Flucht
2001-01
von Andreas Fischer
- Tief hingen die dunklen Wolken. Das freundliche¸ helle Sonnenlicht war verschwunden. Mich fröstelte¸ mit hochgezogenem Kragen stand ich auf dem Marktplatz und betrachtete argwöhnisch das Rathaus.
Es war eines von diesen postmodernen Rathäusern. Langgezogen und wuchtig. Wie ein schlafender¸ grauer Drache thronte es vor dem Marktplatz.
Ein kalter Windhauch strich mir über die Wangen¸ dabei war es doch Hochsommer. Die Wettervorhersage hatte von 26 Grad im Schatten gesprochen. Nun stand ich in wieder in dieser Stadt und das Wetter war umgeschlagen. Fast schien es mir¸ als ob die Stadt mich warnen wollte. Ich blickte auf die Uhr. Die digitalen Zahlen verkündeten mir die Zeit. Sechszehn Uhr und dreißig. Mein Blick wanderte wieder zur Eingangstür des Rathauses. Gleich würde er kommen. Er.
Leise öffneten sich die gläsernen Eingangstüren. Mein Herz schlug schneller. Da war er. Er. Langsam ging ich auf ihn zu. Sein Blick war mir abgewandt¸ sein Gang hastig. War er auch auf der Flucht?
Meine Schritte verschnellerten sich¸ ich hastete hinter ihm her. An der Front eines Bücherladens bekam ich ihn an der Schulter zu fassen. "Bleiben Sie bitte stehen!" flüsterte ich ihm eindringlich zu.
Mit einer unfreundlichen Miene blieb er stehen. "Was ist?" murmelte er genervt. Seine Augen suchten keinen Kontakt zu mir. "Was wollen sie?"
"Haben Sie es noch nicht gehört?" wisperte ich ihm kaum hörbar zu. "Ist ihnen noch nichts aufgefallen? Ich muß Sie warnen!"
"Und wovor?" er wandte mir sein Gesicht zu¸ in dem Verärgerung lag.
"Wie lange arbeiten sie schon hier?" raunte ich ihm zu.
Sein Blick ging wieder ins Leere. "Vier Wochen!" erklärte er genervt. "Und?"
Ich zog ihn zur Seite¸ hinter einem großen Busch. Weg vom Blick auf das Rathaus. "Es kann uns sehen!" erklärte ich ihm mit gedämpfter Stimme.
"Sie sind wohl nicht ganz dicht!" erwiderte er mit unfreundlicher Stimme.
"Ich habe nicht viel Zeit!" entgegnete ich leise zischend.
"Fünf Minuten gebe ich Ihnen. Keine Sekunde länger!"
Mein Blick fiel hektisch auf die Uhr. "Es ist knapp¸ aber die Zeit wird reichen¸ hoffe ich!" gab ich mit gedämpfter Stimme zu.
"Sie haben noch vier Minuten und fünfzig Sekunden!" meinte er mit trockener Stimme.
Ich nickte und begann:
"Vor sechs Wochen hatte ich hier auch gearbeitet. Ich war Sachbearbeiter im Personalamt. Schon am ersten Tag hing eine merkwürdige Stimmung in der Luft. Mein Weg zum Büro führte durch schwach beleuchtete¸ endlose Gänge¸ flankiert von hellen¸ verklinkerten Wänden in denen Rauchglastüren eingesetzt waren. Die Luft war warm und stickig. Es war beklemmend.
Erst im hellen¸ freundlichen Büro baute sich wieder eine angenehme Atmosphäre auf. Die Kollegen waren freundlich und hilfsbereit und die Arbeit machte Spaß. Selbst nach einer Woche hatte sich mein Eindruck von dem Rathaus nicht geändert. Es war jedesmal ein beklemmendes Gefühl¸ wenn ich das Rathaus betrat. Der Weg zum Büro war Tag für Tag eine neue Mutprobe für mich. Am achten Tag geschah es dann. Ich hatte einen Bericht geschrieben und wollt ihn vervielfältigen. Im Rathaus gab es einen Kopierraum¸ in dem ein riesiger Kopierer stand. Ein Riese unter dieseen Vervielfältigungsmaschinen¸ so groß wie ein Kleinwagen. Aber ein Wunderwerk der Technik¸ er kopierte sämtliche Vorlagen selbständig. Er zog¸ wie von Geisterhand¸ die Blätter ein und warf sie auch wieder aus.
Ich legte meine fünf Blätter ein und drückte die Kopiertaste. Die Maschine zog jedes Blatt brav ein und kopierte es. Wie gewöhnlich kontrollierte ich die Kopien auf Vollständigkeit¸ da ich solchen Wunderwerken der Technik grundsätzlich nicht traue. Die Kopien entsprachen den Originalen¸ auf dem ersten Blick zumindest. Auf der letzten Seite war etwas¸ was nicht dorthin gehörte. Etwas in kleiner¸ krackeliger Schrift¸ geradeso als ob jemand nicht schreiben konnte und versuchte Buchstaben nachzumalen. NOCH DREI KOPIEN... stand da.
Ich kratzte nachdenklich an meinem Kopf. Machte sich jemand mit mir einen Scherz? Ich untersuchte die Glasplatte des Kopierers und die leeren Blätter. Nichts.
Erneut drückte ich die Taste und der Kopierer zog sich wieder jedes Blatt durch. Mein Blick wanderte wieder zur fünften Kopie. An der gleichen Stelle stand diesmal NOCH ZWEI KOPIEN ... Ein mulmiges Gefühl beschlich mich¸ ich konnte mir dieses Phänomen nicht erklären. Ich öffnete die Lade mit dem Kopierpapier und nahm es heraus¸ dann legte ich eine neues Papier¸ frisch aus der Packung¸ hinein.
Mit einer gewissen Hoffnung drückte ich wieder die besagte Taste. Die Maschine ratterte erneut. Hastig griff ich nach dem fünften Blatt und erschrak¸ DIE LETZTE KOPIE stand da geschrieben. Nervös blickte ich mich um. Für mich brach mein Weltgefüge zusammen. Ich stand vor einem Rätsel¸ das ich nicht lösen konnte.
Sollte ich es wagen¸ oder nicht? Mein Finger schwebte wieder über der Taste. Zögernd drückte ich sie und wartete ab. Die Maschine verrichtete mit Getöse meinen Auftrag.
In Zeitlupentempo griff ich nach dem fünften Blatt und atmete erleichtert auf. Die Kopie war wie das Original. Zufrieden mit mir und der Welt griff ich mir alle Kopien und hielt plötzlich inne. Ich hatte etwas gehört. Ein leises Platschen. Kein Plätschern¸ sondern ein feuchtes Klatschen¸ ähnlich einem nassen Fu߸ der gewichtig über Fliesen läuft.
Nur ... der Kopierraum war mit einem hellgrauen Teppich ausgelegt. Der Geräusch schwoll weiter an. Ich wagte nicht mehr zu atmen. Wie aus dem Nichts fiel ein Schatten durch das Fenster in den Kopierraum. Ich erstarrte in meiner Bewegung.
Da hing oder stand etwas schwarzes¸ großes¸ unförmiges am Fenster. Am Fenster des Kopierraum im zweiten Stock und es schwoll weiter an.
Panik erfüllte mich¸ so schnell ich konnte hastete ich aus dem Kopierraum¸ über den dunklen¸ verlassenen Flur. Der Weg zu meinem Büro schien mir unendlich weit. Die Rauchglastüren flogen seitlich an mir vorbei¸ mein Herz schlug zum zerbersten.
Mit keuchenden Atem erreichte ich mein Büro¸ die helle Insel in diesem dunklen Sumpf. Langsam beruhigte ich mich wieder. Mein Verstand setzte wieder ein und ich fragte mich¸ ob ich mir das alles nur eingebildet hatte. Ich setzte mich auf meinem Stuhl und schaute nochmals die Kopien durch.
Da war es wieder¸ das leise Platschen. NOCH DREI KOPIEN las ich auf dem Blatt.
Ich sprang vom Stuhl auf und hechtete zur Tür¸ so schnell ich vermochte floh ich aus dem Rathaus und rannte zu meinem Wagen. Erst in meiner Wohnung endete meine Flucht. Niemals¸ niemals wieder würde ich einen Fuß in das Rathaus setzen. Ich kündigte noch am gleichen Tag und ließ mir meine persönlichen Sachen nach Hause bringen.
Nun komme ich jeden Tag hierhin¸ um sie alle zu warnen. In dem Rathaus geht etwas um¸ etwas was ich mir nicht erklären kann. Etwas..."
"Ihre Zeit ist um!" unterbrach mich der Mann. Er würdigte mich keines Blickes mehr und ging weiter¸ so als ob nichts geschehen wäre und seine Schritte¸ ja ... seine Schritte klangen wie dieses Platschen¸ leise aber doch hörbar. "Ihn hat es schon geholt!" durchfuhr es mich.
Morgen¸ morgen würde ich wiederkommen und versuchen einen anderen zu warnen. Morgen. Nicht heute¸ heute nicht¸ denn ich höre es wieder und sollte schnell das Weite suchen. Es kommt näher. Das Platschen. Es kommt immer näher¸ das Geräusch als ob ein nasser Fuß gewichtig über Fliesen läuft.
Andreas Fischer
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