Gipfel des Wissens
2002-01
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Eine Geschichte aus der Welt des Cthulhu-Mythos
Möglich¸ daß gewaltige Mächte von Himmel und Erde für uns nur deshalb erschreckend sind¸ da sie für uns gleichermaßen unaussprechlich wie unbegreifbar sind. Was aber¸ wenn wir zu verstehen lernen und sich herausstellt¸ daß dem nicht so ist¸ daß es nicht die Fremdartigkeit ist¸ die ihre eisige Hand an uns legt¸ sondern vielmehr die Ahnung auf ein Geheimnis¸ das es besser gar nicht zu lüften gilt?Im Nachhinein betrachtet¸ soweit mein zerrütteter Geist noch im Stande ist¸ einen einzigen klaren und logischen Gedanken zu fassen¸ war es natürlich die größte vorstellbare Dummheit¸ die friedlichen Täler des Unwissens verlassen zu wollen und die hinter schwarzen Nebeln so verheißungsvoll verborgenen Gipfel des Wissens zu erklimmen.
An jenem schicksalhaften Tag ereignete es sich¸ daß ich überraschend von meinem Freund Georg Milner aufgesucht wurde. Die Freude des Wiedersehens hielt sich zumindest was mich anging¸ außerordentlich in Grenzen. Zwar war Georg mir noch aus Kindertagen bekannt und wir hatten auch später regelmäßigen Kontakt gepflegt¸ wobei mir unsere nächtlichen Dispute über die großen Werke der Weltliteratur besonders lebhaft in Erinnerung geblieben sind¸ aber vor etwa einem Jahr war sein Verhalten für Verwandte und Freunde gleichermaßen untragbar geworden.
Abgesehen davon¸ daß er absolut kein sozialkonformes Benehmen mehr an den Tag legte¸ war er plötzlich nicht mehr fähig¸ die einfachsten Dinge des Alltags zu bewältigen. Insbesondere schien er außerstande¸ sich auf normale Weise vorwärts zu bewegen¸ sondern spannte hierbei seine Muskeln auf so unnatürlich Weise an¸ daß selbst das Zusehen ein mir beinahe an körperliche Schmerzen heranreichendes Unbehagen verursachte. Das allein wäre noch halbwegs erträglich gewesen¸ aber absolut grauenhaft waren seine Versuche¸ zu sprechen. Anstatt seiner wohltuend tiefen Stimme drangen zwischen seinen Lippen abscheulich pfeifende und schabende Geräusche hervor¸ die nur entfernt an die menschliche Sprache erinnerten.
Seiner Umwelt vollkommen entfremdet¸ machte er sich sogleich daran¸ sich in das Lesen von Unmengen von Büchern zu stürzen¸ deren Inhalt er in offensichtlich übermenschlicher Geschwindigkeit zu erfassen vermochte. Die gelesenen Werke stapelte er sogleich mit geradezu erstaunlichem Geschick zu hohen¸ wendeltreppenartigen Gebilden auf.
Zwar war Gregor schon immer ein sehr bibliophiler Mensch gewesen¸ aber er liebte es eher¸ bei einer guten Tasse Tee geruhsam in klassischer Literatur zu schwelgen und sich Gedanken für seine so geschätzten¸ später folgenden Diskussionen zu machen¸ anstatt einen derartig selbstmörderischen Lesemarathon hinzulegen¸ der in schwächerer Form eher zu meinen Spezialitäten gehörte und bei ihm immer nur ein mildes Lächeln und gutmütige Spötteleien hervorgebracht hatte.
Auffällig auch die Art der Bücher: Während der frühere Gregor Milner¸ entsprechend seines mituunter zu Lebensüberdruß neigenden und etwas dekadenten Gemüts sein größtes Vergnügen an den verschlüsselten Botschaften symbolistischer Gedichte gefunden hatte¸ schien sich sein Interesse nun plötzlich auf verbotene und okkultistische Bücher verlagert zu haben. Mit einem gewissen ehrfürchtigen Erschaudern - sofern man Respekt vor der vollkommenen Blasphemie empfinden kann - entdeckte ich sogar ein Exemplar des berüchtigten Necronomicon und einige andere¸ nicht minder verderbliche Werke.
Zwar wäre es eine grausame Ironie gewesen¸ hätte ich behauptet¸ daß er jetzt gut aussah¸ mit dunklen Schatten unter seinen Augen und bis auf die Knochen abgemagert wie er war. Trotz alle dem wage ich aber zu behaupten¸ daß seine Erscheinung wieder einen Teil ihrer Menschlichkeit zurückgewonnen hatte. Als er unschlüssig herumstotterte¸ wirkte seine Stimme zwar außerordentlich nervös¸ aber die seltsamen Pfeiftöne waren daraus verschwunden.
Er erzählte mir eine schier unglaubliche Geschichte¸ daß er während des ganzes Zeitraums¸ an dem er dieses seltsame Verhalten an den Tag gelegt hatte¸ nicht er selbst gewesen sei. Vielmehr habe eine groteske Kreatur ihr Bewußtsein mit dem seinen vertauscht. Auf diese Weise strebten diese Wesen¸ die er als die Große Rasse bezeichnete¸ ihr Wissen¸ vor allem¸ was ein mächtiges Volk betraf¸ das die Erde lange vor dem Menschen dominiert hatte und auch wenn es sich derzeit im Vorborgenen hielt¸ jederzeit bereit war¸ erneut seine Herrschaft anzutreten¸ betraf.
Seine Ausführungen faszinierten mich ungemein¸ als Bewunderer der Wissenschaft konnte ich ihm zwar keinen Glauben schenken¸ aber all das auch nicht für unwahr halten¸ ehe das Gegenteil bewiesen war.
Aus diesem Grund war ich auch sofort besessen davon¸ jenes Gerät¸ das laut Gregor die Loslösung des Geistes vom Körper und somit auch von Raum und Zeit bewirken konnte und mit dessen Hilfe der Seelentausch vonstatten gegangen war¸ selbst nachzubauen. Es gelang mir¸ in einem Buch eine detaillierte Beschreibung ausfindig zu machen. Es erstaunte mich¸ mit welch raffinierten und gleichzeitig einfachen Maßnahmen die scheinbar unveränderlichen Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden konnten.
Der ersehnte Moment war gekommen und ungeachtet des Mondes¸ der grausam und warnend auf mich herabstarrte und dessen bläuliche Krater die fahle Oberfläche wie eitrige Wunden zerrissen¸ legte ich den Schalter um. Sofort befand ich mich in einer unfaßbaren Welt jenseits des Universums und der Vorstellungskraft. Grenzenlos frei und plötzlich allwissend¸ ein Zustand¸ der¸ so erstrebenswert er auch war¸ ich nicht zu ertragen im Stande war.
Heute bleiben mir immer nur wenige lichte Momente angesichts endloser Äonen geistiger Umnachtung. Es gibt Gipfel des Wissens¸ die¸ so verlockend sie auch scheinen mögen¸ der Mensch niemals erklimmen darf - aus welchen Gründen auch immer.
Nina Horvath
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