Khurs der Suchende
2001-01
von Andreas Fischer
- 1. Segment - Das Dorf
Der Regen hatte die staubige Straße in ein Meer aus Schlamm verwandelt. Fluchend und schimpfend sucht der Pulk aus Händlern und Dörflern ihren Weg zum Marktplatz. Ich betrachte das geschäftliche Treiben¸ auf der Suche nach ihr¸ noch einen kleinen Moment und erhebe mich schließlich.
"Dreh dich um!" herrscht mich eine kalte¸ rauhe Stimme an.
Widerwillig folge ich seinem Befehl. Es ist ein Söldner des Dorfschulzen Cubin. Er mustert mein Gesicht eindringlich und vergleicht es mit seinem Pergament. "Troll DICH weiter! Cubin duldet keine Nichtsnutze!"
Ich bleibe dem Söldner eine Antwort schuldig. Erst gestern habe ich miterlebt¸ wie ein anderer Söldner Cubins einen Händler zusammenschlug¸ weil er Widerworte gab. Mit raschen Schritten ziehe ich weiter. Meine nackten Füße versinken bis zum Knöchel im Schlamm und hinterlassen schmatzende Geräusche.
"Du bist nicht von hier!"
Ich schaue einer Frau ins geschminkte Gesicht. Sie gibt sich jünger als sie ist und versucht mir schöne Augen zu machen.
"Hast du Geld?" Sie ist sehr direkt¸ vielleicht schon zu direkt. Ist sie ein Lockvogel für die hiesigen Straßenräuber? Ich nicke.
"2 Silberstücke für ein Bett und mich!"
Mein Weg zu diesem Dorf war beschwerlich gewesen¸ meine Glieder schmerzen und der Abend scheint auch zu dämmern. Wieder nicke ich. Langsam und bedächtig.
"Du redest nicht viel!" bemerkt sie.
Erneutes Nicken meinerseits.
"Gehen wir!" meint sie knapp. Ich folge ihr durch den Schlamm zum Dorfrand. An einer brüchigen Lehmhütte¸ weit ab von der Straße bleiben wir stehen.
"Ein Silberstück jetzt¸ das andere später!" Ich krame in meinem kleinen Münzbeutel und gebe ihr den Silberling.
Die Ausstattung der Hütte ist spärlich. Ein Tisch¸ ein Stuhl¸ Feuerstelle und ein Strohlager. Gedämpftes Licht fällt auf ihr Gesicht und läßt es schön erscheinen¸ aber ich will nichts von ihr. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren¸ gebe ich ihr den zweiten Silberling.
"Geht!" meine ich knapp ohne den Mund zu öffnen. Sie schaut mich verdutzt an und zuckt mit den Schultern.
"Morgen früh seid ihr aber weg!" murmelt sie noch und trollt sich davon. Ich verschließe die Tür mit einem großen Holzriegel¸ der in zwei Halterungen gesteckt wird. Die Fensteröffnungen verschließe ich mit breiten Holzscheiten. Durch ein Loch in der Decke fällt noch etwas Licht. Bald wird es dämmern. Ich ziehe meine Sachen aus. Ein schmutzgraues Flachshemd und eine kurze schmutzige Hose aus Leinen. Mehr besitze ich nicht. Den Geldbeutel lege ich unter das Stroh.
Ein grober Leinensack liegt auf dem Stroh. Schwerfällig lasse ich mich auf das Nachtlager fallen¸ starre durch das Loch im Dach und warte auf die Nacht.
Ein leiser Hahnenruf weckt mich am nächsten Morgen. Ich habe einen metallischen Geschmack im Mund. Sollte ich etwa...
Langsam öffne ich¸ in stiller Gewißheit¸ die Augen. Ich habe es gewußt¸ ...
mein Körper ist mit getrocknetem Blut überzogen. Seitlich von mir liegen zwei Kadaver. Ihre Körper sind aufgerissen...¸ ich wende angeekelt meinen Blick ab¸ aaber nur kurz. Zu groß ist die Neugier¸ wer die Leichen sind. Ich erkenne die Frau wieder und einen ungepflegt aussehenden Mann. Ich hadere mit mir¸ ob ich die Leichen fleddern soll oder nicht.
Nach einer kurzen Pause des Sinnens¸ beginne ich mit meiner frevelhaften Handlung. Die Ausbeute ist nicht gro߸ eine Handvoll Silberlinge und einen langen Dolch. Wollten die beiden mich etwa... Mein Blick fällt auf die Tür¸ der Riegel steckt noch in den Halterungen. Das Fenster ist auch noch dicht. Sie mußten über das Dach gekommen sein... Ich betrachte die Stiefel des Mannes und ziehe sie ihm schließlich aus. Für meine Suche nach ihr brauche ich festes Schuhwerk¸ denn nur sie allein kann ihn von mir nehmen¸ meinen Fluch...
2. Segment - Einöde
Kleine Staubwolken wirbeln jedesmal auf¸ wenn meine Stiefel auf den Boden aufsetzen. Der Boden ist staubig und trocken¸ aber es ist der einzige Weg nach Drego¸ dem Ort an dem SIE sein muß. Sie muß dort sein¸ sie muß es einfach.
Obwohl es noch früh am Morgen ist¸ sticht die Sonne bereits und läßt mich Schweiß auf der Stirn bilden. Es ist merkwürdig¸ daß ich weder Hunger noch Durst verspüre. Ich habe schon seit zwei Tagen nichts mehr zu mir genommen und fühle mich in keiner Weise geschwächt oder ausgelaugt. Was in der Nacht mit mir geschieht¸ ist mir auch nicht klar¸ lediglich das meine Kleidung am nächsten Morgen zerfetzt ist. Mehr nicht... Auch ist mir nicht ganz klar¸ was die Menschen in meiner Umgebung tötet und warum. Ich nehme an¸ daß dies der Fluch sein mu߸ der auf mir lastet¸ den alleine sie aufheben kann.
Der Vormittag vergeht¸ unermüdlich schreite ich auf dem ausgedörrten Boden weiter. Am Horizont bildet sich ein Gebirgszug ab. Das Yr-Tao Massiv. Immer noch kein Durstgefühl. Mein Körper scheint eine nie versiegende Quelle an Energie zu sein.
Mittlerweile steht die Sonne hoch über mir¸ mein Hemd ist schweißna߸ trotzdem fühle ich mich wie neugeboren. Wieso überkommt mich dieses Glücksgefühl? Auf mir lastet doch ein Fluch¸ trotzdem fühle ich mich so gut¸ warum?
Langsam senkt sich die Sonne wieder¸ mein Schatten wird länger und länger¸ das Gebirge scheint nicht mehr all zu weit entfernt zu sein. Bis zur Dämmerung wollte ich es erreicht haben...
Die Sonne ist untergangen¸ die Nacht wird bald hereinbrechen¸ ich stehe vor dem Gebirge und suche nach einem gangbaren Weg hinauf. Nicht weit von mir entfernt¸ entdecke ich einen kleinen Pfad. Ich entschließe mich dem Pfad zu folgen und eine Höhle zu suchen¸ in der ich die Nacht verbringen kann.
Ohne eine Vorwarnung drückt sich ein spitzer Gegenstand in meinen Rücken¸ eine trockene Stimme meint¸ "Euer Geld oder ihr seid tot!"
Eine zweite Stimme ergänzt "Aber hurtig!"
Ich wage es nicht mich umzudrehen¸ langsam löse ich meinen Geldbeutel von der Hose und lasse ihn zu Boden fallen. Die Spitze drückt sich noch fester in meinen Rücken.
"Alles!" herrscht mich die erste Stimme an.
"Das ist alles!" entgegne ich mit belegter Stimme.
"Lügner!" brüllt die andere Stimme¸ dann dringt der kühle Stahl in meinen Rücken ein.
Ein heißer¸ brennender Schmerz durchflutet meinen Körper. Mit geweiteten Augen drehe ich mich um und blicke in zwei rußgeschwärzte Gesichter.
"Stirb endlich!" flucht der eine.
"Warum..." kommt es mir noch über die Lippen¸ dann falle ich. Falle und falle. Ich spüre keinen Aufprall¸ mit rasender Geschwindigkeit falle ich in das undefinierbare Dunkel. Ich werde nicht langsamer¸ aber auch nicht schneller. Es ist eine gleichbleibende Geschwinigkeit¸ mit der ich in einer unendlich scheinenden Dunkelheit falle. Irgendwann ebben meine Empfindungen und meine Gedanken ab. Stille.
Ich werde wach. Ein vertrauter Geschmack nach Metall läßt mich hochschrecken. Ich reiße meine Augen auf und schließe sie gleich wieder. Für einen kurzen Moment habe ich ein Bild des Schreckens gesehen. Warum erwache ich immer nackt¸ inmitten eines Schlachtfeldes? Über dem getrockneten Blut des Vortages¸ hat sich eine weitere trockene Blutschicht gelegt. Widerwillig öffne ich meine Augen wieder¸ ich liege in einer Höhle. Heruntergebrannte Pechfackeln beleuchten das Szenario vage. In einiger Entfernung dringt helles Tageslicht in die Höhle. Der Höhlenboden ist nichts weiter als ein riesiger¸ klebriger Blutteppich. Neben mir liegen zwei Körper mit rußgeschwärzten Gesichtern. Der Brustkorb der beiden ist zerfetzt¸ letztendlich ist es nicht mehr als ein großes¸ dunkles Loch. Ich schlucke mehrmals schwer und beginne die Leichen zu fleddern. Ich finde einen langen Dolch¸ ein rostiges Kurzschwert und meinen Geldbeutel und nehme die Sachen an mich. Die Hemden der beiden sind nichts weiter als blutige Lumpen. trotzdem mache ich mich an einer Leiche zu schaffen und nehme ihr die schmutzige Hose und deren Stiefel ab. Mein Blick fällt wieder auf den Dolch¸ habe ich nicht auch etwas Spitzes in meinem Rücken. Vorsichtig betaste ich meinen Rücken. So sehr ich auch suche¸ ich finde weder den Einstich¸ noch die Waffe. Was ist nur mit mir los?
Die Hose und die Stiefel passen einigermaßen. Die Höhle scheint doch größer zu sein¸ als ich angenommen hatte. Soll ich sie erkunden oder weiterziehen? Mein Drang weiterzuziehen ist größer¸ ich will den Fluch loswerden. Ich setze mich über meine Vernunft hinweg und wende mich dem Ausgang zu. Helles Morgenlicht begrüßt mich¸ unwillkürlich kneife ich meine Augen etwas zu. Für einen kleinen Moment genieße ich die Stille¸ die mich umgibt. Ich wende mich zum Gehen und halte dann doch inne¸ war da nicht ein Stöhnen gewesen? Ich blicke zur Höhle zurück. Stille! Oder doch nicht? Da¸ wieder ein leises¸ kaum vernehmbares Stöhnen.
Kam es aus der Höhle?
"Hallo?" rufe ich mit unsicherer Stimme in die Höhle. Ein unheimliches Echo meiner Stimme antwortet mir¸ dann herrscht wieder Stille. Angespannt horche ich in die Stille der Höhle. Da wieder¸ dieses kaum vernehmbare Stöhnen. Was soll ich jetzt machen? Weitergehen oder Nachschauen? Ich weiß es nicht...
3. Segment - Ranessa
Noch immer stehe ich am Höhleneingang¸ unschlüssig mit mir selbst. Einerseits bin ich neugierig¸ andererseits zieht es mich weiter um SIE einholen zu können. Was soll ich nur tun? Ich atme nochmals tief durch und überlege. Ein Silberling soll meine Entscheidung fällen. Zeigt er den Kopf Cubins¸ gehe ich in die Höhle¸ sehe ich die Umrisse Cobona-Yr-Taos gehe ich weiter. Ich krame nach einem Silberling und schnipse ihn in die Luft. Die Münze steigt und steigt¸ die Morgensonne läßt ihn¸ während seines Fluges¸ freundlich aufblitzen. Ich schnappe die Münze wieder auf und lege sie verdeckt auf meinen Handrücken¸ dann decke ich sie auf.
Cubins Profil strahlt mich an.
Vorsichtig betrete ich die Höhle. Bedächtig setze ich einen Fuß vor den anderen und vermeide es¸ die beiden Bergbanditen nochmals anzuschauen. Die Höhle macht eine Biegung nach rechts¸ ohne Licht sollte ich nicht weitergehen. Ich greife mir eine der fast heruntergebrannten Fackeln und gehe weiter. Der Gang ist von weiteren flackernden Pechfackeln beleuchtet.
Im Gang sind Felle¸ zwei Rucksäcke und eine kalte Feuerstelle zu sehen. Aha¸ das Lager der beiden. Wieder dringt das leise Wimmern in meinen Gehörgang. Rufen ist sinnlos¸ also gehe ich den Gang weiter.
Ist das Wimmern nicht lauter geworden? Ich schwenke die Fackel und suche den Boden und die Wände ab. Ein Strick¸ der an einer kleinen Felsnase befestigt ist¸ wird sichtbar. Ich schwenke die Fackel nach oben und erkenne über mir schmutzige¸ bare Füße. Jemand hängt in einem Meter Abstand über mir. Ohne viel nachzudenken¸ lege ich die Fackel beiseite und löse den Strick. Langsam lasse ich die menschliche Gestalt hinunter. Je näher sie in den Schein der Fackel kommt¸ um so mehr erkenne ich von ihr.
Es ist eine Frau¸ aber es ist nicht SIE. Leider! Sie ist mit dicken Gurten verschnürt¸ an denen das Seil befestigt ist. Über ihrem Mund ist ein dicker schmutziger Leinenstreifen gebunden. Als sie sicher auf dem Boden steht¸ entferne ich ihren Knebel. Sie schaut mich dankbar und neugierig an.
Ich kann ihrem Blick nicht standhalten und wende mich ab.
"Ich danke dir¸ Fremder!" Ihre Stimme ist zwar trocken¸ fast heiser¸ doch schwingt in ihr eine Nuance Süße mit. Ich nicke stumm und mache mich an ihren Gurten zu schaffen.
"Mein Name ist Ranessa"¸ stellt sie sich vor. Wieder nicke ich nur.
"Ich war mit meinem Bruder Asgen nach Dergo unterwegs¸ dann wurden wir in diesem Gebirge überfallen. Asgen hat man in eine tiefe Schlucht gestoßen und mich hat man..." Ihre Stimme versagt und endet in einem tiefen Schluchzen¸ bis sie regelrecht weint.
Ich weiß nicht so recht¸ was ich jetzt machen soll. Stehenlassen oder trösten. Behütend lege ich meine Arme um sie¸ kann aber keine tröstenden Worte aufbringen. Sie schlingt ihre Arme um meinen Oberkörper und weint sich an meiner Brust aus. Teilnahmslos lasse ich sie gewähren. Der Drang endlich weiterzugehen wächst zunehmend in mir. Vorsichtig löse ich ihre Arme von mir und schaue sie besorgt an¸ "Besser?" murmele ich.
"Ja!" kommt es in einem unterdrückten¸ weinerlichen Tonfall. Ich wende mich von ihr ab und gehe zurück. Ein leises Patschen verrät mir¸ daß sie mir folgt.
"Wo geht ihr hin?" ruft sie mir nach. "Dergo!" antworte ich knapp.
"Laßt mich nicht alleine! Nehmt mich mit!" Sie rennt hinter mir her und hält mich am Arm fest.
"Hier leben Monster! Ehrlich!" Ihre Stimme überschlägt fast vor Panik.
Ich blicke sie an und hebe ungläubig die Augenbraue.
"Ja¸ vergangene Nacht¸ kurz bevor es zu dämmern begann vernahm ich von meinem Platz aus¸ menschliche Schmerzensschrei und dann sah ich es¸ es war nicht gro߸ etwa so groß wie ihr¸ es war schrecklich anzusehen. Sein ganzer Körper war übersät mit glänzenden¸ dunklen Schuppen. Es hat mich nicht gesehen¸ da ich ja hier oben hing¸ aber hätte es mich gesehen¸ dann..." Ihre Stimme hat jeglichen Halt verloren¸ die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus.
Noch ehe ich etwas erwidern kann¸ redet sie weiter. "Es hatte drei spitze Hörner auf dem Kopf und sein Kopf war der einer riesigen Echse. Das Gesicht einer Eidechse¸ aber riesengroß. Aus seinem Rachen hingen zwei Zungen. Seine Hände waren krallenbesetzte Pranken und seine Füße waren so muskulös und fest..."
Ich wende mich von ihr ab¸ in der Gewißheit¸ daß sie mich in meiner verfluchten Gestalt gesehen hatte.
"Lüge!" meine ich nur trocken und löse ihren Arm von mir.
"NEIN!" schreit sie wie irre und versperrt mit den Weg. Ihre Augen quellen über vor blanker Angst.
"Verschwindet!" zische ich mit gefährlicher Stimme und schiebe sie beiseite.
"Biitte!" fleht sie mir hinterher aber ich kann sie nicht mitnehmen¸ ich würde sie in der nächsten Nacht töten und das will ich ihr ersparen.
Ich wende mich einen letztes Mal ihr zu und weise ihr den Weg zum namenlosen Dorf. "Rennt!" befehle ich ihr.
"Wie könnt ihr nur so roh und gefühlskalt sein? Ihr seht so nett aus¸ warum redet ihr nicht mit mir. Sprecht mit mir¸ bitte! BITTE!"
Ich schaue sie schweigend an. Wie soll ich ihr mit ein bis drei Worten erklären¸ daß ich es nicht darf. Die Rückname meines Fluches wäre auf alle Zeit verloren¸ ich müßte bis in alle Ewigkeit als wandernde Gefahr durch die Lande ziehen¸ ständig auf der Suche nach einem Ort¸ wo ich niemanden etwas zu leide tun kann¸ einem Kerker!
Ohne ein weiteres Wort verlasse ich die Höhle und schlage den Weg nach Dergo ein. Ich höre sie noch Schimpfworte und Worte des Flehen hinter mir her rufen. Mein Herz schmerzt¸ gerne hätte ich sie beschützt¸ nur wie. Wie hätte ich sie vor mir beschützen können.
Der Weg durch die Berge erweist sich als relativ einfach. Diejenigen¸ die den Weg bereitet haben¸ waren echte Künstler. Ich merke die Ansteigung kaum und selbst Serpentinen bleiben aus. Trotzdem fühle ich mich nicht wohl! Ich meine¸ daß Ranessa mir folgt. Diese DUMME Frau! Ich beschleunige meinen Schritt¸ in der Hoffnung¸ daß sie mich nicht weiter verfolgt und umkehrt. Noch müßte sie genug Zeit haben...
Der Abend bricht herein¸ ich suche mir eine geschützte Stelle und lege Hose sowie Stiefel ab. Nackt hocke ich mich in eine kleine Höhle und betrachte den Himmel¸ der sich immer dunkler färbt. Die ersten Sterne werden sichtbar¸ ich atme tief durch und bin traurig. Traurig darüber¸ daß ich zu einem Monster werde¸ dessen einziges Vergnügen scheint¸ zu töten und die Herzen der Opfer zu essen. Ich werde müde¸ langsam lege ich mich zurück und schließe die Augen¸ in der Hoffnung¸ am nächsten Morgen wieder an dieser Stelle zu erwachen.
Warme Sonnenstrahlen streicheln mir sanft über das Gesicht. Für einen Augenblick genieße ich die morgendlichen Strahlen¸ bis mir der metallische Geschmack in meinem Mund bewußt wird. Ich möchte meine Augen nicht öffnen¸ ich will es nicht. Es wird das Opfer sein¸ dem ich versucht habe zur Flucht zu verhelfen. Ranessa.
Mit gequälter Miene öffne ich meine Augen. Das Bild¸ das sich mir bietet ist schrecklich. Zu schrecklich für mich¸ ich kann meine Gefühle nicht länger unterdrücken und beginne zu schluchzen. Tränen rinnen mir die Backen herab. Warum? frage ich mich. Warum¸ Ranessa? Warum hast du dich neben mich zum Schlafen gelegt? Ich brauchte weder suchen¸ noch jagen. Ich konnte letzte Nacht ganz genüßlich dein Herz aus deiner Brust reißen. Ich stelle mir vor¸ wie erfreut ich über meine Vesper gewesen sein muß und breche weinend zusammen. Weinkrämpfe schütteln meinen Körper durch. Nur mit Mühe schaffe ich es¸ meine Fassung wiederzugewinnen. Ich muß Sie finden¸ bald¸ sehr bald! Auf diese Weise mag ich nicht mehr länger existieren...
4. Segment - Gedanken
Mit großen Schritten eile ich nach Dergo weiter. Noch immer sehe ich Ranessas Gesicht vor meinem geistigen Auge. Ich muß letzte Nacht schnell gewesen sein¸ sehr schnell. Anders kann ich mir ihr zufriedenes Gesicht nicht erklären. Sie war nicht aufgewacht¸ als meine Klaue ihren Brustkorb durchdrang und ihr das pochende Herz entriß. Gelitten hat sie nicht¸ das Schuldgefühl läßt mich trotzdem nicht los¸ wie hätte ich sie nur hindern können mir zu folgen? Ich weiß es nicht! Ich erreiche das Plateau des Gebirges gegen Mittag und bleibe stehen. Wie friedlich alles von hier oben wirkt! Noch kann ich Dergo am Horizont nur erahnen¸ aber morgen¸ morgen werde ich endlich dort sein. Erst jetzt wird mir richtig bewußt¸ daß ich seit meiner Verfluchung nichts mehr zu mir genommen habe¸ zumindest nicht bewußt¸ um so ausschweifender waren wohl meine Vespern gewesen. Ein kalter Schauer durchfährt mich. Um nicht weiter darüber nachzudenken¸ gehe ich weiter. Weiter nach Dergo. Warum hat Sie mich nur verflucht? Ich versuche den Tag meiner Verfluchung noch einmal zu rekapitulieren...
Es war vor vier Tagen gewesen¸ dem Tag meines 20. Wiegenfestes. Mein Vater tat sehr geheimnisvoll¸ als er mich weckte¸ auch meine Mutter wirkte anders als sonst¸ irgendwie traurig. Das heitere Geschwätz¸ während des Frühmahl¸ blieb auch aus¸ statt dessen herrschte dort eine gedrückte Stimmung. Geradeso¸ als ob meine Eltern wußten¸ daß etwas¸ irgend etwas¸ heute geschehen würde. Den ganzen Vormittag hackte ich¸ mit unzufriedener Miene¸ Holz. Ich konnte die gedrückte Stimmung im Haus nicht ertragen und suchte einen Weg¸ meinem Verdruß Luft zu machen. Auf einmal stand SIE mir gegenüber¸ ich hatte ihr Kommen weder gehört noch gesehen.
Sie stand nur da und beobachtete mein geschäftiges Treiben.
"Du bist Khurs¸ nicht wahr?" Ihre Stimme klang weich und freundlich.
"Ja¸ und wer seid Ihr?" erwiderte ich¸ ohne von meiner Arbeit abzulassen.
"Die Leute nennen mich Zingara. Ich bin heute bei Dir¸ da Du Dein zwanzigstes Wiegenfest feierst. Ich will mit Dir reden!"
"Und worüber?"
"Stell erst einmal Deine Arbeit ein!"
Ihre direkte Art gefiel mir nicht¸ mit einem genervten Kopfschütteln schlug ich die scharfe Axt in den Holzblock¸
"Gut!" befand sie¸ "Schau mich an!"
Meine Augen trafen ihren Blick¸ sie war kleiner als ich. Sie hatte ein zartes Gesicht mit einer kleinen spitzen Nase und einem noch schmaleren Mund. Ihre Augen hingegen wirkten groß. In ihren Pupillen spiegelte sich mein Gesicht. Ihre Iris wechselte in einem pulsierenden Rhythmus die Farben. Mal waren sie rot¸ mal gelb. Solche Augen hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie gesehen. Gehüllt war sie in einer schlichten grünen Robe¸ die ihr gesamtes Antlitz verhüllte.
"Präge Dir mein Gesicht ein¸ studiere meine Augen und konzentriere Dich¸ Khurs." Ihre Stimme war sehr ruhig und beruhigend. Für einen kleinen Moment verlor ich mich in dem pulsierenden Strom der wechselnden Irisfarben.
"Ich verfluche Dich¸ Khurs!" schrie sie plötzlich laut auf und riß mich aus meiner Konzentration. Ich schaute sie verblüfft an. "Warum?"
Statt eine Antwort zu geben¸ griff sie blitzschnell nach meinem kleinen Schutzamulett¸ das ich seit meiner Geburt um den Hals trage.
"Verfluchte haben kein Recht auf Schutz!" predigte sie mir mit lauter Stimme¸ "Kommt alle her! Seht den Verfluchten!" schallte ihre Stimme durch das ganze Dorf und binnen weniger Momente hatte sich ein kleiner Kreis Schaulustiger eingefunden¸ auch meine Eltern waren darunter. Alle standen sie mir schweigend gegenüber und starrten mich einfach nur an.
"Verfluchter¸ ich werde Deinen Fluch wieder lösen¸ wenn Du mich jemals finden solltest! Erst dann wird es Dir wieder gestattet sein¸ in Dein Dorf zurückzukehren."
Ich wußte nicht was ich sagen sollte¸ fast schien es mir¸ daß dies es war¸ was meine Eltern am heutigen Morgen so seltsam erscheinen ließ.
"Nimm dies!" meinte meine Mutter nur und gab mit einen kleinen Münzbeutel.
"Und nun gehe!" fügte mein Vater hinzu.
Ich schaute die beiden abwechselnd an¸ nicht fähig auch nur ein Wort zu sagen. Hilfesuchend schaute ich nach Zingara¸ aber sie war weg¸ einfach gegangen.
"Löse deinen Fluch und kehre wieder!" rief die Gruppe in Chor...
Nun gehe ich in Richtung Dergo. Mein Gefühl sagt mir¸ daß ich sie in Dergo finden werde. Langsam senkt sich wieder die Sonne. Ich war den ganzen Tag gelaufen und bin niemandem begegnet¸ was mich froh stimmt¸ denn in dieser Nacht werde ich bestimmt niemandem sein Herz rauben.
Als der Abend wieder das Land in einen sanften¸ dunklen Ton hüllt¸ entkleide ich mich. Ich lege mich etwas abseits des Weges in eine kleine Felsnische und beobachte den Himmel. Noch immer verstehe ich nicht¸ warum Zingara mich verflucht hat. Was hatte ich ihr nur getan¸ daß sie mir so etwas antut. Am Himmelszelt zeigen sich die ersten Sterne. Ich schließe meine Augen und bin mir gewi߸ der nächste Morgen beginnt ohne dem metallischen Geschmack im Mund...
5. Segment - Opfer
Dergo! Endlich bin ich da¸ aber ich bin nicht sonderlich glücklich darüber¸ zumal ich noch nicht einmal wei߸ ob ich Zingara hier wirklich finde. Mir liegt das Ereignis vom heutigen Morgen noch zu schwer im Magen . Ich war mir so sicher gewesen¸ daß ich niemanden töten würde... an einem kleinen Gebirgsbach war ich aufgewacht¸ an dem auch eine vierköpfige Familie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatte. Nein¸ ich will mich an diese Bilder nicht wieder erinnern...
Mein Blick fällt auf die hohe Stadtmauer¸ dann auf die Wachen am Stadttor¸ die mich argwöhnisch betrachten. Ich kann es ihnen nicht verübeln¸ auf meinem Oberkörper klebt ein Gemisch aus vielen getrockneten Blutschichten¸ vermischt mit dem Wegstaub. Überhaupt ist mein Erscheinungsbild alles andere als freundlich.
"Geht weg¸ Elender!" grunzt mich die eine Wache an.
"Nein!" entgegne ich bestimmt und lasse meinen Geldbeutel klimpern.
Die beiden Wachen schauen sich kurz an. Schließlich meint die andere Wache¸ "Drei Silberlinge und zwei Silberlinge extra¸ weil ihr so verkommen ausseht!"
Ich denke mir meinen Teil und zahle wortlos die geforderte Gebühr.
Langsam und bedächtig öffnet sich mir das gewaltige Stadttor¸ hinter dem ein hektisches Treiben herrscht.
Es ist Markttag¸ an allen Ecken und Enden stehen Stände mit allen erdenklichen Waren. Die Händler versuchen sich gegenseitig zu überbrüllen. Die Straßen sind überflutet von geschäftigen Menschen. Wie soll ich in diesem Getümmel Zingara finden? Mit bedächtigen Schritten gehe ich weiter¸ ich werde geschubst und bedrängt¸ aber ich lasse mich von meinem Weg nicht abbringen¸ ich gehe einfach weiter¸ geradeaus weiter. Mein Blick schweift unentwegt über die Menschenmenge¸ ständig auf der Suche nach ihr. Sie muß hier sein¸ sie muß einfach.
Es ist befremdliches Gefühl nach vier Tagen der Einsamkeit wieder unter Menschen zu sein.
"Hallo Khurs!" begrüßt mich eine warme Stimme. Mein Kopf folgt der Stimme und mein Herz fängt an heftig zu klopfen. Ja¸ sie ist es. Zingara!
"Du hast nur vier Tage gebraucht¸ Khurs! Das ist sehr schnell..." lobt sie mich. Ich komme mir vor¸ wie ein kleiner Junge¸ der von seiner Mutter für eine gute Leistung gelobt wird¸ aber ich habe keine gute Leistung erbracht¸ sondern nur Tod und Verderben für viele Menschen. Es sei mal dahingestellt¸ ob sie den Tod verdient hatten oder nicht.
"Folge mir!" grinst sie mich mit fröhlicher Miene an und sucht sich ihren Weg durch die Menschenmasse. So gut es eben geht¸ folge ich ihr. Hin und wieder versperrt mir jemand den Weg¸ aber es gelingt mir¸ sie im Auge zu behalten.
Vor einem kleinen Tempel aus grünen Marmor bleibt sie schließlich stehen. "Ich hoffe¸ du hast deine Opfergaben dabei!"
"Opfergaben?" echoe ich ungläubig zurück.
"Wir werden sehen!" meint sie mir freundlicher Stimme und betritt den Tempel. Ohne nachzudenken folge ich ihr in das kühle¸ gedämpfte Gebäude. Wir schreiten geradeaus weiter¸ bis wir vor einem großen¸ mit Flüssigkeit gefüllten¸ Opferbecken anhalten.
"Zieh dich aus!"
Die kurze Hose und die Stiefel fallen zu Boden.
"Begebe dich in das Becken!"
"Aber..." versuche ich einzuwenden¸ doch Zingara wiederholt ihren Befehl in einem scharfen Ton.
Langsam schreite ich in das Naß. Es ist ungewöhnlich warm...das Wasser weicht den Schmutz und das Blut¸ das an mir klebt auf. Mein Körper sendet Schmutzschlieren aus¸ die sich kriechend im Becken ausbreiten. Hätte ich doch vorher noch im Gebirgsbach gebadet. Ich verdränge wieder die Bilder vom Morgen und bleibe stehen. Das Wasser steht mir bis zum Hals¸ mein Blick sucht Zingara. Sie steht am Rande des Becken und betrachtet mich zufrieden.
"Tauch unter!"
Ich gehe in die Knie. Das Wasser umspült meinen Kopf¸ dabei bemerke ich¸ daß ich mich auf einmal richtig wohl fühle¸ so als ob eine Last von mir genommen wurde.
Zingaras Stimme ist auf einmal in meinem Kopf. "Erhebe Dich¸ Geprüfter!" Ihre Stimme klingt hell und klar. Mein Kopf durchbricht die Wasseroberfläche und ich hole tief Luft. "Ich nehme deine Opfergaben an!" Jetzt ist ihre Stimme wieder außerhalb meines Körpers. Sie steht immer noch am Beckenrand und hat ihre Hände segnend ausgebreitet. "Khurs¸ ich nehme den Fluch von Dir. Ich befreie Dich von allen Auflagen¸ du bist jetzt wieder ein freier Mann und kannst gehen¸ wohin du willst!"
Zögernd verlasse ich das Becken¸ ich bin erleichtert¸ aber auch verwirrt. Ich war doch nackt¸ welche Opfer hätte ich ihr bringen können.
"Was schaust du mich so fragend an¸ Khurs?"
"Ich... ich verstehe...."¸ es kostet mich echte Mühe¸ mehr als drei Worte herauszubringen¸ "...das alles nicht! Warum habt ihr mich verflucht? Welche Opfer habe ich erbracht?"
Zingara nickt. "Ich sehe¸ deine Eltern haben ihren Schwur gehalten. Nun gut¸ lege dir diese Robe der Befreiung an. Wie aus dem Nichts erschienen¸ liegt eine dunkelgrüne Robe vor mir. Hastig streife ich sie über meinen feuchten Körper.
"Wir wollen in meinem Gemach reden!" meint sie nur und geht. Stumm folge ich ihr. Unser Weg führt an einigen grotesken Statuen vorbei¸ die ich in dem gedämpften Licht nicht richtig erkennen kann. Kurz danach stehen wir in einem kleinen¸ festlich geschmückten Raum. Er ist wesentlich heller und erstrahlt in verschiedenen Grüntönen. "Setz Dich auf das Kissen dort!"
Nachdem ich mich niedergelassen habe¸ beginnt Zingara zu erzählen:
"Khurs¸ ich besuche jeden jungen Menschen eures Dorfes¸ wenn er das 20. Lebensjahr erreicht hat. Ab diesem Tag entscheidet sich¸ ob der junge Mann stark genug ist zu überleben. Eine natürliche Selektion¸ du verstehst?"
Ich nicke¸ obwohl ich es nicht verstehe.
"Um die jungen Männer zu prüfen¸ erlege ich ihnen einen Fluch auf. Um den Fluch wieder zu lösen¸ müssen sie mich aufsuchen. Von zehn jungen Männern finden mich meistens sechs¸ manchmal sind es auch fünf oder sieben. Du bist in diesem Jahr der erste. Dein Instinkt hat dich in die richtige Richtung¸ nach Drego¸ geführt. Ich bin gespannt¸ wieviele der acht jungen Männer deines Dorfes letztendlich hier ankommen."
"Und mein Fluch ist jetzt gebrochen?" frage ich ungläubig.
"Ja!" antwortet Zingara knapp.
"Ich werde mich nicht mehr des nachts in ein mordenes Monster verwandeln?"
"Nein¸ das wirst du nicht mehr¸Khurs." Sie macht eine kurze Pause. "Zukünftig kannst Du selbst entscheiden¸ wann Du in Deine zweite Hülle schlüpfen willst."
Ich schaue sie ungläubig an und beginne zu verstehen...
Andreas Fischer
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