' Worte klingen plötzlich nicht mehr so abwegig und enthalten sogar einen gewissen Trost. Ruglar beschließt, das Hilfsangebot des Mönchs anzunehmen. Parvus will zuerst den Kranken von der Sünde zu befreien, welche die Krankheit ausgelöst hat. Er verabreicht ihm die Bußsakramente und läßt ihn beichten, damit sich der Kranke mit Gott versöhnen kann, ohne dessen Hilfe alles ärztliche Tun sinnlos ist. Deshalb hat Arlena seiner Meinung nach auch keinen Erfolg. Parvus reinigt den Patienten mit Wasser und Öl von der Schuld, betet mit ihm und segnet ihn. | |
Der christliche Glaube bot aber noch andere Hilfsmittel. Die Heiligen konnten angerufen werden, um durch ihre Fürbitte zu helfen. Für die verschiedenen Leiden waren jeweils bestimmte Heilige zuständig. Das ging so weit, daß man Krankheiten mit den Namen von Heiligen bezeichnete, wie z. B. die Epilepsie nach dem heiligen Lupus, Ekzeme und Gürtelrose nach dem heiligen Laurentius und Halsentzündungen nach dem heiligen Blasius. Angezogen von den Heilwundern an den Gräbern der Märtyrer und Heiligen pilgerten viele Menschen dorthin und baten an den so entstehenden Wallfahrtsorten um Hilfe. Wichtig war dabei die innere Einstellung des Pilgers: Bußfertigkeit, Glaube und Demut.
Auch den Reliquien wurde eine große Heilkraft nachgesagt, die an ihrem 'Ursprungsort', also am Grab des dazugehörigen Heiligen, am größten war. Gregor von Tours (+ 594) empfahl z. B. den Staub vom Grab des heiligen Martinus als allerbestes Heilmittel. Ebenso begehrt waren Öl und Wachsstückchen von den Heiligengräbern. Auch das Wasser, in das zuvor Reliquien eingetaucht worden waren, gab man den Kranken zu trinken.
So weit muß Bruder Parvus nicht gehen. Seine Bemühungen sind auf fruchtbaren Boden gefallen. Ruglar fühlt sich nicht nur irgendwie entspannt und getröstet, auch Arlenas Medikamente wirken plötzlich besser. Eine Woche später ist er wieder gesund und zu Arlenas Ärger überzeugt, daß Parvus daran den größten Anteil hatte. Obwohl es ihm schwer fallen wird, will er zukünftig nach den Richtlinien des Glaubens leben. Und Bruder Parvus ist glücklich: Er konnte eine Seele retten.
Soviel Erfolg werden wohl nicht alle eure Priester haben, aber diesen einmal auf die geschilderte Weise auszuspielen und damit Profil zu verleihen, ist allemal möglich. Doch aus diesem Stoff läßt sich mehr stricken. Wie wäre es einmal mit einer Wallfahrt, um einem anscheinend unheilbar erkrankten Kameraden zu helfen? Oder die Suche nach einer verschollenen Reliquie, die laut einer Prophezeiung für die kranke Prinzessin die einzige Rettung ist? Könnte nicht ein reiches Kloster die Helden beauftragen, Staub vom Grab eines Heiligen zu holen, das aber unglücklicherweise in dem Reich liegt, mit dem man schon seit Jahren Krieg führt?
Krankenhäuser im Mittelalter
Auf diesen und anderen Reisen erwarten die Helden viele Gefahren. Die unvermeidlichen Verletzungen oder Krankheiten werden üblicherweise in der Wildnis auskuriert. Das in den pseudomittelalterlichen Welten auch so etwas wie Krankenhausaufenthalte möglich sind, scheint meines Wissens noch nicht in die Redaktionen der Abenteuermacher vorgedrungen zu sein.
In den ersten Jahrhunderten des Mittelalters beherrschte die klösterliche Krankenversorgung das Abendland. In der Pflege der Kranken sahen die Mönche eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Von besonderer Bedeutung war die Betreuung der großen Pilgerströme, da sich unter ihnen viele Kranke und Behinderte befanden, die auf Heilung durch die Wallfahrt hofften. Für die Aufnahme armer und kranker Pilger war das hospitale pauperum ("Herberge der Armen"), auch Pilgerhaus genannt, bestimmt, das meistens an der Klosterpforte lag.
In den seit dem 12. Jahrhundert rasch wachsenden Städten wurde die Versorgung Armer und Kranker eine drängende Aufgabe. In dieser Zeit entwickelten sich dort neue Formen des Hospitals.
Weltlicher Einfluß machte sich breit, da Laien in wachsendem Maße Bau und Unterhalt der zahlreicher werdenden wohltätigen Einrichtungen übernahmen. Es entstanden Laieninitiativen, aus denen sich fromme Bruderschaften und regelrechte Hospitalorden ähnlich den Mönchsorden entwickelten. Kleiner Touristiktip: Das Hôtel-Dieu in Beaune in Burgund (15. Jh.) oder das Spital zum großen heiligen Kreuz in Goslar (1254).
Die Patienten, meistens Arme, fanden im Spital Unterkunft für eine Nacht, aber auch zeitlich begrenzte oder gar unbefristete Pflege oder die Behandlung ihrer Krankheit. Wie viele aufgenommen werden konnten, weiß man nicht genau. Die städtischen Spitäler hatten ca. 25-30 Betten, allerdings mußten sich oft mehrere Personen eines teilen.
Also, Mut zu mehr Bequemlichkeit. Warum also sollte ein kranker oder verwundeter Charakter nicht einmal in einem Spital ein-quartiert werden, wenn sich eure Helden in der Nähe eines Klosters, größeren Dorfes oder gar einer Stadt befinden?
"Unrein! Unrein!"
Aber gerade in einer Ansiedlung könnten eure Helden auch eine unheimliche Begegnung wie die folgende haben: Ihr wandert gerade durch eine belebte Gasse, als ein klapperndes Geräusch ertönt. Voller Furcht treten die Leute zur Seite und machen einem hinkenden Mann in seltsamer Tracht Platz. Er trägt ein kuttenähnliches Gewand und einen breitkrempigen Hut. In der einen Hand schwingt er eine Klapper, in der anderen, die unter den Binden seltsam entstellt zu sein scheint, eine Schale. "Eine milde Gabe, bitte", krächzt eine rauhe Stimme. Seid ihr barmherzig, werdet ihr unter dem Hut ein von zahlreichen blassen und rötlichen Flecken und Knoten entstelltes Gesicht sehen, mit weißem Schorf in den Augenbrauen und einer verstümmelten Nase.
Die bandagierte Hand, die euch die Schale entgegenstreckt, hat nur noch drei Finger. Es ist ein Leprakranker, wie man sie in mittelalterlichen Ansiedlungen immer wieder antreffen konnte, nach dem Verständnis der Zeit lebende Tote.
| Lepra, mittelhochdeutsch miselsuht, kam damals in ganz Europa vor. Bevor jemand offiziell als Aussätziger galt, mußte er sich einer Lepraschau unterziehen und von Ärzten nach einem Katalog bestimmter Symptome untersucht werden. Fiel sie positiv aus, wurde der Kranke rechtlich für tot erklärt. In einigen Ländern mußte er sogar an seiner eigenen Totenmesse teilnehmen. Allerdings hatten die Angehörigen die Pflicht, für den Kranken zu sorgen. In der Regel kam er ins Leprosorium, auch Sondersiechenhaus oder Gutleuthaus genannt. Die Isolierung der Leprösen war aber nicht vollständig, da diese ihre Mittel oft durch Betteln aufbessern mußten. Um ihnen das zu ermöglichen, wurden die Leprosorien häufig an den Hauptverkehrsstraßen errichtet. Viele Städte besaßen mehrere dieser Einrichtungen, z. B. Nürnberg. Zur Vermeidung einer Ansteckung mußten die Leprösen bestimmte Kleidung tragen und durch Glocken, Klappern oder Hörner auf sich aufmerksam machen. |
Und was hat Lepra mit dem Christentum zu tun? Ganz einfach: Sie galt als die (fett) Krankheit schlechthin, mit der Gott einen Sünder strafte. Und nur Gott konnte ihn wieder heilen, wenn es ihm gelang, durch die Krankheit seine Sünde zu erkennen und wieder zu Gott zu finden. Jedenfalls wird es so in der zeitgenössischen Literatur des öfteren geschildert. Wir sollten die Hoffnung auf Gottes Hilfe nicht unterschätzen, war sie doch oft der einzige Trost für die mittelalterlichen Menschen nicht nur angesichts zahlreicher, meist unerklärlicher Krankheiten, denen man nur allzuoft hilflos gegenüberstand, sondern gerade auch in den Zeiten der immer wieder auftretenden großen Seuchen. Als Beispiel möchte ich hier nur die (fett) Pestkatastrophe des Mittelalters nennen, als der Schwarze Tod zwischen 1348 und 1350 durch Europa wanderte und schätzungsweise 25 Millionen Opfer forderte, etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung. "Alles lebt": das magische Denken Gott: Strafender, Helfender, Trost, Hoffnung - oft aber war die Art und Weise, in der man sich seiner Hilfe versichern wollte und die umgebende Welt wahrnahm, anderen Ursprungs. Älter als das Christentum und von diesem gerade auf dem Gebiet der Heilkunde meist nur hauchdünn übertüncht - Magie. | |
Bevor ich in die magische Praxis einsteige und euch auch ein paar Rezepte zum Ausprobieren (ohne Garantie) an die Hand gebe, möchte ich zuerst versuchen, das magische Weltbild zu erklären.
Der Mensch ist mit allen Erscheinungen seiner Umwelt verbunden. In dieser Einheit ist nichts zufällig oder bedeutungslos. Die Objektwelt ist zudem emotional geladen, d. h. sie ist Träger freundlicher oder feindlicher Bedeutungen. Zwischen dem Menschen und den Dingen wirken nichtrationale, emotionale Beziehungen. Durch magisches Verhalten versucht nun der Mensch, mit dem Unheimlichen und Bedrohlichen fertigzuwerden. Magie bedeutet die Umsetzung eines auf Entsprechungen und Sympathien begründeten Weltbildes in die Praxis. Sie beruft sich auf die Kenntnis unsichtbarer Zusammenhänge und Kräfte, derer sie sich bedient, um bestimmte praktische Zeile zu erreichen, z. B. Gesundheit, Erfolg in der Liebe, Glück im Geschäft, Tod des Feindes. Der Ablauf der Ereignisse wird nicht von Ursache/Wirkung-Ketten, sondern von Sympathien und Antipathien bestimmt. Bei Sympathie liegt zwischen Ursache und Wirkung eine symbolische "Ähnlichkeit" vor, die sich z. B. in der Form äußern kann. Die leberähnlich geformten Blätter einer Blume können möglicherweise eine kranke Leber heilen. Die Antipathie beruht auf dem gegensätzlichen Prinzip.
Das magische Denken und Handeln knüpft zwar an die Erscheinungen der natürlichen Umwelt an, aber in überwiegendem Maße wird der Erfolg der magischen Handlungen auf das Wirken unsichtbarer und geheimnisvoller Kräfte und Beziehungen zwischen Mensch, Mitmensch, lebender und toter Umwelt bezogen.
Magische Praktiken waren weit verbreitet, bei Mönchen, Ärzten, Hebammen und anderen Heilkundigen, aber auch bei anderen Menschen im alltäglichen Leben. Magisches Wissen war sozusagen "Allgemeingut". Daneben gab es auch Menschen, die im Ruf besonderer seherischer oder heilender Fähigkeiten standen.
Kirche und Magie: Feindschaft und Symbiose oder eine problematische Beziehung
Die Kirche stand den magischen Formen der Auseinandersetzung mit der Natur feindlich gegenüber, da sie darin einen Eingriff in die Allmacht Gottes erblickte. Selbst bei ähnlichem Ergebnis waren beide von ihrem Wesen her verschieden, da Magie als Dämonenwerk galt, Wunder hingegen aus der Kraft Gottes resultierten. Magie und Religion galten als voneinander getrennte oder sogar einander entgegengesetzte Bereiche. Deshalb richtete sich die Kirche auch grundsätzlich gegen die Behandlung mit zauberischen Mitteln. Trotzdem lebten im Volk viele heidnische Elemente weiter, mehr oder weniger verborgen unter dem Schleier des Christentums. Die Trennung zwischen Magie und Religion war in der Praxis oft mehr als unscharf. Der Wert und die Wirksamkeit eines Mittels wurde nach der praktischen Erfahrung, nicht nach den Ursachen für seine Wirkung beurteilt. Es kam nicht darauf an, wie, sondern ob ein Mittel wirkte.
Anmerkung zum Rollenspiel: Obwohl in vielen Gruppen sicherlich gleichzeitig Kleriker und Magier vorhanden sind, scheint es da keine Konflikte zu geben. Außerdem sollte man doch einmal über die Frage nachdenken, was passieren könnte, wenn sich ein Kleriker und eine weise Frau gleichzeitig um einen Kranken kümmern wollen...
Im Laufe des Christianisierungsprozesses integrierte und veränderte die Kirche die heidnischen Rituale, so daß viele Elemente in christlichmodifizierter Form erhalten blieben. Beispielsweise wurden Bäume und Quellen Heiligen geweiht und so manches Heiligtum mit einer Kirche überbaut. Auch bei der Heilbehandlung traten Segen und Gebete an den Platz der alten Beschwörungsformeln, denen sie aber häufig stark glichen. Die Heilkraft wurde nun Gott zugeschrieben und nur dem Klerus stand die Vermittlerrolle zwischen dem Menschen und der Natur, d. h. Gott, zu.
Dennoch bewahrte die Klostermedizin teilweise den magischen Charakter der Heilkunde. Das Wissen der Mönche über die Verwendung von Kräutern in Medizin und Magie stammte zum einen von klassischen Autoren. Neben der materia medica des Dioskurides war die bedeutendste Quelle die historia naturalis von Gaius Plinius Secundus d. Ä. (+ 79), die das ganze antike Wissen von der Natur umfaßte. Und weil magische Denk- und Handlungsweisen ein wichtiger Bestandteil dieses Werkes waren, trug es erheblich zu ihrer Vermittlung in das Mittelalter bei. Zum anderen lernten die Mönchsärzte auch von der Volksmedizin und verwendeten die dort bekannten Heilkräuter. Außerdem schrieben sie magische Rezepte auf. Nur so sind uns überhaupt alte Zaubersprüche überliefert worden.
Magische Praxis 1: Grundlagen
Sherla ist eine weise Frau. Da sie seit ihrer Kindheit bei einer Hexe in der Lehre war, ist sie trotz ihrer Jugend schon eine erfahrene Heilerin. Doch als im letzten Sommer zuerst eine Dürre und dann heftige Regenfälle den Feldern arg zusetzten, konnte der Priester die Leute ihres Dorfes überzeugen, daß sie daran die Schuld trüge. Obwohl sie gläubig ist, entkam sie den Häschern nur knapp und stieß nach einigem Umherirren auf diese Gruppe von Abenteurern. Sie tolerieren ihre magischen Praktiken, hat sie ihnen doch schon oft helfen können.
Wie alle weisen Frauen wendet Sherla bei der Behandlung von Krankheiten und Verletzungen Verfahren wie Säubern der Wunde, Verbinden, Schienen und Auflegen von Kräutern an, vermischt sie aber auch mit magischen Ritualen, besonders bei unerklärlichen Krankheiten wie den Schlaganfall.
Charakteristisch für die magische Medizin ist der Glaube an durch Sympathie und Analogie wirkende Zusammenhänge zwischen den auffälligen Krankheitssymptomen und den empfohlenen Heilverfahren. Daher ist die Heilwirkung auf eher spirituelle Ursachen zurückzuführen und kommt ohne sichtbare, materiell wirkende Mittelglieder aus. Dieses Denken dokumentiert z. B. der Versuch, Gelbsucht mit Hilfe eines umgehängten gelben Fadens zu heilen. Ein anderes Rezept gegen Gelbsucht ist ein Trunk aus Regenwürmern mit gelben (!) Ringen in abgestandenem Bier. Tip: Die Würmer bitte feinhacken. Magische Mittel brauchen oft keinen direkten Einfluß auf das erkrankte Organ nehmen, da sie auch ohne die Bindung an Raum und Zeit wirksam sind. Deshalb genügt es oft, daß sie einfach aufgelegt werden, z. B. ein Krebs auf die Krebsgeschwulst. Der böse Blick und Verwünschungen können auch große Entfernungen überbrücken.
Bevor Sherla jedoch Magie bei der Heilbehandlung anwenden kann, muß sie bestimmte Vorschriften beachten. Sie sollen die "Reinheit" der Arznei gewährleisten und die Macht des Heilers stärken. Zu diesen Regeln gehören z. B. beim Kräutersammeln Schweigen oder vorherige sexuelle Enthaltsamkeit. Die Heilpflanzen müssen oft ohne die Verwendung von Eisen ausgegraben werden und häufig nur unter Benutzung einer bestimmten Hand. Auch bestimmte Zeiten gilt es zu beachten. Manche Kräuter dürfen z. B. nur vor Sonnenaufgang oder bei Vollmond um Mitternacht gepflückt werden. Ein Beispiel: Bei der Mandragora (Alraune) glaubte man, daß sie sich an der Person rächt, die sie ausgräbt. Deshalb ließ man sie an einem Seil von einem Hund aus der Erde ziehen.
Magische Praxis 2: Sprüche
Thorgrimm, der Barbar in Sherlas Gruppe, hat seit Tagen heftige Zahnschmerzen. Selbst das Kauen der kostbaren Nelken bringt keine Linderung mehr und es ist kein Barbier in Sicht. Sherla beschließt, es mit einem Zauberspruch zu versuchen. Dabei hat sie die Auswahl zwischen drei Grundtypen. Auch hier gehen Magie und Religion ineinander über.
Gebete wurden in Form von Bitten an Gott, Christus, Maria oder verschiedene Heilige gerichtet. Häufig waren es Stücke aus der Liturgie oder verbreitete Gebete wie das Vaterunser oder das
Ave Maria. Oft mußten sie dreimal aufgesagt werden.
Die Segenssprüche begleiteten genau wie die Gebete häufig magische Handlungen oder bildeten einen Teil derselben, ohne selbst magisch zu sein. Der Form nach Wünsche, wurden sie zum Kranken gesprochen.
Beschwörungen oder Exorzismen wurden als Befehle an die Krankheit oder deren Verursacher, z. B. den Dämon, gerichtet. Um die Macht der Beschwörung zu verstärken, wurden häufig die Kräfte heiliger Personen, Dinge oder Ereignisse zusätzlich aufgelistet. Damit änderte sich der Absender, da nun "im Namen Gottes" oder "aus der Kraft" eines Heiligen der Krankheit oder deren Verursacher befohlen wurde. Eine solche Beschwörung wendet auch Sherla an. Wie die meisten Menschen glaubt sie, daß unerklärliche Schmerzen in den Zähnen, den Fingern, im Herzen usw. von einem Wurm verursacht werden. Nun will sie Thorgrimms Zahnwurm mit einem Wurmsegen vertreiben. Sie hält einen Pfeil an die schmerzende Stelle und spricht: "Wurm, kriech heraus, mit neun Würmchen, aus dem Mark in den Knochen, aus dem Knochen in das Fleisch, aus dem Fleisch in die Haut, aus der Haut auf diesen Pfeil! Herr, so geschehe es!"
Die Ereignisse aus der Bibel oder Heiligenlegenden spielten in Segenssprüchen und Beschwörungen oft die Rolle von Vorbildern.
Eine kurze Version gegen Blutungen: "Christus wurde verwundet, da wurde er wieder heil und auch gesund. Das Blut blieb stehen: so tu auch du, Blut!" Anschließend dreimal "Amen" und drei Vaterunser.
Magische Praxis 3: Kräuter, Blut und Schädelmoos - die Materialien
Doch Sherla kennt nicht nur die richtigen Worte, sondern auch eine ganze Palette an magischen Mitteln, z. B. Metalle, Edelsteine, Wurzelstöcke oder das Gift von Tieren. Die sogenannte Dreckapotheke beinhaltete die tierischen und menschlichen Ausscheidungen: Harn, Kot, Speichel, Schweiß und auch Milch. Auch Körperteile wie Knochen und deren Mark, Fett, Fleisch, besonders das Herz, von Tieren und das Blut Hingerichteter wurden verwendet.
Die meisten Heilmittel stammten von Pflanzen oder Tieren. Sie halfen entweder gegen ein spezifisches Leiden oder waren gegen mehrere einsetzbar. Die Alraune beispielsweise sollte bei Augenkrankheiten, Wunden, Schlangenbissen, Ohrenschmerzen, Gicht und anderen Leiden helfen. Bei den tierischen Heilmitteln wurden den einzelnen Organen oder Körperteilen spezielle Heileigenschaften zugesprochen. So sollten die getrockneten, fein gemahlenen und in Wein aufgelösten Nieren und Geschlechtsteile eines Geiers gegen Impotenz wirken.
Während diese Mittel und die Sprüche zur Bekämpfung bereits manifestierter Krankheiten dienten, gehörten die Amulette und Talismane in den nichtmateriellen Bereich. Sie sollten Geist und Seele des Trägers vor den Anschlägen sichtbarer oder unsichtbarer Feinde schützen. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, daß die Talismane die Schrift gebrauchen. Ihre Kraft stammt aus Wörtern oder wenigstens einzelnen Buchstaben
Die drei Gesichter der Magie: 1. Simile-Magie
Die Magie läßt sich in drei Grundtypen einteilen: Simile-, Singularitäts- und dämonistische Magie. Die Praktikerin Sherla hätte wahrscheinlich andere Namen dafür, aber wir sind ja (noch) Neulinge auf diesem Gebiet.
Zuerst zur Simile-Magie. Darunter verstand man die magischen Heilwirkungen des Gleichartigen und Ähnlichen. Bei einigen Heilmitteln berief man sich auf deren Identität mit dem Leiden, indem man z. B. den Genuß von Fuchslunge bei Lungenleiden empfahl, oder bezüglich der Ähnlichkeit in Form und Farbe die leberähnlichen Blätter des Leberblümchens. Mit bestimmten Handlungen versuchte man die Krankheit abzulösen, abzunehmen oder auszutreiben oder sie auf ein Tier oder eine Pflanze zu übertragen. Nach der magischen Krankheitsabnahme oder -übertragung wollte man sie stellvertretend zu vernichten durch Wegblasen, Abwaschen (am besten mit Weihwasser), Vertrocknen, Verbrennen, Vergraben von Ausscheidungen, Körperteilen usw., Verfüttern oder Übergabe an die vier Elemente.
Nachfolgend einige typische Rezepte: Wenn man mit einer Leichenhand über einen Kropf streichen würde, so würde dieser verschwinden, sobald die Leiche verweste. Wenn ein Hund den Speck, mit dem man die Fußsohlen eines Kranken eingerieben hatte, fraß, würde dieser gesunden. Bei einer Geschwulst im Unterleib sollte auf diesen ein lebender Regenwurm gebunden werden bis er starb und anschließend auf dem Friedhof vergraben werden. Die Geschwulst würde mit seiner Verwesung vergehen.
2. Singularitäts - Magie
Die Singularitäts-Magie arbeitete nach einem anderen Prinzip.
Sie bezog sich auf die dem Ungewöhnlichen, Seltenen, Unheimlichen, Heiligen innewohnenden Kräfte. Dazu gehörten ungewöhnliche Objekte der Natur, die durch ihre Form, Farbe, Zeichnung usw. auffielen. Auch seltene und edle Metalle wie Gold, Silber, aber auch Eisen, und Edelsteine, gehörten dazu. Als besonders heilkräftig galten die menschenähnlichen Wurzelstöcke der Alraunen.
Viele unheimliche Objekte oder Wesen wurden mit Krankheiten in Verbindung gebracht, z. B. Tiere wie der Maulwurf, die Fledermaus und die Kröte, und bestimmte Menschen, teilweise auch gewisse Berufe wie Henker, Leichenfrauen, Totengräber, Zigeuner und Hexen. Alle diese Tiere und Menschen standen mit höheren Mächten in Verbindung und konnten Krankheiten heilen, aber auch anzaubern, z. B. durch den bösen Blick. Unerklärliche Krankheiten wie Schlaganfall oder Epilepsie erforderten ungewöhnliche Heilmittel wie das Moos vom Schädel eines Erhängten, getrocknete Hirnschale, Wolfsherz oder Wieselblut.
Eine besonders heilkräftige Wirkung kam dem Lebenden zu. Diese Kräfte wurden in erster Linie durch das Blut repräsentiert, an zweiter Stelle durch das Herz. Man glaubte, daß sie in frisch Getötetem noch eine Zeitlang wirksam wären. Die Lebenskräfte versuchte man auf den Kranken zu übertragen, indem man entweder die Körper oder Körperteile frisch getöteter Menschen oder Tiere oder Elemente der Dreckapotheke verwendete. So sollte das Blut Hingerichteter gegen Epilepsie helfen. Noch bis in die Neuzeit hinein verdiente sich so mancher Henker mit in das Blut des Delinquenten getauchten Tüchern ein Zubrot.
Auch bestimmten Zeichen, Worten, Zahlen und Bildern wohnten Heilkräfte inne, z. B. in Symbolen wie Kreuzen, Runen, Pentagrammen.
zu: 3, 4, v. a. der 7, 9 und 12.
3. Dämonologie
Ganz am Anfang habe ich bereits die sowohl im magischen wie auch christlichen Weltbild verbreitete Vorstellung erwähnt, daß der Mensch von unsichtbaren Geistern überwältigt wird und daraus die Krankheit entsteht als Folge des Wirkens der überlegenen Kräfte übelwollender Wesen. Diese bösen Geister dringen in den Menschen ein, v. a. durch die Körperöffnungen Mund, Nase und After. Man stellte sie sich in vielerlei Gestalten vor, z. B. als haariges Tier, Vampir, Pockengeist, Hexe, Alp, unsichtbares Wesen und Wurm, z. B. Zahnwurm.
Als wichtigste von den Dämonen verursachte Krankheit galt die Besessenheit, aber da man zwischen physischen und psychischen Krankheiten keine Trennung vornahm, wurden auch andere Leiden in diese Kategorie eingeordnet, z. B. verschiedene Geisteskrankheiten, Impotenz, Epilepsie, Schlaganfall, Lähmung, Schwindel und Schüttelfrost. Auch die gelehrten Ärzte, geistliche wie weltliche, waren von der Existenz diabolischer Besessenheit und dämonischer Krankheiten überzeugt. Es gab eine Vielzahl von Schutz- und Abwehrmitteln, um das Eindringen der Geister zu verhindern bzw. bereits eingedrungene Dämonen wieder zu vertreiben. Entweder unterwarf man sich ihnen, bat um Gnade und brachte ihnen Opfer dar, um ihren Zorn zu besänftigen oder man versuchte sie zu überwältigen und zu vertreiben. Das Austreiben, Überlisten, Beschwören und Bannen eines Dämons war nur bestimmten Personen wie einem Priester möglich. Außerdem war ein bestimmtes Ritual nötig. Wenn also eine/r eurer HeldInnen an einer unerklärlichen Krankheit leidet, wäre eventuell ein Besuch beim nächsten Exorzisten angesagt, falls ihr keinen entsprechend ausgebildeten Kleriker in der Gruppe habt. | |
Um den Geist vertreiben zu können, bedrohte und beschimpfte man ihn. Außerdem versuchte man ihm seinen Aufenthaltsort zu verleiden, z. B. durch den Lärm von Trommeln, Glocken, Blasinstrumenten und Geschrei, durch Feuer und durch Wasser, mit man dem Körper und Seele reinigen und damit auch die Sünden abwaschen wollte. Viele Maßnahmen sollten bereits prophylaktisch das Eindringen der Geister in Haus und Menschen verhindern. Man verrammelte Türen und Fenster und trug Amulette und Talismane oder stark riechende Pflanzen am Körper oder hängte sie im Zimmer auf (wir erinnern uns an die Knoblauchstauden in den Dracula-Filmen).
Trotz mancher Skurillität - Jahrtausende lang haben die Menschen die Welt auf magische Weise gesehen und erklärt. Mit den in langer Zeit erworbenen Kenntnissen in der Behandlung von Verletzungen und Krankheiten haben sie dem Patienten körperlich geholfen. Zwar wußten sie nicht, wie und warum die Kräuter wirkten, aber mit dem magischen "Beiwerk" wollten sie sich dieser geheimnisvollen Kräfte versichern - und gaben damit dem Patienten sicher das Gefühl, daß alles für ihn getan wird. Und Hoffnung kann ja bekanntlich Berge versetzen.
Damit bin ich am Ende meiner kleinen Serie über die mittelalterliche Medizin angelangt. Gewiß, manchmal waren die Informationsbrocken ziemlich geballt, manches kam auch zu kurz oder mußte sogar ganz unter den Tisch fallen. Trotzdem hoffe ich, daß ihr zum einen Spaß beim Lesen hattet und daß ihr zum anderen viele Anregungen für die Ausgestaltung eurer Charaktere bekommen habt.
Ulrike Pelchen