Der Glaeserne Berg
2000-01
Gewidmet meinem Harfenspieler¸
der so manche Saite in mir zum Klingen bringt;
meinen Töchtern Angela¸ Astrid und Almut¸
die mir ihre Farben geliehen haben für das Bild der Myriam;
meiner Mutter¸
welche die Magie der Worte tief in meine Seele gepflanzt hat¸
meinem lieben Freund Edwin¸
dessen Computer die Gestalten dieses Buches entsprungen sind;
Marilly¸
der jetzigen Hüterin des Gläsernen Berges;
und allen¸ die mit mir die Welt ins Leben träumen...
Das Museum liegt im Licht eines milden Spätsommertages. Es ist aus Holz erbaut¸ und es gibt daran keinerlei elektrische Leitungen. Das gilt auch für die übrigen Häuser¸ die inmitten von Wiesen und lockerem Buschwerk stehen. Autos gibt es ebenfalls nicht in dieser Stadt. Dafür sieht man jede Menge spielender Kinder¸ deren fröhliches Geschrei überall zu hören ist. Zwischen Gemüsepflanzungen und kleinen¸ eingezäunten Weiden mit Schafen¸ Ziegen und einigen Rindern sind hier und da runde¸ konkave Spiegel aufgestellt¸ und Windräder drehen sich mit leisem Schwirrton. Es ist wohl eine Stadt¸ aber eine des 25. Jahrhunderts¸ und auf einen Bewohner heutiger Ballungszentren würde sie wohl etwas provinziell wirken.
Vor dem Museum wartet eine Gruppe von etwa fünfundzwanzig Menschen. Sie sind von eher kleinem Wuchs und zart von Gestalt und haben grosse¸ glänzende Augen. Anscheinend beginnt gleich eine Führung. Die Türe öffnet sich¸ eine Frau in mittleren Jahren tritt heraus und begrüsst die Gruppe mit freundlichen Worten. Wollen wir nun etwas näher herankommen und an der Führung teilnehmen¸ als unsichtbare Gäste aus der Vergangenheit¸ die einen kleinen Nachmittagsausflug in eine ihrer möglichen Zukünfte unternehmen?
Gut¸ folgen wir also dieser Gruppe! Sie geht mit ihrer Führerin in einen grossen¸ hellen Raum¸ der keine sichtbare Lichtquelle hat. Vielleicht erkennen wir sie aber auch nicht¸ weil wir ja nicht wissen¸ wie eine solche im Jahre 2497 aussehen könnte. Der Raum ist vollkommen leer¸ nur in der Mitte steht eine Vitrine¸ deren einziger Inhalt ein aufgeschlagenes Buch ist¸ das auf einer Unterlage aus weichen Stoff liegt. Das Museum scheint nur aus diesem einzigen Raum zu bestehen. Die Menschen¸ wir in ihrer Mitte¸ stellen sich jetzt kreisförmig um die Vitrine auf und warten auf die Ausführungen der Museumsbediensteten. Auffällig ist die ehrfürchtige Miene¸ mit der die Meisten auf das Buch blicken. Es muss sich um eine grosse Kostbarkeit handeln¸ obwohl es reichlich alt und zerfleddert wirkt.
Die Sprache¸ in welcher die Führerin zu der Gruppe spricht¸ können wir Heutigen wahrscheinlich nicht verstehen. Sie ist der Unseren ganz und gar unähnlich¸ die meisten unserer Begriffe kommen in ihrem Idiom einfach nicht vor. Ich übersetze also¸ reichlich frei und simultan:
"Liebe Mitbürger¸ Sie geniessen das besondere Vorrecht¸ heute als erste Besucher das Original der alten Schriften sehen zu können¸ aufgrund derer wir wenigstens etwas über die versunkene Kultur unserer Vorfahren wissen. Bisher glaubte ja die ganze Welt¸ dass diese unzivilisierte¸ geistig unentwickelte Wilde gewesen seien¸ die uns als einzige Hinterlassenschaft vergiftete Böden¸ abgeholzte Wälder¸ Berge unverrottbaren Mülls und ähnliche Segnungen zurück liessen und einen seltsamen¸ an ein Kreuz genagelten Gott mit leidenden Zügen anbeteten¸ der ihnen offenbar all dies aufgetragen hatte. Sie bewegten sich in Kisten aus Blech fort¸ die grauenerregende Dämpfe ausstiessen und sehr gesundheitsschädliche Wirkungen gehabt haben mussten. Archäologen gruben zuletzt riesige Trümmerstätten aus¸ die sich über hunderte Quadratkilometer hinziehen und ganz offensichtlich keinerlei Anbauflächen oder Gartenfelder zwischen den Häusern besassen.(ungläubiges Erstaunen in den Gesichtern der Zuhörer).
Anscheinend waren solche Stadtmonster einst über die ganze Welt verstreut. Jedes Kind weiss doch heute¸ dass man¸ was man verbraucht¸ wieder erneuern muss. Ihnen war diese einfache Tatsache anscheinend nicht vertraut¸ stellen sie sich das nur einmal vor!
So vergifteten sie die Luft¸ verbrauchten die Bodenschätze¸ holzten blindlings die Wälder ab¸ anscheinend ohne sich je zu fragen¸ wie ihre Nachkommen später leben sollten. Nun¸ ich will ihre Vorstellungskraft nicht weiter mit solchen Ungeheuerlichkeiten überfordern. Unsere Wissenschafter sind eben gerade dabei¸ zu untersuchen¸ wie sie solche Monströsitäten entwickeln konnten wie etwa unverrottbare Pflanzen¸ oder gar Menschen mit Schweinegenen. Was¸ Sie schütteln den Kopf? Nun ja¸ es klingt ja wirklich unglaublich¸ aber so etwas dürfte es¸ den neuesten Funden nach¸ gegeben haben¸ wenn unsere Wissenschaft da nicht einem Irrtum unterliegt. Sie konzentrierten sich anscheinend nur auf die Aussenseite der Dinge. So reisten sie zum Beispiel nur im Körper¸ also mit energiefressenden Verkehrsmitteln¸ oder verständigten sich nur über die Sprache¸ auch über weite Distanzen¸ ohne ihre inneren Verbindungswege zu nutzen. So erscheint es fast unglaublich¸ dass diese unzivilisierte Periode erst fünfhundert Jahre zurückliegen soll.
Aber¸ um zum Ende meiner Ausführungen zu kommen¸ wie wir alle wissen¸ wurde durch "Zufall" dieses Buch bei einer Expedition eines Forscherteams gefunden¸ und es grenzt wirklich an ein Wunder¸ dass sich das Material so lange halten hatte können.
Ein junger Forscher brach bei Grabungen an einer Ruine des zwanzigsten Jahrhunderts durch die Decke einer Erdhöhle und fand dort¸ unter einer kleinen¸ seltsam unausgeformten Frauenstatuette¸ welche Sie gleich hier daneben besichtigen können¸ eine Kasette mit diesem Buch. Die Sprachwissenschafter haben sich lange Zeit bemüht¸ es zu entschlüsseln; aber¸ die Wissenschaft ist auf diesem Gebiet ja sehr weit fortgeschritten¸ wie wir alle wissen." Sie sagt das im Vollgefühl ihrer Zugehörigkeit zu einer überlegenen Zivilisation¸ diese kleine Schwäche der Überheblichkeit ist den Zukünftigen anscheinend auch noch eigen¸ was sie uns ein wenig näherbringt¸ da wir offenbar nur fähig sind zu lieben¸ wo wir auch kleine Schwächen finden. Sie fährt fort: "Ja¸ und dieses Buch nun erzählt von Menschen¸ die auf Orten¸ die sie "Lebensinseln" nannten¸ dafür sorgten¸ dass wenigstens einige¸ wenige Gebiete mit einer einigermassen intakten Natur erhalten blieben¸ auf denen unsere Vorfahren wieder eine funktionierende Landwirtschaft aufbauen konnten¸ die dann zum Fundament unserer heutigen Zivilisation werden konnte. Ihnen verdanken wir es¸ dass wir nach dem grossen Zusammenbruch im 21. Jahrhundert nicht vom Punkt Null wieder beginnen mussten. Sie wussten anscheinend¸ was bei uns heute Allgemeinwissen ist¸ nämlich¸ dass die Erde ein lebendiger Organismus ist - sie nannten sie die Erdmutter - ein sensibles Netzwerk vieler¸ zusammenwirkender Lebensformen¸ und wir sie nicht ausbeuten dürfen.
Ausserdem lässt uns dieses Buch Einblick in das Leben von Menschen des 20. Jahrhunderts nehmen¸ die¸ wie wir von archäologischen Ausgrabungen wissen¸ auch anders ausgesehen haben¸ als wir Heutigen¸ nämlich wesentlich robuster und muskulöser. Wenn auch Vieles in diesem Buch für uns heute nicht mehr verständlich ist¸ stellt es doch ein einmaliges¸ historisches Zeitdokument dar.
Zum Schluss darf ich Sie noch darauf aufmerksam machen¸ dass Sie beim Kiosk am Ausgang die Übersetzung dieser Schriften um fünf Kreditpunkte erwerben können. Ich kann ihnen das Buch nur wärmstens empfehlen¸ es wird ihr Bild von der Vergangenheit sehr bereichern. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit¸ und kommen Sie gut nach Hause¸ auf Wiedersehen!"
Erstes Buch
DIE ZAUNREITERIN
Vorwort
Dieses Buch ist die Strophe eines Liedes¸ das durch die Zeiten klingt oder das Glied einer Kette¸ einer Kette ohne Anfang und Ende. Wir glauben allgemein¸ die Zeit sei eine Linie¸ die von hier nach dort führt¸ von einem Anfang zu einem¸ wenn auch fernen Ende¸ doch das ist ein Kindermärchen. Hätte ich nicht selbst erlebt¸ was ich hier niederschreibe¸ würde ich wahrscheinlich noch heute an diese Torenweisheit glauben¸ und das relativ unangefochten von allen möglichen anderen Erklärungen der "Wirklichkeit"¸
Ich schreibe meine Erlebnisse auf in der Hoffnung¸ dass nachfolgende Generationen noch in der Lage sein werden¸ diese Schrift und diese Sprache auch zu verstehen - ja überhaupt noch Schrift und so etwas wie Sprache besitzen¸ denn es zeichnet sich ab¸ dass diese Zivilisation ihrem nahen Ende entgegengeht.
So wie vor uns schon andere Kulturen und Zivilisationen aus dem Nebel der Zeiten aufgetaucht und wieder darin versunken sind¸ werden auch nach uns noch ungezählte Menschheiten ihr Kindheitsstadium¸ ihre Hochblüte und ihren Verfall erleben. Mit diesem Buch will ich versuchen¸ ihnen eine Botschaft zu hinterlassen: "He¸ hallo¸ wir waren auch schon da¸ macht's gut¸ vielleicht auch besser; alles Gute für Euch!"
Doch wahrscheinlich erreicht meine Botschaft nie ihr angepeiltes Ziel. Dann wird sie hoffentlich in der jetzigen Zeit bei einigen Menschen zum besseren und tieferen Verstehen unseres Daseins beitragen. Deshalb werde ich auch mein erlebtes Wissen nicht vergraben¸ um es zu erhalten¸ denn Wissen muss lebendig sein und weitergegeben werden¸ sonst verschwindet es aus dem Hauptstrom der Zeit und wird nur mehr von einigen Eingeweihten verstanden. Doch auch das liegt nicht mehr in meiner Macht¸ nun da ich alt bin und das Ende dieses meines Erdenlebens schon in Sichtweite vor mir liegt.
Ich weiss¸ meine Erzählung wird für Viele unglaubwürdig klingen. Doch ist es nur unsere beschränkte Sicht der Wirklichkeit¸ die uns Manches ins Reich der Sage verweisen lässt.
Wenn sich auch die Ereignisse in meiner Erinnerung ein wenig in ihrer Abfolge verschoben haben¸ ich habe nichts davon vergessen. Und wenn ich die Augen schliesse¸ sehe ich.....¸ nein¸ ich sehe sie nicht vor mir¸ ich bin wieder da¸ wo alles begann¸ in meiner kleinen Wohnung¸ in einem Wiener Vorortebezirk......
Samhain
Allerheiligen
Viel zu laut und schrill läutet mein mechanischer Wecker. Eigentlich würde ich ihn gar nicht mehr brauchen¸ jetzt¸ da ich in vorgerückten Jahren nicht mehr so tief und fest schlafe wie in meiner Jugend¸ aber¸ na ja¸ es ist ein beruhigendes Gefühl¸ nicht verschlafen zu können. Für mein Pflichtbewusstsein ist das sehr wichtig. Ich muss leise lächeln bei der Erinnerung an unzählige Auseinandersetzungen¸ die ich früher mit meinem geschiedenen Mann über die essentielle Bedeutung von Pünktlichkeit im Zusammenleben von Menschen geführt hatte. Seltsam¸ es war mir bisher noch nicht bewusst geworden¸ dass ich über damals so schmerzhafte Zwistigkeiten heute schon lächeln kann.
"Wieder ein Stück Sterben" denke ich¸ doch es löst in mir keine Panik aus¸ wie sonst der Gedanke an Alter und Tod. Vielleicht kann ich meiner Jugend ja doch einmal auf Wiedersehen sagen¸ ohne dabei in tiefste Depression zu fallen¸ wie das bisher bei jeder Falte und bei jedem schwabbeligen Stück Haut¸ die der unbarmherzige Gegner im Badezimmer mir präsentierte¸ der Fall gewesen war.
Dabei fällt mir ein¸ dass ich heute noch unbedingt auf dem Markt vorbei schauen muss¸ um für das Grab meiner Eltern ein Gesteck zu besorgen¸ denn morgen ist Allerheiligen¸ und da geht man in Wien unbedingt zu den Gräbern seiner Angehörigen¸ und sei es in Stau und Verkehrsgewühl. Ich frage mich kurz¸ ob ich mir das wirklich antun möchte¸ es könnte ja auch ein anderer Tag sein¸ ohne Menschenmassen und überlastete Verkehrsmittel. Doch dann verwerfe ich den Gedanken schnell wieder; es bleibt bei morgen¸ so gehört es sich schliesslich. Zwischen einem Schluck Kaffee¸ meinem unverzichtbaren Lebenselexier und einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel denke ich noch kurz daran¸ meine Tochter Myriam anzurufen und sie daran zu erinnern¸ sich den Tag morgen für den Gräberbesuch freizuhalten. Dann fällt mir aber ein¸ dass zu so früher Morgenstunde (meine Arbeit als Heilmasseurin beginnt schon um 6h30) höchstens empörte Verärgerung die Folge wäre und verwerfe auch diesen Gedanken wieder.
Ach¸ meine kleine Myriam¸ Tochter meines Herzens¸ wo bist du nur¸ ich kann dich nicht mehr finden in der distanzierten¸ jungen Frau¸ die du¸ ich weiss nicht mehr wann¸ geworden bist! Wie musste ich damals¸ vor ziemlich genau zwanzig Jahren¸ als ich mit dir ungewollt schwanger wurde¸ gegen meine Eltern kämpfen¸ die gegen meine allzufrühe Schwangerschaft gewesen waren. Eigentlich galt der Kampf ja mir selbst¸ denn ich wollte noch so Vieles erleben¸ lernen; wollte nach meiner Ausbildung die Flügel entfalten¸ fliegen..... doch dann holte ich die eben Entfalteten wieder ein und verschob den Start auf später¸ wenn du erwachsen wärst.
Als ich sie in den folgenden Jahren zu Trainingszwecken öfter einmal erproben wollte¸ klemmten sie¸ als wäre es wichtig gewesen¸ sie genau zu dem damaligen Zeitpunkt zu gebrauchen. Habe ich dich das spüren lassen¸ stammt die Entfremdung daher¸ oder ist sie einfach ein notwendiger Ablösungsprozess; ist die Nabelschnur als Phantom noch vorhanden und muss jetzt endgültig und unwiderruflich durchschnitten werden? Sei es wie es wolle¸ es tut weh¸ und diesmal kann ich nicht leise darüber lächeln¸ nein¸ jeder Schnitt treibt mir die Tränen in die Augen.
Durch eine Tränenschleier hindurch sehe ich¸ als ich auf die Strasse trete¸ um zur nahen Bushaltestelle zu gehen¸ dass der Tag heute sonnig zu werden verspricht. Das mahnt mich¸ beizeiten ebenfalls eine sonnigere Miene aufzusetzen. Bei Schönwetter sind sehr viele Patienten zu erwarten¸ sie wollen aufgeheitert werden und etwas abgelenkt von ihren Leiden. Auch das gehört zu einem guten Therapeuten¸ die Seele zu streicheln¸ während man sich dem Körper widmet.
Werde ich mit meinen vierzig Jahren und meinem nicht unbedingt aufregenden Aussehen auch noch jemanden finden¸ der mir Körper und Seele streichelt? Vielleicht bin ich jetzt noch nicht bereit dafür¸ die Wunden der unmittelbaren Vergangenheit sind noch nicht verheilt¸ doch wird später nicht zu spät sein? Ganz schön viel für diesen frühen Morgen¸ was durch meinen noch etwas morgendämmrigen Kopf geistert. Fast unbewusst nehme ich die ebenfalls noch schläfrigen Gesichter der übrigen Menschen im Bus wahr. Einer döst mit offenem Mund. Er versucht offenbar¸ dem tyrranischen Tag noch eine kurze¸ ihm allein gehörende Spanne Zeit abzutrotzen und verschliesst die Fenster zu seinem Inneren mit seinen Augenlidern¸ dabei vergisst er die Tür des Mundes zu versperren¸ sodass sie klaffend offensteht. Noch nie war mir bis jetzt die Freudlosigkeit in den Gesichtern der Menschen so deutlich bewusst geworden wie in diesem Augenblick¸ und erschreckt wende ich mich zum Fenster¸ um meinen eigenen Ausdruck zu erforschen. "Ein Gespenst unter Gespenstern!" durchzuckt es mich¸ als ich mich in der trüben Scheibe erblicke. Plötzlich erscheint mir alles¸ ich selbst und meine Gedanken¸ ja selbst meine Erinnerungen¸ die Gefühle dieses Morgens als flach¸ zweidimensional und unwirklich. War das wirklich schon mein Leben gewesen und vor allem¸ würde dieses Leben auch so weitergehen¸ absehbar bis zum Ende¸ zwar in relativer Sicherheit doch ohne Höhen und Tiefen¸ ohne Rausch und Ekstase¸ ohne die atemlosen Momente der Erfüllung¸ die ausserhalb von Zeit und Raum standen? Woher kommen denn plötzlich diese Gedanken¸ die ich in dieser klaren Bewusstheit noch nie vorher in meinem Leben gehabt hatte? Sollte das vielleicht die berühmte "midlife crisis" sein¸ Sinnkrise in der Mitte des Lebens¸ ohne die man als moderner Zeitgenosse überhaupt nicht zählte? Fragen über Fragen und ungewohnte Gedanken in meinem Kopf und das Alles um sechs Uhr morgens in einem Autobus inmitten unausgeschlafener Werktätiger! Na¸ das konnte ja noch ein Tag werden! Gottlob wäre morgen ein Feiertag und der Tag darauf ein Samstag. Ich könnte also drei Tage dazu nutzen¸ wieder Ordnung in meinem Kopf zu schaffen.
Doch¸ was ich damals nicht wissen konnte: dieser kurze Augenblick ist der Moment¸ der mein Leben wendet. Diese Zeit um Allerheiligen¸ zu der des Todes gedacht wird¸ sollte auch den Tod meines bisherigen Lebens bedeuten. So¸ wie aus dem Tod neues Leben entsteht¸ ist dieser Augenblick ein Neubeginn für mich. Noch ist keine Richtung und Bestimmung zu erkennen¸ noch bin ich wie ein Kind im Moment seiner Geburt¸ voller potentieller offener Wege¸ bis einer gegangen wird und damit die anderen verschliesst. Und der Schmerz seiner Geburt gleicht meinem¸ der dieser plötzlichen Selbsterkenntnis folgt.
Der Tag verläuft so¸ wie es zu erwarten gewesen war. Mehr oder weniger mechanisch verrichte ich meine Arbeit¸ freundlich und zuvorkommend zwar¸ wie man es von mir gewohnt ist¸ doch meine Gefühle und Gedanken sind bei mir¸ ich bin konzentriert auf mich selbst¸ auch wenn ich gerade einen Patienten behandle. Es geschieht Unglaubliches! In diesem Bei mir Sein bin ich plötzlich auch viel hellhöriger als je zuvor. Wie sonst auch immer¸ erzählen sie mir ihre grossen und kleinen Leiden. Dabei fällt mir auf¸ bei Vielen ist es immer die gleiche Geschichte. Habe ich eigentlich einem von ihnen schon jemals wirklich helfen können? "Frau Anna¸ heute hören Sie mir aber gar nicht zu!" schnappe ich gerade noch auf¸ nachdem ich alles Andere an mir vorüberplätschern lasse. "Oh doch" denke ich bei mir¸ "heute höre ich dir das erste Mal richtig zu". Mit einem Mal spüre ich ein seltsames¸ hartes¸ kaltes Gefühl in meinem Magen - ZORN! WUT! Meine Verwirrung spült es gleich darauf wieder weg¸ gleichwohl war es da gewesen. Dieses typisch wienerische "Frau Anna" stört mich schon lange. Es ist für mich ein subtiles Symbol meiner subalternen Stellung als Vertreterin eines Dienstleistungberufes. Trotz meiner menschlichen und beruflichen Kompetenz bin ich ein Nichts im weissen Mantel¸ gut genug als seelischer Abfallkübel. Habe ich mir bisher vorgegaukelt¸ eine wichtigen Heilberuf auszuüben¸ sehe ich es jetzt glasklar vor mir: so nicht mehr! Aber wie dann?
Wieder im Autobus¸ wieder müde¸ abgekämpfte Menschen um mich her¸ abgesehen von einigen Kindern mit lebendigen Augen¸ Mündern und Herzen. Dafür ernten sie auch strafende Blicke von den anderen Fahrgästen. Wir alle waren doch einst solch lebendige¸ klare Wesen¸ was ist nur mit uns geschehen?
Wo ich immer aussteige¸ steht ein Obststand¸ die einzige Gelegenheit¸ noch etwas einzukaufen¸ denn es ist schon spät¸ und die Geschäfte sind geschlossen. Ich habe plötzlich Verlangen nach diesen wunderbar rot - gelben Äpfeln¸ glänzend in ihrer glatten Schale¸ welche die Verkäuferin anbietet. Nachdem ich sie gekauft habe¸ - teuer genug sind sie ja -¸ halte ich einen an mein Gesicht und rieche daran. Aber¸ oh grosse Enttäuschung! Der Duft¸ den ich erwartet habe¸ der Duft nach Wachstum¸ Reife¸ Lebendigkeit¸ der Duft nach sattem¸ prallen Leben¸ nach dem mich so verlangt¸ fehlt. Ohne es verhindern zu können oder es auch nur zu wollen¸ kommen mir die Tränen.
Heulend gehe ich die letzten Schritte zu meinem Haus¸ - hoffentlich begegnet mir niemand¸ das muss ja doch keiner sehen -¸ und so endet dieser seltsame Tag so wie er begonnen hat¸ mit Tränen. In diesen Tränen fliesst alles aus mir heraus: Enttäuschung über ein nicht wirklich voll gelebtes Leben¸ über die vermeintlich unerwiderte Liebe zu meiner Tochter¸ über das Zerbrechen meiner Ehe¸ die nie aufgearbeitete Beziehung zu meinen zu früh verstorbenen Eltern¸ Wut¸ Zorn¸ Trauer.....
Wie Sturzbäche fliessen diese Tränen¸ und Heulkrämpfe schütteln mich mit beängstigender Gewalt. Wie kann nur diese Menge Wasser in mir sein!
Als die Tränen dann irgendwann doch versiegen¸ kann ich mich nur noch erschöpft in mein Bett zurückziehen. Dabei habe ich weder ein Grabgesteck besorgt noch Myriam angerufen; das ist jetzt alles wie weggewischt¸ ich will nur noch schlafen.
Ich erwache an einem mir fremden Ort. Um mich herum sind Bäume. Bei näherem Hinsehen erkenne ich¸ dass es Apfelbäume sind; ich liege auf einer wunderschönen Apfelwiese. Es ist warm¸ lauer¸ leiser Wind umspielt meinen Körper und verfängt sich in meinem langen¸ glänzenden roten Haar. Dies alles nehme ich in einem kurzen Augenblick wahr. Als ich an mir hinuntersehe¸ bemerke ich¸ dass meine schlanke¸ junge Figur in ein fliessendes Gewand aus einem seidenartigen¸ glänzenden Stoff gehüllt ist. Die Blätter der Apfelbäume rascheln leise im Wind. Sonst kann ich kein Geräusch hören. Ich kann auch nicht erkennen¸ welche Jahreszeit gerade ist¸ auch die Tageszeit ist ungewiss¸ und ich kann keine Sonne sehen. Es herrscht ein eigenartiges¸ diffuses Licht. Ach¸ ich fühle mich so wohl und friedvoll! Der zarte Geruch von reifen Äpfeln¸ der plötzlich in meine Nase steigt¸ weckt in mir den Wunsch¸ einen Apfel zu essen¸ doch trotz genauen Hinsehens kann ich keinen entdecken. Auch in der Umgebung kann ich nichts erkennen¸ ausserhalb der Apfelwiese ist alles in einen lichten Nebel gehüllt¸ der aussieht¸ als wolle gerade eben die Sonne durchbrechen.
Da erheben sich¸ wie aus dem Wind geboren¸ leise¸ zarte Töne¸ ja es sind die einzigen Töne¸ die hierhergehören¸ andere wären hier ganz und gar unpassend. Jemand spielt Harfe¸ so schön und wunderbar¸ dass mein ganzer Körper in einem seltsam ziehenden Schmerz mitschwingt. Ich habe das Gefühl¸ mich in Sehnsucht¸ Glück und Traurigkeit aufzulösen. Was geschieht denn nur mit mir? Woher kommen diese Töne?
Auf einem Baumstumpf sitzt eine Gestalt in einem weissen¸ langen Gewand. Sein Haar ist ebenfalls weiss und fällt über seine Schultern. Der untere Teil des Gesichtes ist von einem weissen Bart bedeckt. Er ist es¸ der so wundersame Musik auf seiner Harfe hervorbringt¸ dass mir fast das Herz zerspringt. Als er weiterspielt¸ brechen an allen Zweigen Blüten hervor¸ Vögel singen und fliegen von Ast zu Ast¸ Bienen summen von Blüte zu Blüte¸ und die Sonne löst den Nebel auf.
Da beginnt der Bärtige mit volltönender¸ weicher Stimme auch noch sein Harfenspiel zu begleiten. Nun schneit es Blütenblätter auf mich herab¸ dass ich ganz davon bedeckt bin. In Windeseile reifen herrliche Äpfel¸ und die Zweige biegen sich unter ihrer Last. Einer davon fällt in meinen Schoss. Sein Duft betäubt mich fast mit seiner Intensität¸ ich hebe ihn auf und beisse hinein.....
Ja¸ so¸ nur so muss ein Apfel schmecken! Nie wieder will ich einen anderen kosten! Das hier muss das Paradies sein!
Der Bärtige hat sein Spiel unterbrochen und sieht zu mir her. Er lächelt warm und geheimnisvoll¸ sein Blick scheint mir in seiner Intensität irgend etwas sagen zu wollen¸ ich weiss aber nicht was¸ seine Augen¸ seine Augen¸ ach¸ seine Augen.....
.....Seine Augen sind noch bei mir und rühren mein Herz an¸ als ich erwache. Vielleicht¸ wenn ich meine Lider noch einmal schliesse¸ wenn ich mich dem beginnenden Tag verweigere¸ wenn ich noch einmal einschlafe¸ vielleicht kann ich noch einmal dorthin zurückkehren¸ doch es gelingt nicht. "Solche Träume sollten nicht in meinem Traumrepertoire vorkommen¸ nein¸ nicht solche Träume! Wie soll man denn da die Wirklichkeit durchstehen!" denke ich¸ als ich nun endgültig wach bin. Resolut¸ wie ich es gewohnt bin¸ stelle ich die Füsse auf den Boden der Tatsachen und stehe auf. Mein Tagesprogramm lautet: 1.) Myriam anrufen¸ 2.) Friedhofsbesuch. Vorher will ich mich noch mit einem ausgiebigen Frühstück verwöhnen¸ darauf kann ich mich immerhin freuen.
Ich wähle Myriams Telefonnummer. Ich höre das Freizeichen ihres Apparates wieder und wieder¸ endlich wird abgehoben¸ doch es ist nicht sie¸ die sich meldet. Eine verschlafene Stimme tönt aus dem Hörer¸ Billy oder Lilly oder so ähnlich¸ eine Mitbewohnerin aus ihrer Wohngemeinschaft¸ wie sich herausstellt. Myriam sei nicht hier¸ sie sei gestern nach der Vorlesung mit einem gewissen Sascha weggefahren¸ zu Freunden aufs Land¸ wie sie sagte. Mehr wisse sie leider auch nicht¸ sagt die schläfrige Unbekannte¸ dann hängt sie ein.
Da stehe ich nun und weiss nicht ob ich denn nun verärgert bin - nein¸ eigentlich nicht. Gehe ich eben alleine auf den Friedhof! Was sollen denn auch junge Leute an einem so schönen Tag dort¸ ich will doch selbst auch nicht so gerne¸ ich hatte in der Kindheit eine fast phobische Abneigung gegen Friedhöfe. Heute¸ als Erwachsene habe ich diese Angst schon überwunden¸ ein leichtes Unbehagen aber ist immer noch da. Ausserdem wirken diese abgegrenzten¸ penibel gepflegten Gräber immer wie Schrebergärten für tote Kleingärtner auf mich. In Wien ist diese Mentalität sehr ausgeprägt. Diese Mischung aus Sentimentalität¸ Kleingartenatmosphäre und Verbrüderung mit dem " Freunderl" Tod ist für mich die Essenz des sogenannten " Gmüats" ( für Nicht- Wiener: Gemüt¸ aber eigentlich unübersetzbar)¸ dieses Ausflusses des Goldenen Wiener Herzens¸ das ich oftmals als ziemlich hart empfunden habe¸ höchstens Katzengold. Aber einer in der Familie muss ja¸ man kann ja nicht immer tun¸ was man gerade will - kann man nicht? - Wer ist "man"? Bin ich "man"? Wenn ich nicht "man" bin¸ wer bin ich dann? Ich¸ die mittelalterliche¸ pflichterfüllende Durchschnittsfrau oder ich¸ die wunderschöne¸ schlanke¸ begehrenswerte Frau auf der Apfelbaumwiese? Plötzlich verspüre ich wieder diesen unvergesslichen Apfelgeschmack auf der Zunge¸ und mir ist so gar nicht nach Friedhof zumute.
An diesem Tag ging ich nicht auf den Friedhof. Ich holte mein Rad aus dem Keller und fuhr zum westlichen Ende der Stadt¸ von wo aus ich auf einen Berg stieg¸ auf dem ich als Kind mit meinen Eltern oft gewesen war. Beim Aufstieg liess ich das geschlossene Siedlungsgebiet langsam hinter mir¸ später ging der Weg durch eine Villensiedlung¸ und zuletzt blieben auch die Schrebergärten hinter mir zurück. Wie durch ein Tor trat ich zwischen zwei Eichen¸ die den Weg säumten¸ in den stillen Herbstwald ein. Das abgefallene Laub raschelte unter meinen Füssen¸ als ich darinnen watete wie in flachem Wasser.
Als Kind hatte ich dieses versunkene Waten im Laubmeer so sehr geliebt¸ meine Strümpfe und Kleider waren davon immer ganz staubig gewesen¸ zum Leidwesen meiner Mutter¸ die damals noch einmal im Monat in der Zentralwaschküche unseres Städtischen Wohnhauses am Waschtrog die Familienwäsche waschen hatte müssen.
Bald war ich auf dem Gipfel angelangt und setzte mich auf einen umgefallenen Baum auf einer kleinen Lichtung¸ die wie eine Tonsur den höchsten Punkt des Berges krönte. Durch die entlaubten Baumkronen der Buchen und Eichen fielen wärmende Herbstsonnenstrahlen auf das fahle Gras. Hier war ein besonderer Platz¸ wie eine Insel¸ ein kleines Stück abgerückt nur vom Normalalltag¸ doch irgendwie verzaubert. Ganz still blieb ich sitzen. Ich rührte mich nicht¸ denn ich wusste¸ dass ich mit der geringsten Bewegung den Zauber unweigerlich gebrochen hätte¸ der diesen Ort umsponnen hielt.
Ich wusste nicht¸ wie lange Zeit ich an diesem Platz verbracht hatte. Ich bemerkte nur¸ dass die Sonne verschwunden war und es schnell kalt wurde. Als ich wieder zu meinem Fahrrad kam¸ war es schon dunkel.
Zu Hause zündete ich eine Kerze an¸ stellte sie auf meinen kleinen Couchtisch und legte eine CD mit einem Flötenkonzert von Vivaldi auf¸ bevor ich mich mit einem Glas Wein niederliess. Im Geist leistete ich meinen Eltern Abbitte¸ weil ich nicht an ihrem Grab gewesen war. So Vieles war zwischen uns ungesagt geblieben¸ als sie viel zu schnell und rasch hintereinander gestorben waren.
Kennengelernt hatten sie einander in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Es war eine Zeit voller revolutionärer Aufbruchstimmung¸ Arbeitslosigkeit und Freikörperkultur gewesen. Auf alten Fotos¸ die ich mir immer wieder gerne anschaue¸ blicken mir forsche¸ junge Frauen mit Bubiköpfen und Wanderoutfit entgegen¸ junge Männer mit sportgestählten Körpern bilden Menschenpyramiden oder fahren Rhönrad. Grundsätzlich waren sie immer in Gruppen aufgetreten. Privatheit hatte als reaktionär gegolten und war ob der Wohnungsnot auch unmöglich gewesen. Die politischen Gruppierungen von Rechts und Links hatten einander mehr und mehr polarisiert¸ die Folge¸ der Bürgerkrieg hatte auch meine zukünftigen Eltern in verschiedene politische Gruppen geteilt: mein Vater trat in die Kommunistische Partei ein¸ meine Mutter blieb bei den Sozialisten. Sie war immer weniger kämpferisch gewesen. Die Jugendbewegung war in diesen Jahren trotzdem beider Heimat geblieben. Dann waren die Jahre des wachsenden Faschismus gefolgt. Mein Vater war immer mehr in die Widerstandsbewegung hineingewachsen. So war es nur eine Frage der Zeit gewesen¸ bis er nach dem sogenannten Anschluss¸ durch Denunziation aufgeflogen war¸ er und eine Gruppe von Genossen.
Im Morgen - grauen - (und Grauen war ab diesem Zeitpunkt alles gewesen) war die Gestapo gekommen und hatte ihn mitgenommen.....
Meine Eltern waren schon relativ alt gewesen¸ als ich als spätes Einzelkind zwei Jahre nach dem Kriegsende zur Welt gekommen war. Mein Vater hatte als politischer Häftling fünf Jahre lang im Zuchthaus verbracht¸ nachdem sein Todesurteil in Haft umgewandelt worden war. Nach dem Zusammenbruch des Tausendjährigen Reiches waren er und seine Haftgenossen von den Amerikanern befreit worden und auf abenteuerlichen Wegen nach Hause zurückgekehrt¸ krank an Leib und Seele. Meine Geburt war für ihn zum Symbol für eine neuere¸ hellere Zukunft geworden¸ in seinem Kind sollten alle seine Träume und Ideale wieder lebendig werden. Diese Erwartungen hatte ich unbewusst gespürt¸ deshalb war ich ein sehr "braves" Kind gewesen¸ bis ich viel zu früh¸ von meinem späteren Mann schwanger geworden war. Seine Tochter¸ von der er sich so viel erhofft hatte¸ sollte nicht als halbes Kind selbst ein Kind haben und sich damit "die Zukunft verbauen"¸ wie er es nannte. Beide Eltern waren sehr dagegen gewesen¸ dass ich das Kind zur Welt brachte.
Aber ich¸ die ich daran gewöhnt gewesen war¸ Erwartungen zu erfüllen¸ wollte nun den Erwartungen meines Liebsten entsprechen¸ und der wollte¸ dass ich das Kind bekäme. Obwohl meine Eltern sich später mit der Situation abgefunden hatten¸ war das der letzte Anstoss zu der schweren¸ bösartigen Erkrankung gewesen¸ die meinen Vater in wenigen Jahren dahingerafft hatte.
Damit war der Lebensinhalt meiner Mutter dahin¸ wohl hatte sie sich auch damit verausgabt¸ meinen kranken Vater zu pflegen und sein Dahinschwinden machtlos miterleben zu müssen. Obwohl sie¸ trotz ihrer anfänglichen Ablehnung¸ zärtlich an ihrer Enkeltochter gehangen hatte¸ war sie einige Jahre später an einer Herzerkrankung gestorben.
Dies alles war mir seither schwer auf der Seele gelegen. Wie ein zu enges Kettenhemd hatte es mir den Raum zum freien Atem genommen. Mit der Zeit hatte ich aufgehört¸ es bewusst zu spüren¸ dennoch war es unterschwellig immer da gewesen. Den seinerzeitigen Auftrag meiner Eltern an mich¸ unausgesprochen zwar¸ doch unmissverständlich¸ versuchte ich heute noch zu erfüllen. Er lautete: "Entspreche!"
Der Abend war über diese Erinnerungen unbemerkt in eine bewölkte¸ etwas neblige Nacht übergegangen. Nun würde das Wetter sich¸ nachdem es noch eine kurze Spanne Sommer gespielt hatte¸ der eigentlichen Jahreszeit entsinnen und rasch auf Spätherbst umschalten.
Ich war wieder auf meiner Apfelbaumwiese. Diesmal war die Jahreszeit eindeutig zu erkennen; es war Herbst. Laub bedeckte das fahle Gras¸ einige Äpfel hingen noch wie eine Verheissung wiederkehrender Ernten in den Zweigen. Trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit war es mild und auch etwas sonnig. Leise rascheltet noch an den Ästen verbliebenes Laub in der leichten Brise. Eigentlich hätte ich mich sehr wohl fühlen müssen¸ jedoch irgend etwas hinderte mich ganz entschieden daran. Warum konnte ich mir nicht darüber klar werden¸ was es war? Bedrückt und schwer atmend setzt ich mich auf den umgefallenen Baum¸ der in meinem letzten Traum dem Harfenspieler als Sitz gedient hatte. Der war diesmal nicht zu sehen¸ schade. Irgendein Gewicht zog an mir¸ als wollte es mich in die Erde hineindrücken. Gleichzeitg wuchs in mir ein Gefühl¸ das ich gut kannte: das Gefühl meiner Unzulänglichkeit¸ das Bedauern¸ irgendwo versagt zu haben und nicht zu wissen¸ worin. Wohin könnte ich mich jetzt noch zurückziehen¸ wenn mich diese Dinge jetzt auch in dieses Refugium verfolgten? Da bemerke ich¸ dass ich nicht mehr allein bin. Zwei Menschen¸ ein Mann und eine Frau in etwa mittlerem Alter kommen Hand in Hand auf mich zu. Beide haben ausgeglichene¸ harmonische Züge¸ die¸ als sie mich erblicken¸ freudiges Erstaunen erkennen lassen. Sie wirken¸ als würden sie mich kennen. "Annerle¸ bist du's? Wie siehst du denn nur aus!" ruft die Frau aus. "Annerle¸" wie lange hat mich so niemand mehr genannt? Seit ich ein kleines Mädchen gewesen war¸ hat nie wieder jemand so liebevoll "Annerle" zu mir gesagt wie meine Mutter. "Mama?" frage ich leise und zögernd "Papa? seid ihr das wirklich? Ihr seid doch lange tot¸ und wieso seid ihr so jung?" "Das Kind stellt noch immer so viele Fragen wie früher"¸ sagt mein Vater mit gespielter Missbilligung¸ dann lacht er laut und schallend¸ wie ich es¸ als er noch lebte¸ nie von ihm gehört hatte. "Zu glauben¸ wir seien tot¸ das schlägt doch dem Fass den Boden aus! Du siehst doch¸ dass wir nicht tot sind¸ Mama und ich!" Und dann umarmt er mich mit einer Wärme und Herzlichkeit¸ dass ich glaube¸ zerschmelzen zu müssen. Tränen laufen über meine Wangen wie Bäche. "Warum weinst du denn¸ Annerle?" fragt meine Mutter." "Ach Mama¸ Papa¸ ich habe es euch nie sagen können¸ wie leid es mir tut¸ dass ich euch damals so weh getan habe. Ich habe euch enttäuscht¸ weil ich nicht so war¸ wie ihr euch das erträumt habt!" Da wird mein Vater ernst. "Ich sehe nun¸ dass wir Einiges an dir gutzumachen haben"¸ spricht er bekümmert. "Geh¸ Franzi"¸ sagt er zu meiner Mutter¸" zieh ihr doch das viel zu enge Hemd aus. Sie ist doch schon längst herausgewachsen!" Meine Mutter zieht ein altmodisches Taschentuch aus ihrem Sack¸ schneuzt mir die Nase und wischt mir die Tränen ab¸ als wäre ich ein kleines Mädchen¸ dann hat sie plötzlich eine Schere in der Hand (woher bloss?). Sie schneidet an meinem Kettenhemd (das war es also¸ was mich so beschwert hatte!) einen Faden durch und beginnt es aufzutrennen und die Fäden aufzuwickeln. Und sie dreht mich immer schneller herum¸ bis mir schwindelt. Dabei spricht sie mit eintönigem Sing - Sang: "Ich löse¸ löse¸ was ich gebunden¸ was krank war¸ das soll gesunden¸ was zu eng war¸ werde weit¸ du bist nun bereit für ein neues Kleid. Verschlungener Knoten¸ löse dich¸ gib sie frei für ein neues Ich!" Ich drehe¸ drehe und drehe mich wie ein Kreisel¸ alles verschwimmt vor meinen Augen.
Ich höre nur noch die sich entfernenden Stimmen meiner Eltern¸ leise und doch ganz deutlich kann ich sie¸ mehr in meinem Kopf als mit den Ohren¸ wahrnehmen: "Verzeih uns¸ werde¸ wachse¸ sei ganz Du¸ fürchte dich nicht¸ es gibt keinen Tod¸ es gibt nur die Liebe. Lebe¸ liebe¸ liebe¸.....liebe.....liebe!" Zuletzt ist ihre Stimme nur mehr ein undeutliches Flüstern.
Ich erwachte mit diesem leisen Flüstern im Ohr und konnte eine Zeitlang nicht genau sagen¸ wo ich nun war¸ noch auf meiner Traumwiese oder wieder in meinem Bett. Die Realitäten mischten sich noch einige Augenblicke lang¸ so als wären die Koordinaten von Zeit und Raum nicht genau festzulegen. Ich genoss dieses unbestimmte¸ schwebende Gefühl¸ und mir war¸ als könnte ich noch eine kurze Spanne lang hin - und herüberwechseln¸ je nach Lust und Laune. Ich konnte es in diesem kostbaren Augenblick genau fühlen. Etwas war abgefallen¸ irgend etwas Enges¸ Schweres¸ das am Abend noch da gewesen war¸ war jetzt weg. Kaum getraute ich mich zu bewegen¸ fürchtend¸ diesen Zauber zu zerstören. Es war ähnlich wie damals¸ bei meinem Ausflug auf den Berg.
Später¸ ich weiss nicht mehr wie lange ich so zwischen Traum und Wirklichkeit befangen gelegen hatte¸ stand ich auf. Das Gefühl der Leichtigkeit war immer noch da. Es sollte mich nie wieder ganz verlassen¸ auch in Momenten von Ungewissheit und Zweifel fühlte ich mich nie wieder so beschwert wie vor diesem herzbewegenden Traum. Meine Eltern¸ lebendig nun für mich in liebender Erinnerung¸ hatten mir geholfen¸ die alte Hülle abzustreifen. Nun konnte ich ein neues¸ passendes Kleid für mein Ich finden. Das musste ich nun aber selbst tun¸ sie hatten ihre Aufgabe erfüllt¸ sollten sie auf meiner Traumwiese glücklich sein!
Es war nun an der Zeit¸ auch wieder die Dinge des Alltags zu erledigen. Also nahm ich meine Tasche und überlegte¸ was einzukaufen wäre. Nicht weit von meiner Wohngegend war eine ganz passable Einkaufsstrasse¸ wo man alles Nötige finden konnte¸ ausserdem gab es auch einen lauten und quirlig¸ lebendigen Markt. Ich beschloss¸ zuerst das Nötige an Lebensmitteln dort einzukaufen und später¸ quasi als Belohnung¸ noch ein bisschen auf der Einkaufsstrasse zu bummeln. Das tat ich dann auch¸ trotz des etwas unfreundlichen Novemberwetters¸ mit ziemlichen Vergnügen. Trotzdem war ich nachdenklich. Meine Erlebnisse und besonders meine Träume waren doch sehr ungewöhnlich gewesen in letzter Zeit. So ging ich¸ versunken in meine Gedanken¸ von Auslage zu Auslage¸ ohne wirklich wahrzunehmen¸ was dort zu sehen war. Deshalb fiel mir erst nach einiger Zeit auf¸ dass ich vor der Auslage einer Buchhandlung stehengeblieben war. Ich war mir dessen sicher¸ dieses Geschäft war mir noch nie vorher aufgefallen¸ das hätte ich mir bestimmt gemerkt¸ oder doch nicht? In letzter Zeit konnte ich ja nichts mehr mit Bestimmtheit sagen!
"AVALON - Buchhandlung und Antiquariat" war auf dem Firmenschild zu lesen. Avalon¸ was war das nur¸ was mich so seltsam anrührte¸ als wehte ein Duft nach Äpfeln von meiner Traumwiese zu mir her? "Ach ja¸ das übliche esoterische Gelaber" schoss es mir kurz durch den Kopf¸ trotzdem wurde ich diesmal doch von den angebotenen Büchern angezogen. Da gab es Bücher für Lebenshilfe¸ in der Art von: "Selbstbehauptung im Alltag" oder "Die Kraft des positiven Denkens"¸ Astrologische Ratgeber¸ Fantasyromane¸ Prophezeiungen verschiedener Medien usw. Ganz hinten¸ ziemlich unscheinbar und unpretentiös stand ein Band mit nur einem Wort als Titel: "Magie". Als Autor war nur eine Abkürzung angegeben: G.L.. Nicht wissend¸ warum eigentlich¸ wurde ich von diesem Titel "magisch" angezogen.
Ich betrat den Laden¸ ein zartes Glockenspiel ertönte beim Öffnen der Tür¸ es duftete betörend nach irgendeiner Räucherung¸ deren weissliche Rauchwolken einem feinzieselierten Messinggefäss entströmten und mich zusammen mit Harfenmusik!!! in eine wunderbar schwebende Stimmung versetzte. Mein anerzogener Realitätssinn meldete sich kurz noch einmal zu Wort und rief alarmiert: "Achtung¸ Kaufverführung!" Dann war es vorbei mit ihm. Er ging mit fliegenden Fahnen in Duft- und Klangwolken unter.
Niemand war im Raum¸ so konnte ich mich ohne Beeinflussung durch verkaufslüsternes Personal ganz dem Schmökern hingeben¸ zumindest kurzfristig¸ denn bald würde ja doch jemand auftauchen¸ um mich zu fragen¸ was ich denn gern hätte. So ging ich¸ verschiedene Titel aufschlagend¸ kurz hineinlesend¸ von Regal zu Regal¸ nicht wissend¸ dass ich bereits beobachtet wurde. Hinter dem Vorhang¸ der den Verkaufsraum vom Lager abtrennte¸ stand jemand¸ der bald daruf eintrat. "Guten Tag" sagte der Jemand¸ der¸ wie sich gleich herausstellte¸ ein stattlicher; schon weisshaariger Mann mit ebenfalls weissem Bart und mit Brille war. Ein gemütlicher Bauchansatz wölbte sich unter seinem Gürtel. Das alles stellte ich in einem Augenblick fest¸ als ich gleich darauf von seinen Augen in Bann gezogen wurde. Seine Augen¸ seine Augen¸ seine Augen..... sie waren mir so seltsam vertraut. Nie hätte ich die Augen des Harfenspielers je vergessen können¸ der mir bei meinem ersten Wiesentraum direkt ins Herz geblickt hatte!
Dieses setzte einen Augenblick lang aus¸ um gleich darauf einen Satz und noch einen holprigen Ruck zu machen. Was geschah hier¸ das konnte es doch nicht geben! Um mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen¸ blickte ich nur ganz kurz noch einmal auf¸ um dann abgewendet zu sagen: "Ich suche das Buch mit dem Titel MAGIE¸ bitte". Stille. Dann eine warme¸ angenehme Stimme neben mir: "Sie sind die erste Kundschaft¸ die nach diesem Buch fragt. Ich habe es selbst geschrieben. Leider habe ich keine Verlag gefunden¸ der es gedruckt hätte. Es verspricht den Menschen nämlich keine Luftschlösser¸ im Gegenteil¸ es verlangt vor allem Selbsterkenntnis. So habe ich es im Eigenverlag herausgebracht. Ihre Meinung darüber als erste Leserin wäre mir sehr wichtig¸ deshalb werde ich ihnen eine Widmung hineinschreiben und es ihnen schenken". Wieder die Augen des Harfenspielers in den meinen. Wieder lässt dieser Blick mein Innerstes erbeben. - Er bemerkt bereits meine Verwirrung¸ oh Gott¸ was mach ich nur¸ ich bin doch kein junges¸ unerfahrenes Mädchen mehr¸ ich bin doch eine reife Frau¸ jetzt reiss dich doch zusammen¸ verdammt noch mal ! "Sie können es ruhig annehmen¸ das muss Ihnen nicht unangenehm sein"¸ hilft er mir aus der Misere. "Meine einzige Bedingung ist¸ dass Sie es¸ nachdem Sie es gelesen haben¸ mit mir besprechen und dabei mit Ihrer Meinung nicht hinter dem Berg halten". Um der Situation zu entkommen¸ murmle ich undeutlich etwas von "werde ich bestimmt" und "danke sehr" und verlasse eiligst den Buchladen. Völlig verstört eile ich nach Hause. Fast wäre ich unter die Räder eines Autos gekommen¸ das gerade noch mit quietschenden Reifen knapp vor mir zum Stehen kommt. Ich hatte es nicht bemerkt. Der Fahrer flucht und zeigt mir den Vogel. Er ruft etwas von blinder Vogelscheuche oder so. Ich kann es ihm nicht verdenken.
An die Tage danach erinnere ich mich nur mehr undeutlich. Wie im Nebel¸ der damals¸ der Jahreszeit angemessen¸ die Grenzen zwischen Erde und Himmel verwischte¸ sind diese Tage in meiner Erinnerung undeutlich geworden. Wenn ich nicht arbeitete¸ versenkte ich mich in die Lektüre des neuen Buches. Ich empfand es wie das Betreten eines unbekannten¸ faszinierenden Landes¸ dessen Existenz mir irgendwo in meinem Inneren immer schon bekannt gewesen war und darauf gewartet hatte¸ zum richtigen Zeitpunkt von mir entdeckt zu werden. Der Weg zur Apfelbaumwiese war mir zu dieser Zeit verschlossen. Ich fürchtete sogar¸ ihn nie wieder zu finden. An ein Ereignis erinnere ich mich aber noch genau: Bei der Station der Strassenbahnlinie¸ die ich häufig benutzte¸ wenn ich in die Stadt fuhr¸ um mich ab und zu mit meiner Tochter zu treffen¸ gab es einen Kopierladen. Man konnte dort auch Schilder prägen lassen. Ich liess mir ein Namensschildchen mit meinem Familiennamen prägen: Fr. Waldstein.
Auf der Rückseite war eine Nadel angebracht¸ mit der man es an der Kleidung befestigen konnte. Damit steckte ich es an meinen weissen Anzug. Am nächsten Morgen betrat ich damit klopfenden Herzens meinen Arbeitsplatz. Natürlich musste es meinen Kolleginnen¸ die mit mir an diesem Morgen Dienst hatten¸ sofort auffallen.
"Du Anna¸ was hat das denn zu bedeuten? Willst du vielleicht was Besseres sein als wir hier? Da wirst du aber mit der Chefin Probleme bekommen. Die ist doch die Einzige¸ die hier mit dem Familiennamen angesprochen wird"¸ redete mich meine jüngere Kollegin Lucie sofort daraufhin an. Die Chefin¸ das war die Fachärztin für Physikalische Medizin¸ welcher diese Ordination gehörte. Ich hatte bisher mit allen Mitarbeitern hier ein sehr gutes¸ kollegiales Verhältnis gehabt. Wir bildeten ein gut eingespieltes¸ aufeinander abgestimmtes Team. Das war auch notwendig bei dieser Menge an Patienten¸ die jeden Tag hier behandelt wurden. Deshalb war es mir auch wichtig¸ meinen Kollegen meine Motive verständlich zu machen. Sie sollten nicht glauben¸ dass ich mich von ihnen absetzen wollte. Natürlich war mir aber auch bewusst¸ dass ich mit dieser Aktion genau diesen Eindruck erwecken musste. "Schau¸ Lucie stell dir einmal vor¸ du littest unter einem bestimmten Zustand¸ und du fändest eine Möglichkeit¸ ihn zu ändern¸ würdest du es nicht tun¸ auch gegen so manche Widerstände?" fragte ich die Kollegin. "Ich leide nun einmal unter der Anrede mit dem Vornamen. Ich bin doch kein Oberkellner. Vielleicht stört es den ja auch¸ aber das muss er selbst für sich ändern¸ so wie ich es jetzt für mich mache. Und was die Chefin betrifft¸ so wird sie sich daran gewöhnen¸ mich als erwachsene freie Persönlichkeit mit meinem Familiennamen anzusprechen¸ wie sie es ja auch mit Leuten tut¸ die nicht bei ihr angestellt sind."¸ erklärte ich mein Verhalten. War ich am Beginn meiner Rede noch sehr aufgeregt gewesen¸ wurde ich jetzt mit jedem Wort ruhiger und gelassener. Obwohl ich doch meine weisse Arbeitskleidung trug¸ hatte ich immer wieder die verschwommene Vision von einem langen¸ fliessenden Kleid¸ das meine Figur umspielte. Dabei spürte ich mich wachsen¸ wenn ich auch natürlich real blieb wie ich war. Und wer hätte das gedacht¸ die "Chefin" akzeptierte ohne eine Bemerkung meine Entscheidung. Wenn Patienten mich "Frau Anna" riefen¸ machte ich sie freundlich¸ doch bestimmt¸ auf die von mir gewünschte Anrede aufmerksam. Keiner beklagte sich. Bald war es bei uns normal¸ alle Angestellten mit ihrem Familiennamen anzusprechen. Meine neue Persönlichkeit¸ mir selbst noch weitgehend unbekannt¸ wie eine Fremde¸ die man erst nach und nach kennenlernt¸ war allem Anschein nach wesentlich selbstbewusster als die alte. Das konnte ja noch aufregend werden¸ wenn ich mich von der Neuen vertrauensvoll führen lassen würde¸ ohne dabei zu sehr nachzudenken. Mein Leben begann allmählich spannend zu werden¸ wie es bisher nie gewesen war.
YUL
Weihnachten
Wochen um Wochen waren vergangen. Allmählich war es Winter geworden¸ ein paar Tage vor Weihnachten. Diese Jahreszeit ist in einer Grossstadt äusserst hektisch¸ keine Spur von der sogenannten "Stillsten Zeit des Jahres". Jeder Stadtbewohner weiss¸ wovon ich spreche. Es hatte bereits zwei Tage lang ohne Unterbrechung geschneit¸ was bedeutete¸ dass öffentliche Verkehrsmittel ihre Fahrpläne nicht einhalten konnten¸ Autofahrer eifersüchtig wie Liebhaber ihre eigenhändig freigeschaufelten Parkplätze bewachten¸ Kinder die weisse Pracht mit Rodelorgien begrüssten und mürrische Hausbesorger zu noch nächtlicher Stunde die Gehsteige säubern mussten. Die Einkaufszentren am Stadtrand waren Tollhäuser voll "Stille Nacht..." und "Oh Tannenbaum" Gedröhn rund um die Uhr. Die Folge davon waren superbe Verkehrsstaus¸ die jeden Abend in den TV - Nachrichten ausgiebig gefeiert wurden. Weihnachten konnte also kommen¸ der Boden war vorbereitet¸ hallelujah!
Die Patienten trugen die Hektik in unsere Ordination¸ da sie ihre Behandlungsserie alle noch vor den Feiertagen abschliessen wollten. Die älteren von ihnen waren aus verständlichen Gründen missmutig¸ weil sie durch die Witterung in ihrer Mobilität sehr behindert waren. Ausserdem zwickte das Rheuma an kalten¸ nassen Tagen besonders. Die Aussicht auf eine ganze arbeitsfreie Woche liess mich diese Zeit ohne nennenswerte nervliche Beschädigung überstehen.
Ich hatte ein grosses Bedürfnis nach Stille¸ am liebsten wäre ich ein paar Tage auf eine einsame Almhütte gefahren. Aber Almhütten pflegten um dies Jahreszeit selten einsam zu sein¸ sie waren zu Weihnachten meist überfüllt mit anderen Einsamkeitssuchern¸ die sich dann verzweifelt an ihren Glühweingläsern anklammerten und Hüttenzauber spielten. Mir schwebte allerdings ein anderer Zauber vor¸ der von stillen¸ verschneiten Wäldern und ruhigen aber interessanten Gesprächen am Kamin. Eine solche segensreiche Einrichtung hatte ich sogar zu Hause¸ da ich mir¸ Krone der Exklusivität¸ voriges Jahr einen dieser Birnenöfen aus Ton geleistet hatte¸ die man wie einen offenen Kamin benutzen kann. Die Gespräche waren da schon das grössere Problem. Wem hätte ich schon über meine merkwürdigen Erlebnisse der letzten Zeit erzählen können? Ich wusste niemanden. Mit einer Deutlichkeit wie nie zuvor fiel mir plötzlich meine Einsamkeit auf. Da waren Kolleginen und Kollegen¸ wir verstanden uns wirklich gut¸ doch nahe befreundet war ich mit keinem von ihnen. Da war meine Tochter Myriam¸ gerade in einer heissen Phase der Abnabelung begriffen¸ sie hielt mich auf Distanz. Da waren verschiedene Freundinnen aus Jugendtagen¸ bei keiner konnte ich mir vorstellen¸ ihr von meinen Träumen zu erzählen. Ausserdem waren von ihnen die Meisten Mittelpunkt einer mehr oder weniger zahlreichen Familie¸ also fielen sie für mich in der Weihnachtszeit sowieso aus. Was ich mir wünschte¸ war wirkliche¸ innere Verbundenheit¸ eine Vertrautheit¸ die keiner erklärenden Worte bedurfte. Ich würde also die Feiertage alleine verbringen¸ auch keine schlechte Aussicht¸ wenn man sich beizeiten innerlich darauf einstellte. Manchmal ertappte ich mich jetzt dabei¸ dass ich einen imaginären Dialog mit "meinem" Harfenspieler führte¸ dem vom Buchladen. Ich hatte sein Buch fertiggelesen und wünschte mir eigentlich¸ mit ihm darüber zu sprechen¸ da mich Einiges sehr berührt¸ Manches aufgewühlt und Vieles Fragen in mir aufgeworfen hatte. Da ich noch ein passendes Geschenk für Myriam aussuchen wollte - ich sollte sie vor dem Heiligen Abend noch treffen¸ da sie mit ihrem Freund über die Feiertage wegfahren würde -¸ hatte ich einen Vorwand¸ die Buchhandlung aufzusuchen. Heiliges Rhinozeros¸ warum brauchte ich denn noch immer einen Vorwand? Konnte ich nicht einfach hingehen und sagen: "Guten Tag¸ da bin ich wieder¸ gehen wir doch nach Geschäftsschluss etwas trinken und reden wir über ihr Buch!" Warum half es mir in dieser Angelegenheit nicht weiter¸ mich innerlich in die Frau von der Wiese zu verwandeln?
Ich betrat also die Buchhandlung¸ etwas aufgeregt zwar¸ aber mit dem festen Vorsatz¸ mir das nicht anmerken zu lassen. Eine Frau¸ etwa dreissig Jahre alt¸ dunkelhaarig und hübsch¸ war gerade damit beschäftigt¸ kleine Säckchen mit Räucherwerk auf einem der Tische anzuordnen. Nun war ich aus dem Konzept gebracht. Wo war mein Harfenspieler? Ja¸ natürlich¸ sicher war er verheiratet¸ und dies war seine Frau! Meine Stimmung sank ins Bodenlose. Gerade hatte ich noch die Kraft¸ einen Gedichtband mit wunderschönen Aquarellen als Illustrationen dazu für meine Tochter zu erstehen¸ dann verliess ich fluchtartig die Buchhandlung. Warum war ich eigentlich so enttäuscht? Was wollte ich denn von diesem Mann? Berechtigte mich denn die Tatsache¸ dass er dem Harfenspieler in meinen Träumen so ähnlich war¸ zu irgendeinem Anspruch an ihn? Bei einem Mann in seinem Alter musste man doch die Wahrscheinlichkeit einkalkulieren¸ dass er nicht alleinstehend war. Das waren natürlich alles rationale Überlegungen. Sie halfen mir in dieser Stimmung überhaupt nicht weiter. "Dumme¸ alte Kuh". schimpfte ich mich in einem Anfall von Selbsthass¸ den ich glaubte¸ längst überwunden zu haben¸ verguckst dich in einen Mann wegen seiner Augen und glaubst¸ der hätte nur auf dich gewartet. Das kam von Träumen und Ahnungen und solchem Unsinn¸ ich würde wieder realistisch sein¸ das nahm ich mir vor. Doch etwas in meinem Inneren wusste¸ dass ich den einmal eingeschlagenen Weg nicht mehr verlassen würde¸ es war der einzig Richtige für mich¸ Einsamkeit und Enttäuschungen würden mich nicht davon abbringen können¸ sonst würde ich mich selbst verlieren.
In dieser Nacht träumte ich wieder von meiner Apfelbaumwiese.
Wieder trug ich dieses fliessende. glänzende Gewand. Wieder lag dieser seltsam diffuse¸ helle Nebel über der Landschaft. Ich ging langsam auf einen kleinen¸ klaren Teich zu¸ der mir bei meinen bisherigen Besuchen nie aufgefallen war. Schilf und Binsen bestanden sein Ufer¸ Seerosen blühten auf seiner Oberfläche¸ die glatt unter diesem seltsamen Himmel dalag wie ein metallener Spiegel. Tiefe Stille lag über der ganzen Szene. Ich verspürte plötzlich Lust¸ in diesem Teich zu baden¸ deshalb streifte ich mein Kleid über den Kopf und stieg nackt in das kalte¸ kristallklare Wasser. Die Kälte nahm mir fast den Atem¸ als ich bis über den Kopf darin eintauchte. Trotzdem¸ es war einfach köstlich¸ in dieses Wasser zu tauchen! Immer hatte ich bisher kaltes¸ klares Wasser zum Schwimmen bevorzugt¸ doch dieses hier war einfach der Inbegriff von Wasser¸ ja die Essenz dieses Elementes selbst. Ich fühlte¸ wie alles Unklare¸ Unechte von mir weggespült wurde. Wie ein neugeborenes Kind stieg ich wieder aus dem herrlichen Nass¸ um mich an der linden¸ milden Luft zu trocknen.
Die Gestalt war vorher nicht dagewesen. Jetzt stand sie in einem dunkelblauen¸ langen Kleid am Ufer¸ als wäre sie daraus hervorgewachsen. Sie war klein¸ dunkelhaarig¸ von zarter Gestalt¸ und sie hielt etwas in ihrer Hand¸ es war einer dieser köstlichen Äpfel¸ die hier wuchsen. An ihrem Gürtel hing ein kleines¸ sichelförmiges Messer. Damit schnitt sie den Apfel jetzt waagrecht durch und hielt ihn mir mit der Schnittfläche entgegen¸ so dass das Kerngehäuse sichtbar war. Die Kerne bildeten einen fünfzackigen Stern. Stumm und mit bedeutsamer Miene zeigte sie mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf dieses Muster¸ als wollte sie mir etwas mitteilen¸ das sich mit Worten so nicht sagen liesse. Dabei fiel mir erst jetzt auf¸ dass ich sie schon einmal gesehen hatte. Aber natürlich¸ das war die Frau aus dem Buchladen! Was wollte ausgerechnet sie von mir? Jetzt kam sie zu mir her¸ sah mir mit einem warmen¸ zärtlichen Ausdruck in die Augen und legte mir den halben¸ aufgeschnittenen Apfel in die Hände. Eine Welle der Zuneigung erfasste mich¸ und ich umarmte sie lange und liebevoll. Mit diesem Gefühl erwachte ich¸ verwirrt und doch seltsam ruhig und ausgeglichen.
Langsam begann ich mich bereits mit dieser Vermischung der Realitäten abzufinden¸ obwohl ich mir diesmal absolut keinen Reim auf die Bedeutung dieses Traumes machen konnte. Interessant war für mich das plötzliche Gefühl der Zuneigung zu dieser Frau¸ wo sie doch gleichsam meine Fast - Nebenbuhlerin war. Seltsamerweise war das Gefühl eifersüchtiger Enttäuschung jetzt aber verschwunden.
Es blieb mir keine Zeit¸ lange meinen Gedanken nachzuhängen¸ da mein Telefon fordernd klingelte. Meine Tochter war am anderen Ende der Leitung. Sie klang sehr zerknirscht und kläglich¸ als sie sich meldete. "Myriam¸ was ist los?" fragte ich. "Mama¸ kann ich zu dir kommen¸ mir geht's nicht gut!" Glücklicherweise war gerade heute mein erster freier Tag. Ich freute mich¸ dass sie zu mir kam¸ sie war schon eine Ewigkeit nicht bei mir gewesen. Darüber vergass ich fast¸ was der Anlass dafür war¸ nämlich dass es ihr schlecht ging.
Als sie dann kam¸ war sie ein Häufchen Elend¸ und ich fühlte mich wieder in die Zeit der aufgeschlagenen Knie und der beschädigten Spielsachen zurückversetzt. Ich umarmte sie¸ strich ihr über das Haar wie früher¸ als ein kleines Mädchen gewesen war und nahm ihr Mantel und Mütze ab. "Setz dich erst einmal nieder und wärm dich auf¸ ich mach uns einstweilen einen heissen Kräutertee¸ oder trinkst du noch so gerne heisse Schokolade wie früher? Ja? Also Schokolade". Sie hatte sich inzwischen ein wenig gefasst. "Mama¸ stell dir vor¸ der Sascha betrügt mich mit einer Kollegin! So ein Schuft! Dabei wollten wir doch morgen wegfahren¸ aber jetzt ist alles aus!" Sie brach in Tränen aus. Als der erste Tränenschub vorbei war¸ erzählte sie mir¸ schon etwas ruhiger jetzt¸ von der ganzen Misere. Es stellte sich heraus¸ dass Sascha¸ die ganz grosse Liebe¸ offenbar ein Problem mit dem Zulassen von Nähe hatte und diesem durch Beziehungen zu mehreren Frauen aus dem Weg zu gehen trachtete. Bei Männern zeigt sich diese Form der Pseudolösung relativ häufig¸ auch mein Exmann war dafür ein Beispiel gewesen¸ ein für mich sehr Schmerzhaftes.
Ach¸ Myriam¸ mein Kleines¸ musst du die gleichen Spielchen wie deine Eltern durchspielen¸ war unser Vorbild so prägend? Aber natürlich war es das¸ doch diese Einsicht nützt ihr ja jetzt gar nichts¸ also behalte ich sie für mich.
"Mama¸ es tut so weh¸ was soll ich denn tun!" "Das kann ich dir leider nicht sagen¸ und das weisst du ja auch. Ich kann dir nur sagen¸ was ich vermutlich tun würde¸ aber eben jetzt¸ zu genau diesem Zeitpunkt meines Lebens. Für mich ist Treue ganz wichtig¸ ja sie ist Ausdruck der Liebe. Und zwar nicht nur geistig - seelisch¸ wie manche Männer uns weismachen wollen¸ sondern eben auch körperlich. In meinem Gefühlsleben kann ich das nicht trennen¸ ich will es auch gar nicht versuchen. Deshalb würde ich ihn vor die Wahl stellen: Ich - dann aber nur ich alleine¸ oder Trennung¸ auch wenn es noch so weh tun sollte. Lieber ein Ende mit Schrecken¸ als Schrecken ohne Ende! Aber¸ vergiss nicht¸ so würde ich mich entscheiden. Vielleicht hast du dazu eine andere Meinung. "Mama¸ ich liebe ihn doch so!" "Ja¸ ich weiss¸ aber kannst du diese Situation aushalten¸ und willst du das auch? Denn eines ist klar¸ er wird es immer wieder tun¸ glaub mir!" Dann erzähle ich ihr von meinen Problemen während der Ehe mit ihrem Vater¸ und ich bin dabei so ehrlich¸ wie es mir nur möglich ist¸ auch¸ wenn ich dabei nicht immer gut wegkomme