Jaeger: Die Vergeltung
2000-01
Ein neuer Stern auf Erden!
Als um die Storyteller-Regeln die Welt der Dunkelheit gewoben wurden¸ entwickelte sich eine völlig neue und vor allem sehr erfolgreiche Art des Rollenspiels. Was mit Vampiren aller Nuancen begann¸ wurde mit Werwölfen¸ Magiern¸ Geistern und Feen mehr oder weniger erfolgreich fortgesetzt. Der düstere Charme der Welt der Dunkelheit und ihre ungewöhnlich vielschichtigen Charaktere fing der Konkurrenz die Spieler weg und war quasi über Nacht der neue Star auf allen Conventions.
Der internationale Erfolg ermöglichte die Finanzierung einer schier unüberschaubaren Menge an Quellenbüchern. Anfangs widmete man sich vor allem der Ausarbeitung der typischen Charaktertypen¸ doch nach und nach bekamen aber auch die Gegenspieler (Sabbat¸ Technokratie¸ Fomorer¸ etc.) immer mehr Aufmerksamkeit.
Da jede Story irgendwann mal ausgelaugt ist¸ sehnten sich die Spielgruppen erneut nach Abwechslung und was lag näher¸ als einmal in die Rolle der Gegenspieler zu schlüpfen und die "Individuen" zu jagen¸ die man zuvor verkörperte?
Mit dem nun vorliegenden Jäger: Die Vergeltung (Originaltitel: Hunter: the Reckoning) wird dieses Spiel auf die Spitze getrieben. Pünktlich zum letzten Jahreswechsel (1999/2000¸ englische Ausgabe) rollte man die Welt der Dunkelheit von hinten auf: die Jäger sind los!
Hintergrund
Man stelle sich einen ganz normalen Tag in seinem Leben vor: Morgens aufstehen¸ zur Arbeit gehen¸ in der Mittagspause zum Chef gerufen werden und beim Öffnen der Tür plötzlich einem ekelhaften Zombie gegenüber stehen... "ER DARF NICHT SEIN!" klingt es durch deinen Kopf und Dein ganzer Verstand sagt Dir das dort etwas vor Dir steht¸ was es besser nicht geben dürfte. Ein böser Alptraum? Hast Du Halluzinationen? Zuviel Kaffee? Vertraust Du Deinen Sinnen?
Wenn Du jetzt eine Entscheidung triffst¸ wie Du mit dieser Situation am besten umgehst¸ bist Du schon mittendrin im Wahnsinn¸ dem alle Jäger ausgesetzt sind. Normale Menschen bekommen plötzlich Visionen¸ sehen Geister und Monster¸ teils verwest¸ manchmal nicht ganz Tier und nicht sicherlich nicht Mensch. All das war ihnen vorher verborgen und auf einmal sind auch diese Stimmen da¸ die jeden Jäger zum Widerstand aufrufen.
Und jeder auf diese Art "erweckte" Jäger verläßt damit sein altes Leben¸ um seinen ganz persönlichen Kampf gegen das Unnatürliche aufzunehmen und die Welt von diesem "Fehler" zu befreien.
Oftmals ist es Zufall wenn sich Gleichgesinnte finden¸ die den harten Weg mit einem zurücklegen. Noch mehr Zufall ist es¸ wenn man sich dann auch noch über die Methode einig ist. Zu verschieden sind die Ansichten.
Damit dieser Kampf nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt ist - und wir alle wissen¸ was die "Monster" drauf haben können - werden die Charaktere von einer übernatürlichen Überzeugung getrieben und durch eine Reihe außergewöhnlicher Kräfte unterstützt.
Die Überzeugung ist neben einer starken Willenskraft die Antriebsfeder jedes Jägers. Sie gibt ihm den Zugang zu neuen¸ übernatürlichen Krä;ften. Scheiternde Aktionen führen zum Verlust der Überzeugung¸ ebenso wie besonders gelungene das Vertrauen in "die Sache" stärken und damit die Überzeugung steigern.
Es stehen eine große Menge Kräfte zur Auswahl - doch nicht alle sind für einen gerade erwachten Jäger zugänglich. Je nachdem ob der Charakter die Monster vernichten will (Tugend: Eifer)¸ in ihnen einen Rest Menschlichkeit sucht (Tugend: Gnade) oder versucht das neue Weltbild mit diesen Monstern¸ in dem er sich nun zurechtfinden mu߸ zu verstehen (Tugend: Vision).
Jeder Tugend sind ein oder mehrere Pfade zugeordnet¸ die umschreiben¸ wie der Charakter mit seiner Einstellung umgeht. Jäger der Tugend Eifer beherrschen die Pfade Rache¸ Richtspruch oder Verteidigung - all diese Pfade haben wiederum ihre eigenen Kräfte.
- Für Vampire-Spieler: Die Tugend entspricht regeltechnisch dem Clan und der Pfad einer Disziplin.
Typische Eifer-Kräfte sind auf den Kampf ausgerichtet¸ auf das schnelle Erkennen¸ Angreifen und Abwehren von Monstern. Gnade-Kräfte unterstützen die Bekehrung von Monstern¸ den Appell an ihre Menschlichkeit - und die Regeneration von angeschlagenen Mitstreitern. Vision-Kräfte fordern zum Stöbern in Gegenwart¸ Zukunft und Vergangenheit auf um eine richtige Entscheidung für den Augenblick zu finden.
Typische Charakterbeispiele sind daher auch Erlöser¸ Märtyrer¸ Rächer¸ Unschuldiger¸ Richter¸ Verteidiger und Visionär (die in Storyteller-üblicher Weise vorgestellt werden). Man darf die Tugend oder den Pfad aber nicht mit einem Clan oder Stamm vergleichen - alle Jäger gehören zum Typus Mensch - nur mitverschiedenen Ansichten ihren Kampf gegen das "Böse" zu führen.
Natürlich wäre es für jeden Jäger optimal¸ aus allen Töpfen zu schöpfen¸ alle Tugenden zu meistern und dadurch die eigene Macht ins Unermeßliche¸ ja ins Gottgleiche zu steigern... doch das ist schwer¸ wenn nicht gar unmöglich. Denn Tugenden steigert man nicht mit Erfahrung¸ sondern durch Taten¸ bei der die Charaktere ihre Überzeugung (und wohl auch ihr Leben) riskieren. Steigende Tugendwerte ermöglichen dann das Aktivieren neuer Kräfte. Zwar wählt man sich durch seine Einstellung eine Haupttugend (die stets höher ist als die anderen Tugenden)¸ aber man ist später nicht auf diese festgelegt. Durch die Lösung von Problemen unter dem Aspekt einer anderen Tugend¸ kann man auch diese Kräfte freisetzen.
Jäger sind trotz allem nur Menschen - in all ihrer Sterblichkeit¸ mit Blut in den Adern und einer Hose¸ die sie Vollpinkeln können. Aber die Frage nach dem Superhelden stellt sich anfangs ohnehin nicht¸ denn frische Jäger sind eher schwach¸ verletzlich und alleine eher Beute als Jäger - wogegen engagierte Jäger meist irgendwann beerdigt werden oder sonstwie verenden.
Der Gegner¸ also die Monster¸ werden irgendwann den Störenfried ausfindig gemacht haben. Und je lästiger¸ desto mehr Energie verwenden die Gejagten auf die Suche.
Auch neigen erfahrene Jäger dazu¸ irgendwann durchzudrehen. Ihren "eigenen Weg" kompromißlos und ohne Rücksicht auf unschuldige Menschen oder die Kameraden durchzusetzen. Da können ehemals beste Freunde schnell zum schlimmsten Feind werden.
Die Regeln
Eine Charaktererschaffung bei Jäger ist weder besonders kompliziert¸ noch besonders langwierig - zumindest wenn sich der Erzähler bereits intensiv mit den Beschreibungen der Kräfte¸ Vorzüge und Nachteile beschäftigt hat - und man die anfängliche Auswahl dem Erzähler überläßt.
Für jede der jeweils dreigeteilten Sektionen des Charakterblattes (Attribute¸ Fertigkeiten¸ etc.) gibt es ein feststehendes Maß (Einzelwert oder Trio) an Entwicklungspunkten¸ daß man nach eigenem Ermessen den bevorzugten Bereichen zuteilen kann. Beispielsweise kann man das Trio (6/4/3) den drei Bereichen der Attribute (Körperlich/Gesellschaftlich/Geistig) zuordnen und so persönliche Akzente setzten¸ die jeden Vampir einzigartig werden lassen.
Durch die Wahl einer offen zur Schau getragenen Persönlichkeit¸ kann man seine ebenfalls zu wählende wahre Persönlichkeit verbergen. Fertigkeiten füllen den Bereich des Vorlebens und die ersten Erfahrungen als Jäger. Dann kommt die Wahl bestimmter Hintergrundeigenschaften (z.B. Ressourcen).
Wohl bedacht sollte die Verteilung der anfänglichen 3 Tugend-Punkte ausfallen¸ weil davon die Handlungsweise des Charakters und der ganzen Gruppe wesentlich mitbestimmt wird. Wenn Erzähler und Spieler dies wünschen¸ kann dieser Bereich im Vorabenteuer spielerisch ermittelt werden¸ also von der ersten Begegnung mit Monstern abhängen.
Maximal sind übrigens nur 30 Tugend-Punkte möglich¸ d.h. je 10 pro Tugend. Ein Jäger kann also niemals alle Kräfte gleichzeitig beherrschen. Pro Kräftestufe (zwischen 1 und 5) müssen zur "Freischaltung" eine entsprechende Zahl Tugend-Punkte errungen worden sein.
Das Finish - sozusagen das Sahnehäubchen - sind 21 Freie Punkte¸ die entsprechend einer Tabelle für fast alle Bereiche des Blattes genutzt werden können. Sie ermöglichen allerdings NICHT den Erwerb von Tugenden oder Kräften! Gesteigert werden können Attribute¸ Fähigkeiten¸ Hintergründe¸ Willenskraft und Überzeugung.
Gameplay
Gespielt wird Jäger¸ wie alle Storyteller-Systeme mit W10¸ d.h. zehnseitigen Würfeln - und zwar am besten einer ganzen Menge davon. Für einen Wurf werden soviel Würfel verwendet¸ wie die Summe von Attributswert und Fertigkeitswert beträgt. Als Erfolge gelten alle Würfel¸ die eine bestimmte Augenzahl (die Schwierigkeit¸ normal ist "6") erreichen oder übersteigen. Davon Abgezogen werden alle "Einsen".
Die Aktion ist von der Zahl der verbleibenden Erfolge abhängig - 1 Erfolg bedeutet eine gerade mal "ausreichend" gelungene Aktion. Je mehr Erfolge¸ desto besser. Durch den Einsatz von Willenskraft-Punkten kann man einer wichtigen Aktion garantierte Erfolge erkaufen¸ d.h. Fehlschläge (mehr Einsen als Erfolge) oder Patzer (nur Einsen) sind unmöglich.
Kräfte sind ein eigenes Kapitel und haben ihre jeweils eigenen Regeln angegeben. Manche erfordern den Einsatz von Überzeugung¸ andere können durch den Einsatz von Überzeugungspunkten zusätzlich verstärkt werden. Mit Willenskraft läßt sich hier nichts erreichen.
Darüber hinaus dient Überzeugung vor allem zur Wappnung des Charakters für eine Begegnung mit dem Übernatürlichen. Untote lassen ihre Maske fallen¸ der verwandelte Gestaltwandler verliert seinen Schrecken und Geister werden sichtbar¸ sobald der Jäger einen Punkt seiner Überzeugung einsetzt. Damit Paranoiker nicht bei einem Einkaufsbummel ihre ganze Überzeugung opfern müssen¸ kündigen sich übernatürliche Wesen häufig durch eine Art "Ahnung" an¸ die je nach Wesen und Situation anders ausfallen kann.
Technisches
Jäger läßt ein wenig die mittlerweile typischen Goodies vermissen¸ wie einen farbigen Comic (Werewolf) oder Silberdruck (Vampire). Ansonsten ist das Hardcover von gewohnt guter Qualität. Der Druck ist Hervorragend¸ das Layout stimmungsvoll (und an das jeweilige Flair angepaßt) und die Illustrationen variieren zwischen kleinem genialen Kunstwerk und betont geschmacklos. Wenn ich gerade bei Geschmacklos bin - viele der Illus wären bei White Wolf früher wohl unter dem Black Dog-Label (frei ab 18 Jahren) erschienen - aber die Zeiten ändern sich.
Die Texte lassen ebenfalls keine Wünsche offen. Einmal abgesehen vom zeitweise herrschenden Gossenslang - aber das steigert das Flair. Sehr gut sind auch die Hinweise für den Spielleiter¸ um für gute Atmosphäre zu sorgen und Regelmißbrauch vorzubeugen.
Ach ja¸ ich habe mir sagen lassen¸ daß einige Übersetzungen aus dem Englischen wieder den Nerv mancher Hobby-Anglisten getötet haben... aber da ich nur die deutsche Ausgabe mein eigen nenne¸ ist mir das a) nicht aufgefallen und b) ohnehin egal. Die vereinzelten Rechtschreibfehler lasse ich mal unter den Tisch fallen - durchaus noch im normalen Bereich. An einigen Stellen fand ich den lockeren Sprachegebrauch (z.B. bei den Regeln) aber etwas unpassend.
Fazit:
Wer durch Jäger blättert und die Illustrationen anschaut¸ vermutet gleich ein Spatter-Rollenspiel. Wer die Texte liest¸ wei߸ daß es sich um ein Spatter-Rollenspiel handelt - daran kann auch die Heilsarmee (Tugend:Gnade) und Planabteilung (Tugend:Vision) auf Dauer nichts ändern. Aber sogar an Werewolf - dem WoD-Schlägerspiel überhaupt - haben manche verdorbene Spielgruppen noch friedliche Seiten finden und herauskristallisieren können. (Igitt!)
Für mich ist Jäger: die Vergeltung ein schnelles und vorwiegend brutales Spiel¸ aber keines bei dem man den Verstand ausschalten kann (siehe Werewolf). Die Charaktere sind wunderbar sterblich und jeder altgediente WoD-Spieler wird bei den ersten - zu sicheren - Schritten in dieser neuen Welt der Dunkelheit böse Überraschungen erleben. Ansonsten können Besitzer der anderen WoD-Regelwerke und Quellenbände natürlich auf einen riesigen Bestand an Quellenmaterial zurückgreifen - und altbekanntes beliebig mit neuen Ideen vermischen.
Ich denke¸ Jäger wird viele Freunde finden und ich bin schon gespannt¸ ob bald weitere Geheimnisse gelüftet werden!
Dogio the Witch |